Julia Kristeva / Michael Jackson / Körper / Sprache / elektronische Medien


Julia Böllhoff

Geschichte, Geschichten - HERstory, HIStory
Medien und die Sprache des Körpers


Abstract: Auf den glatten Oberflächen der Fernsehschirme erscheinen Körper als austauschbare Elemente. Individualität ist hier nicht gefragt. Wie reagiert der Zuschauer auf diesen Teil seiner Realität? Hat der eigene Körper noch eine Stimme? Mit Julia Kristeva wird eine radikal-subjektive Sprachpraxis vorgestellt, aus der die individuelle Geschichte spricht.

Im folgenden Text geht es um die technischen Medien und die Sprache des Körpers. Weiterhin geht es um das Subjekt, einerseits von Geschichten umgeben und andererseits eine eigene, selbst erfahrene Geschichte lebend. Die Seite der individuellen Geschichte entwickelt sich aus sprachlich vermittelten körperlichen, emotionalen, sinnlichen und sensitiven Erfahrungen. Für diese Seite erhebt Julia Kristeva Ihre Stimme. Sie rhythmisiert symbolisch festgeschriebene Buchstabenfolgen und stellt eine radikal-subjektive Sprachpraxis vor. Für die andere Seite der austauschbaren Geschichten medial vermittelter Körper stehen und sprechen die elektronischen Medien - und Michael Jackson, der mit Seinem Körper als Hülle die Austauschbarkeit und Ersetzbarkeit des Subjekts darstellt.

Die Sprache der Medien wie die Sprache des Subjekts sind die Vermittlungsinstanzen zur umgebenden Wirklichkeit. Sehen, Hören, Fühlen findet sowohl im direkten Austausch als auch millionenfach vermittelt über die glatten Oberflächen der Medien statt. "Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern nehmen zu", konstatiert der Spiegel (Nr. 28, S. 152) und führt die Defizite und Anomalien unter anderem auf fehlende Reize und Anregungen zum eigenen Erleben, Erfahren und Sprechen im Umgang mit den Medien zurück.

Die eigene Geschichte ist zum einen die subjektive Konstruktion aus Mitteilungen von Erfahrungen, die aus der sprachlichen Verbindung zwischen dem subjektiven, körperlichen Erleben und der umgebenden Lebendigkeit entsteht. Zum anderen ist sie konfrontiert mit den Geschichten, mit durch Bewegung erzeugten Ereignissen, mit den "Plagiaten der sichtbaren Welt" (Virilio, 1994, S. 14), mit Simulationen von vermeintlich wirklich agierenden Körpern, die den Körper des Zuschauers betreffen. Mediatisiert redet man über Vermitteltes oder Geredetes.

Das Subjekt konnte freilich noch nie seinen Körper unabhängig von medialen Zusammenhängen erfahren: Früher einzig durch Sprache und Schrift, heute durch Sprache und Schrift und Bilder aus der technisierten Medienwelt. In diesen körper-vermittelnden Medien wie Fernsehen und Internet werden die Gefühle der Dargestellten einzig simuliert. "Ein schöööner Tag!" schmettern karusselfahrende Biertrinker, "Bitte melde Dich!" rufen verzweifelt Alleingelassene in die Kamera, Herzen klopfen, "Adrenalin" läßt "Die Notärzte im Einsatz" auf höchsten Touren laufen und in "Mysteries" kann auf Astralreisen das Phänomen der außerkörperlichen Erfahrung erlebt werden.

Körper flottieren in Aktion, in höchster emotionaler Anspannung, in Angst, Lust, Schmerz oder Glück. Die Zuschauer werden mit von der Oberfläche schimmernden, medial vermittelten Emotionen und Reaktionen konfrontiert. Der eigene Körper ist von derlei Erlebnissen zwar nicht unmittelbar betroffen, aber trotzdem changieren die Reaktionen auf diese Sendungen zwischen Gefühlen der Abscheu, der Spannung oder des Mit-Leidens - aufgrund einer simulierten Wirklichkeit. Denn wer versteht schon die Fachbegriffe, die durch den "Emer-gency-Room" schallen und ahnt nicht doch das Schlimmste? Wer hat keinen Freund, der einen Cousin hat, der eine Nachbarin hat deren Chef einen "Fall" bei Arabella Kiesbauer mimte? Der Körper tritt im allgegenwärtigen Kommunikator Fernsehen als austauschbare Hülle in Erscheinung. Individualität ist hier nicht kommunizierbar und daher nicht gefragt. Die Protagonisten sind ersetzbar, sobald Energie und Lachen fehlt, der Witz versiegt oder Falten Furchen ziehen. Die Sendungen, in denen sie anwesend sein müssen und moderieren (also gleichmachen oder zähmen) müssen, sind eine Mischung aus Information, Unterhaltung und schwatzendem Aufruf zu Engagement, Mittleid oder Selbstmitleid.

Als pervertierte Form dieser Ersetzbarkeit erscheint die am eigenen Körper vollzogene Anpassung, aus der sich ein Starkult entwickelte: Michael Jackson. Sein Körper ist nicht mehr der eines Individuums, nicht eine biologische, sondern eine sich alle Jahre wieder mit Macht verändernde Hülle. Mit ihrer neusten Show schreibt diese Hülle ihre Geschichte in die Geschichte der USA ein. Die Hülle als selbst- oder fremdernannte Welten-, Umwelten, vor Unterwelten-Retterin und Alles-Liebende geistert durch Kanäle und Städte und nimmt ihr Publikum in den Bann. Ein Körper wird zum Medium der Medien, zwischen schwarz und weiß, zwischen Kind und Erwachsener, zwischen Mann und Frau changieren Fleisch, Haut und Knochen dieser medial vermittelten Vision. Lebendige Künstlichkeit, Symbol und Traumfigur, wie gesagt - eine Hülle: verwertet und verworfen, verkauft und dann verachtet und wieder neu entworfen. Weil sich Informationen, Sprache, Menschen im Fernsehen inhaltsleer und ohne Struktur und Profil zeigen, wird Michael Jackson zu einem Phänomen der Zeit. Hysterisch reagiert das Publikum auf diese Ikone. Es läßt sich einfangen und macht die Ikone zum Symbol der eigenen Träume.

In mysteriösen Ausstrahlungen über UFOs, über apokalyptische Endzeitstimmungen, über Nah-Toder-fahrungen wie in "Mysteries" oder "Akte X" werden die Medien zu technischen Vermittlern zwischen Information und Selbsterfahrung. Das Medium wird zum "Medium": statt Handauflegen genügt ein Knopfdruck und schon werden Auren und Energien spürbar. Für direkte, subjektive Mitteilungen von Kanal zu Kanal, eine interaktive Praxis zwischen Individuen, also kontingent, subjektiv, emotional, ist dort kein Raum. Der Mensch zeigt sich als redendes, sich wiederholendes, austauschbares Wesen, zufrieden oder einsam oder betäubt in seinem kollektiven Individualismus. Arzt oder Psychologe werden dann zu frequentierten Adressaten für sprachlose Somatisierungsphänomene.

Die Psychoanalytikerin, Linguistin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva tritt als Verfechterin des sprechenden Subjekts auf, das individuelle Erfahrungen, die durch den Körper gehen, direkt in der Sprache auszudrücken vermag. Empfiehlt sie eine poetische Kur? Wohl eher eine subjektive Stimme, die einen anderen Teil der Wirklichkeit neben dem der elektronischen Medien in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Kristevas Ansatz, der in eine allgemeine Sprach- und Lebenspraxis mündet, ist interessant im Zusammenhang mit den in den Medien erzählten und vermittelten Geschichten, die vielfach zur eigenen Geschichte werden.

Mit dem Buch "Die Revolution der poetischen Sprache" führte Kristeva in den 70er Jahren eine Praxis in die Theorie ein, die sich um Sprache und Körper, um Interpretation dreht und selber Interpretation ist. Die Überlegungen sind aufgespannt zwischen Linguistik, Materialismus, Psychoanalyse, ideologisch engagiert, und die damals aktuellen Theoriedebatten Jacques Lacans und Roland Barthes weiterdenkend.

"Das Spektakel ist ein Traumleben, wir alle wünschen es uns. Das 'Sie' das 'Wir', gibt es das noch? Ihre Ausdrucksweise standardisiert sich, Ihre Rede normalisiert sich. Haben Sie überhaupt einen Diskurs?" fragt sie die Leser in ihrem Buch "Die neuen Leiden der Seele" und schreibt Ihre Geschichte, HERstory - radikal subjektiv, ihr eigener Diskurs, der sich in den Körper einschreibt und aus ihm spricht.

Julia Kristeva stellt sich zwei Reaktionsmuster des Körpers auf die simulierten Wirklichkeiten vor: Zum einen die Verschiebung der Wünsche und Regungen in die mediale Traumwelt. Zum anderen Somatisierung, also Krankheit und daraus folgende erneute Abhängigkeit von Maschinen oder Drogen. Wer nicht vor den Bildern träumt, gehe demnach in einsamere, stärker auf den Körper bezogene Abhängigkeiten: Drogen- oder Medikamentensucht. Der Körper wird zur betäubten, zerstörbaren Hülle. Realität wird im Rausch oder vermittelt wahrgenommen.

Welchen Stellenwert mißt Kristeva der Sprache im Prozeß der subjektiven Bedeutungszuschreibung bei? Sie sieht Sprache als komplexen Prozeß der Sinnbildung, in den das Subjekt verwickelt ist. Der Sinngebungsprozeß, durch den Sprache sich konstituiert, ist durch zwei Modalitäten strukturiert: durch das Symbolische und durch das Semiotische. Zwischen der symbolischen Ordnung, in der den Dingen vermeintlich klare Zeichen zugeordnet sind und der Semiotik, in der es zu der Bedeutungszuweisung kommt, weist Kristeva diesem Semiotischen entscheidende Bedeutung zu, in dem "das Sprachzeichen noch nicht die Stelle des abwesenden Objekts einnimmt und noch nicht als Unterscheidung von Realem und Symbolischen artikuliert wird". (Kristeva, 1978, S. 37.) Verfestigungen der Sprache innerhalb symbolischer Ordnungen sollen verändert werden, und nicht nur das. Kristeva zeigt Möglichkeiten auf, Strukturen nicht allein zu transformieren, sondern sie aufzulösen und etwas neues entstehen zu lassen.

Hier also ist es, das Individuum, das seine Wahrnehmungen und seine daraus entspringenden subjektiven Äußerungen in das Zentrum seines Sprechens stellt. Seine Sprache wird zu einem verfeinerten Code, der sich Rhythmen, Klänge, Töne einverleibt, um subjektives Verständnis oder eigene Aussagen, Gefühle, Gedanken zu fassen und sie außerhalb des einheitlichen Codes zu stellen.

Kristeva geht es in ihren Überlegungen nicht um eine pure Destruktion des "gewöhnlichen" Sprechens, würde damit doch gerade der "normale" Sprachgebrauch in seinem setzenden, politically correcten Duktus bestätigt. Eine Praxis, die sich inhaltslos blödelnd auf prominenten Sendeplätzen quält, sinnentleertes Blödeln für Blöde, die es sich bieten lassen und hier ein Ventil finden für die eigenen Blödelbedürfnisse. Das ist freilich nicht der Typ von subjektiver Sprachpraxis, den Kristeva mit ihren Geschichten intendiert.

Während sie sich in ihrem Buch mit mittlerweile spinnennetzbehangenen "avancierten" Texten Mallarmés und Lautréamonts beschäftigt, könnten für eine heute avancierte Praxis Robert Wilson, William Borroughs oder die Protagonisten der Slam Poetry gelten. Sie führen eine Praxis ein, die zum Bruch sprachlicher oder bildlicher Verfestigungen und zu einem Durchkreuzen von gewohnten Erwartungshaltung beitragen.

Julia Kristeva führt in ihrem eigenen Sprachgestus - verschlüsselt raunend - ihre Praxis ein und vor:

"Die Explosion des Semiotischen im Symbolischen ist nicht Negation der Negation, nicht Aufhebung des durch das Thetische erzeugten Widerspruchs und Einführung eines idealen, die vorsymbolische Unmittelbarkeit restaurierenden Positiven; sie ist vielmehr Überschreitung der Setzung, rückläufige Reaktivierung des Widerspruchs, der seinerseits die Setzung herbeigeführt hatte." (Kristeva, 1978, S. 79)

Innerhalb der Setzungen will sie anderes hörbar werden lassen. Gegenüber emphatischen Befreiungsversuchen von allen Polaritäten - wie weiblich-männlich, Gefühl-Ratio - die diese letztlich wiederum beibehalten, geht es Kristeva darum, klare Zuschreibungen aufzulösen und zu einer eigenen Praxis zu führen. Kristevas Stimme ist die Stimme einer Praxis, die durch den Körper geht, die an die Prozeßhaftigkeit des Sprechens und die daraus entspringende potentielle Bedeutungsvielfalt erinnert. Zwei Seiten einer Wirklichkeit, Geschichte und Geschichten, HERstory, HIStory, Michael Jacksons medientaugliche Hülle und Julia Kristevas tönender Sprachkörper. Kann im Rummel und Getöse der elektronischen Medien das Stimmchen der eigenen Geschichte noch vernommen werden?



Texte:

Julia Kristeva: Die neuen Leiden der Seele. Hamburg, 1994.
dies.: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt /Main, 1978.
Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. München, Wien, 1994
Spiegel, Nr. 28 vom 7.7.1997: Sprache - Duft der Rose. S. 152.

 

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Ausführlichere Angaben zum Thema über e-mail bei der Verfasserin: jboellho@nw80.cip.fak14.uni-muenchen.de

   


    

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