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Stephan Packard
Comics und der myopische Blick
Eine erstaunliche Anklage wegen des Vertriebs eines „obszönen“ Comics ist Anlaß für eine kurze Untersuchung von Argumentationen, die eine spezifisch kindliche Rezeption neuer Medien in der Absicht beschreiben, die juristische Regulierung ihrer Verbreitung zu motivieren. Der Versuch, wahrgenommene Widersprüche in diesen Argumentationen zu erklären, führt schließlich zu der Frage, ob es mißlungene oder etwa besonders gelungene Rezeptionen sind, die in vergleichbaren Kontexten für gefährlich erklärt werden.
Scott McCloud, Comicautor und der wohl weltweit führende Theoretiker in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Comics, verteidigte den Band entschieden. Als weitere Sachverständige wurde die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Professor Susan Napier von der University of Texas in Austin gehört, eine ausgewiesene Expertin für moderne japanische Literatur und Forscherin im Bereich japanischer Manga und Anime. Sie erklärte, daß sich der Comic nicht auf Darstellungen wie die genannten beschränke, sondern auf ein reiches Inventar an traditionellen und modernen Symbolen zurückgreife, um gegenwärtige politische Probleme zu kommentieren. Allein schon wegen der mangelnden Ausschließlichkeit möglicherweise anstößiger Inhalte hätte der Band damit kaum als obszöne Pornographie gelten können. In ihrem abschließenden Plädoyer gelang es der Staatsanwältin jedoch dennoch, die Geschworenen zu überzeugen. Das Argument, mit dem sie die Erklärungen der Sachverständigen zurückwies, lautete wie folgt. Jesus Castillo wurde zur Zahlung von $ 4000 sowie zu einer auf Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von 180 Tagen verurteilt. Aktivisten für Meinungs- und Pressefreiheit zitieren den Fall als Schaubeispiel für die immer noch gegenwärtige Bedrohung dieser Rechte; der Comic Book Legal Defense Fund hat Castillo nicht nur finanzielle und fachliche Unterstützung während des Verfahrens geboten, sondern weist in mehreren Artikeln auf seiner Webseite auf die Absurdität eines Vorgangs hin, in dem ein Mann für den Verkauf von Erwachsenencomics an einen Erwachsenen verurteilt wurde, weil er damit Kinder und Jugendliche gefährde. Juristische Kommentatoren zählen dagegen einige formelle Ungeschicklichkeiten auf, die sich Castillos Anwalt zuschulden kommen ließ, und betonen insbesondere, daß das Urteil nicht festhalte, Comics seien grundsätzlich für Kinder bestimmt und an diesem Maßstab zu messen, weil das Verfahren eben von vornherein nicht das Delikt der Jugendgefährdung verhandelt habe.2 Der fragliche Comic ist nie in die Hände von Kindern gekommen; zwar lag eine Grundschule gegenüber, aber der Manga wurde in einer getrennten Abteilung des Ladens angeboten; daß der Käufer offensichtlich erwachsen war und Castillo sich davon überzeugt hatte, wurde nie bezweifelt. Die Staatsanwältin nutzte sogar die Tatsache, daß der Comic in dieser Abteilung angeboten wurde und daß er auf seiner Titelseite unübersehbar eine entsprechende Warnung trug, als Argument gegen den Einwand, Castillo habe den Comic gar nicht gekannt und daher nicht wissen können, ob er obszönes Material enthalte. Wenn es aber nicht um den Vorwurf der Jugendgefährdung ging, wie kommt dann die Aussage ‘Comic books are for kids’ überhaupt in die Debatte? Auch wer (wie der Verfasser) diese These für diesen oder für jeden Kontext ablehnt, hat damit noch nicht erklärt, weshalb sie der Staatsanwältin in diesem Kontext einfiel und weshalb die Geschworenen sie als Argument akzeptierten. Obwohl keine Kinder im Spiel waren, schien der Comic dann eher strafbar obszön, wenn Comics grundsätzlich für Kinder produziert würden. Warum ist das so? Der Versuch, diesen Vorgang zu erklären, stellt uns vor zwei Probleme.
Comics sind für Kinder, und dieser Comic ist nicht für Kinder Die Behauptung, Comics seien überhaupt für Kinder bestimmt, scheint auf den ersten Blick nur zu leicht widerlegbar. Es handelt sich um eine Allaussage; sie auszuräumen, müßten Gegenbeispiele genügen. Verweisen wir also etwa auf Art Spiegelmans Maus, das die Erlebnisse von Spiegelmans Vater im Vernichtungslager von Auschwitz schildert, oder auf Will Eisners Geschichten in der Sammlung Last Day in Vietnam, die Begebenheiten aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg erzählen: Ganz sicher wird man uns zugeben, daß diese Themen nicht bevorzugt Unmündige adressieren. Ja muß nicht gerade derjenige, der die Gefährdung von Kindern im Munde führt, sofort bereit sein, diese Unterscheidung zu treffen und bestimmten Texten eine spezifische Ausrichtung auf reifere Leser zuzusprechen? Gerade hier aber liegt das Problem. Nach dieser Argumentation würde ja der strittige Comic Demon Beast Invasion, von dem die Staatsanwaltschaft behaupten muß, er sei eindeutig kein Text für Kinder, selbst schon als Gegenbeispiel ausreichen – und dann könnte seine Verbreitung nicht mehr bestraft werden, gerade weil er jugendgefährdend sein könnte. Dieser offenbare Unsinn ist die Kehrseite derselben Paradoxie, mit der die Anklage die unmißverständliche Auszeichnung des nur für Erwachsene intendierten Comics als Argument gegen Castillo einsetzt. Die Allaussage ‘Comic books are for kids’ wird von der Anklage zwar als universelles Gesetz postuliert; aber dieses Gesetz soll nicht Voraussagen ermöglichen, sondern Verurteilungen. Obwohl die fragliche Proposition inhaltlich offensichtlich in den Bereich der Medienbeobachtung gehört, wird sie wie ein juristisches Gesetz behandelt – als gebe es einen legislativen Entscheid, der für Comics die Adressierung an Kinder festschreibe. Gerade deswegen wird diese Behauptung über Medien gegen die Aussagen von Medienwissenschaftlern ins Feld geführt und gerade deswegen wird die scheinbar selbst medienwissenschaftliche Aussage zur Diskreditierung von Medienwissenschaft im Gerichtssaal überhaupt verwendet: ‘I don’t care what type of testimony is out there…’. Fälle, die nicht auf dieses Gesetz passen, widerlegen es nicht, sondern sie bieten überhaupt erst die Gelegenheiten, an denen es sich bewähren kann, indem es sie verurteilt. Was bei diesen Gelegenheiten dann bestraft wird, ist die Tatsache, daß ein Text nicht zu den Voraussagen über seine Kunstform paßt: Der Verstoß gegen die (oder eine angenommene) traditionelle Form eines Genres wird damit strafbar. Soweit das erste von zwei Problemen, die das Plädoyer der Anklage aufwirft: Durch die Vermischung eines deskriptiv formulierten Gesetzes mit einer normativen Absicht entsteht eine Paradoxie, in der jeder Text, der auf dieser Grundlage überhaupt sanktioniert werden kann, die Grundlage in Frage stellt. Das Argument setzt ein Wissen über die Regeln bestimmter Textklassen voraus und macht es zugleich unmöglich, dieses Wissen aus der Betrachtung der Texte abzuleiten.
Wie ein Comic Kinder gefährdet, die ihn nicht lesen Was aus der Szene fällt, ist ob scaenum und wird bestraft, wenn denn überhaupt Obszönität Strafe nach sich zieht. Dennoch wird Austers City of Glass nicht als obszönes Material zum Inhalt von Gerichtsverfahren, obwohl sein dezentriertes Detektivsubjekt keineswegs in die Szenerie des traditionellen Kriminalromans paßt; und Orwells 1984 muß nicht unter dem Ladentisch verkauft werden, weil es den in der Gesellschaft generell vermuteten (‘I don’t care; use your common sense; traditionally, what we think...’!) – Skopus der Science Fiction verläßt. Die angesprochene Gefährdung von Kindern versieht das fragliche Gesetz erst mit der Dringlichkeit, die eine Strafe motiviert. Daß diese Dringlichkeit auch dort angerufen wird, wo keine Kinder im Spiel sind, ist das zweite Problem, vor das uns Anklage und Verurteilung im Fall Castillo stellen. Tatsächlich bietet der Jugendschutz – und keineswegs zu unrecht – in einer ansonsten freien Gesellschaft eine Basis für den teilweisen Ausschluß von Texten und Medien aus dem öffentlichen Diskurs. Er kann angerufen werden, wenn eine offene Zensur längst nicht mehr akzeptiert würde. In Deutschland spricht die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien BPjM anstelle von Zensur eine ‘Indizierung’ aus und betont, es gebe einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Vorgängen:
Eine solche Indizierung würde also im Fall Castillo nicht greifen. Doch immerhin verbietet sie neben dem Vertrieb an Minderjährige auch die Bewerbung und Besprechung des betroffenen Werks in der Öffentlichkeit, was für solche Medien, deren Herstellung besonders aufwendig ist und die daher nur möglich werden, wenn sie von einem großen Publikumskreis bezahlt werden, vernichtend sein kann. Computerspiele erleben bisweilen ein solches Schicksal; sie erreichen ihre Zielgruppe zu einem nicht geringen Teil durch Werbung, aber auch Berichterstattung in Periodika, die mehr oder weniger ausschließlich von Computerspielen handeln und die gerade auch zahlreiche Minderjährige unter ihren Lesern haben. Indizierte Computerspiele erreichen ihre Zielgruppe wenigstens in Deutschland also praktisch überhaupt nicht. Die Metatexte der Werbung und der Rezension werden eben durch ihren Verweis auf gefährliche Primärtexte gefährlich: „Verboten ist jede Form der Werbung, auch die Werbung, die selbst nicht jugendgefährdend ist.“4 Was auf die Existenz eines für Kinder nicht geeigneten Textes hinweist, ist für Kinder nicht geeignet: Einerseits erregt diese epidemische Ausbreitung des Rezeptionsverbots ein gewisses Unbehagen. Andererseits ist der Mechanismus wohl trotz seiner ärgerlichen Nebenwirkungen alternativlos, solange der Erwerb eines bestimmten Computerspiels für die meisten Jugendlichen trotz aller Bemühungen von Eltern und Textwächtern keine besonderen Schwierigkeiten mehr bereitet, wenn ein PC und ein Anschluß ans Internet zur Verfügung steht. Das erklärt aber weiterhin nicht den Einsatz des Jugendschutzarguments im eingangs geschilderten Fall. Dort hatte ja gerade eine solche eindeutige Trennung stattgefunden, der fragliche Manga war nicht generell zugänglich angeboten oder auch nur beworben worden (das übernimmt übrigens Amazon.com sehr viel wirkungsvoller, als es ein kleiner Comicladen in noch so günstiger Lage zu einer Grundschule vermag). Immer noch bleibt zu klären, wie der Schutz von Jugendlichen vor einem Text und den auf ihn referierenden Metatexten die Sanktion eines Vorgangs motivieren konnte, in dem ein Erwachsener einem anderen diesen Comic verkauft hat. Um diesen Kategorienwechsel zu erklären, ist eine andere Beobachtung entscheidend.
Allzu erfolgreiche Medien Es ist auffällig, daß den neuen Medien schneller eine entsprechende Gefährdung zugesprochen wird als herkömmlichen Formen. So hat etwa die Bundesprüfstelle nach eigenen Angaben im Jahre 2003 zwar 27 Videofilme, 13 Computerspiele, 35 CDs und 67 Onlineangebote indiziert, im selben Zeitraum aber nur insgesamt 27 Printmedien (Bücher und Zeitschriften).5 Entweder gibt es also eine Tendenz, wonach als jugendgefährdend erkannte Inhalte eher in bewegten Bildern und digitalen Medien als auf Papier ausgedrückt werden; oder dieselben Inhalte werden in den neuen Medien schneller als gefährlich angesehen. Es ist die Unterstellung dieses zweiten Aspekts, die immerhin das erste unserer beiden Probleme lösbar macht. Derselbe Inhalt, so wird oft behauptet, gewinnt an Gefährlichkeit, wenn er in bestimmter Weise auf bestimmte Sinne wirkt. Und tatsächlich wird niemand ernsthaft bestreiten können, daß die Wirkung verschiedener Medien zumindest eine verschiedene ist – sonst wären unterschiedliche Rezeptionshaltungen nicht erklärbar, differierende Rezeptionserfahrungen wären nur mehr mit unterschiedlichen kontingenten Konstitutionen der Rezipierenden oder ihrer Tagesform zu begründen, neue Medien böten nie grundsätzlich neue Phänomene, Verfilmungen unterschieden sich von Buchvorlagen durch keine notwendigen Differenzen, sondern nur mehr durch produktionsbestimmte Abweichungen gegenüber einer an sich möglichen eindeutigen Übersetzung vom einen Medium ins andere – und der wesentliche Anspruch einer wissenschaftlichen Medienbeobachtung fiele in sich zusammen. Wir akzeptieren also als minimale Annahme, daß für unterschiedliche Medien unterschiedliche Rezeptionen auftreten. Wenn diese differierenden Reaktionen eines Konsumenten mit einer je individuell verschieden verteilten Rezeptionskompetenz, oder vorsichtiger gesprochen: mit verschiedenen Rezeptionsmechanismen in individuellen Rezipienten korrespondiert, könnten wir die beiden Aussagen, die wir zu erklären versuchen, bestimmter fassen: Die Behauptung ‘Comic books are for kids’ hieße, die Rezeption von Comics spreche Rezeptionsmechanismen an, die in besonderer Weise bei Kindern vorliegen. Und wenn behauptet wird, der Inhalt eines einzelnen Comics sei gerade nicht für Kids, dann deshalb, weil diesem Inhalt spezifisch erwachsene Rezeptionsmuster entsprächen und so ein gefährlicher Widerspruch zwischen Medium und Inhalt bestehe. Man mag das glauben oder nicht: Immerhin wird der erste Widerspruch im Anklageplädoyer gegen Castillo damit auflösbar. Die Rede der Staatsanwältin wäre also so zu verstehen, daß Comics medial eine spezifisch kindliche Rezeption ansprächen; und daß deshalb Themen zu vermeiden seien, die von Kindern nicht rezipiert werden sollten. Bleibt das zweite Problem: Im Fall Castillo hat keine Rezeption durch Kinder stattgefunden, weder eine angemessene noch eine unangemessene. Worin liegt dann die Signifikanz des Mediums, auf die sich die Staatsanwältin bezog? Kann es sein, daß eine kindliche Rezeption auch dann stattfindet, wenn Kinder nicht rezipieren? Wie soll eigentlich der spezifisch kindliche Rezeptionsmechanismus aussehen, der neue Medien begleitet und sie gefährlich machen kann? Wenn wir dem eben gefundenen Weg folgen, müßten wir annehmen, daß Kinder bestimmte Formen, unter ihnen Comics, besonders erfolgreich rezipieren – entweder erfolgreicher als Erwachsene, oder erfolgreicher, als Kinder andere Texte lesen. Inhaltlich Erwachsenen vorbehaltene Texte sollten dann besser nicht in diesen Medien erscheinen; aber solange die Themen kindgerecht gewählt werden, wären diese Medien selbst Kindern besonders zu empfehlen. Kindern sollten also gerade Comics zur Lektüre angeboten werden. Dieser Schluß ist jedoch selten: Denn zugleich mit der Adressierung von Kindern durch bestimmte mediale Verfaßtheiten wird meist eine Gefährdung von Kindern durch die extensive Rezeption neuer Medien überhaupt behauptet. Professor Christian Pfeiffer vom in Deutschland einzigartigen Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen unternimmt seit einigen Jahren Pionierforschung zur Frage einer Medienverwahrlosung von Kindern und Jugendlichen, einem Phänomen, bei dem – so die Befürchtung – Minderjährige durch exzessiven und unbeaufsichtigten Gebrauch neuer Medien geschädigt werden. In Studien wird etwa die Zeit erhoben, die Jugendliche durchschnittlich mit Fernsehen, Videos und Computerspielen verbringen; ein passionierter Umgang mit Büchern wird nicht als Medienverwahrlosung begriffen. Pfeiffer zitiert dazu regelmäßig die folgenden Verse aus Goethes Xenien:
Es sind ausdrücklich Bilder im Gegensatz zu geschriebener Sprache, deren Gefährlichkeit Pfeiffer betont – und also geht es nicht nur darum, daß Kinder und Jugendliche sich zu lange mit den neuen Medien beschäftigen. Pfeiffer beschreibt 6 verschiedene ungünstige Effekte exzessiv rezipierter neuer Medien: Das Ausmaß, in dem sie gebraucht werden, drohe, andere Betätigungen aus dem Leben der Jugendlichen zu verdrängen, sozialer Umgang und körperliche Bewegung träten in den Hintergrund, und schließlich ließen schulische Leistungen nach. Letzteres aber nicht nur, weil für Schularbeiten keine Zeit mehr bliebe, sondern auch, weil die spezifische Rezeption der neuen Medien von der Weise, wie Schule die Kinder erreiche, verschieden sei:
Insofern wären diese Bildmedien oder ihr exzessiver Gebrauch also nicht deshalb eine Gefährdung für Minderjährige, weil diese die gebotenen Sinnesreize nicht erfolgreich verarbeiten könnten. Der Vorwurf lautet vielmehr, daß die Semiose, die in Kindern bei dieser Rezeption stattfindet, erfolgreicher ist als die Semiosen, die die Schule auslöst. Die Rezeption dieser Texte mißlingt nicht etwa, wenn Kinder sie betrachten – sondern sie wird, so die Befürchtung, zu gut gelingen. Besser nämlich, als sie sollte: Eine echte Rezeptionskompetenz für die neuen Medien, wie sie bei Erwachsenen demnach zu erhoffen wäre, müßte nach diesen Vorstellungen also die Semiose nicht etwa befördern, sondern hindern, einschränken, in engere Bahnen lenken.
Der scharfe, myopische Blick In den fünfziger Jahren veröffentlichte der Kinderpsychologe Fredric Wertham sein berühmtes Buch Seduction of the Innocent, in dem er Comics einen wesentlichen Anteil an der Verursachung jugendlicher Straftaten zusprach. Das Buch löste einen erheblichen Wandel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Comics aus (man könnte auch sagen, es lenkte erstmals größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf die junge Kunstform), es führte 8 zur Verbannung von Comics aus Schulen und Bibliotheken, ja zeitweise sogar zu Comicverbrennungen auf offener Straße und schließlich zur Selbstzensur der Comicverläge im sogenannten Comics Code, der bestimmte Themen und Darstellungen von der Wiedergabe in Comics ausschloß. Werthams ausdrückliche Absicht war es, die Eltern, Erzieher und anderen Lebensumstände in der Biographie minderjähriger Straftäter von einer Mitschuld an den Taten der Jugendlichen zu befreien:
Was beobachtet Wertham, wenn er auf der Suche nach den Bedingungen jugendlicher Kriminalität ‘die Comics selbst’ analysiert? In seinen Beschreibungen kehrt jene Ambiguität besonders deutlich wieder, die Kinder zur Rezeption bestimmter Medien gerade deswegen für ungeeignet hält, weil sie Kindern besonders gut gelingt. Einerseits ist die Comic-Kompetenz der Kinder der von Erwachsenen weit überlegen:
Wertham fährt fort, Farbgebungen, relative Größen von Panels und den in ihnen dargestellten Körpern, den gezielten und differenzierten Einsatz von Schrifttypen und Panelformen und vieles weitere zu analysieren, um vorzuführen, wie jeweils paraphrasierte Meinungen von Erwachsenen über einen bestimmten Comic den Text mißverstehen, während Kinder all jene spezifischen Mittel des Comics korrekt interpretieren und so zu einer erfolgreichen Rezeption gelangen. Werthams Untersuchungen sind oft überaus genau, sehr sorgfältig, erheben einen unausgesprochen strukturalistischen Anspruch an Vollständigkeit und Detailtreue und können zurecht trotz allen Widerstands gegen Werthams schließliche Verdammung sämtlicher Comics als eine der ersten und besten Untersuchungen zu den Konstituenten dieser Kunstform betrachtet werden.11 Kinder kommen also laut Wertham mit Comics zurecht, während Erwachsene an ihrer Interpretation scheitern. Gleichzeitig ist es aber die Intention Werthams, die spezifisch kindliche Rezeption von Comics als gefährlich zu kennzeichnen; und so ist die besondere Begabung, die kindliche Comicleser an den Tag legen, gleichzeitig mit der stets wiederkehrenden Suggestion verbunden, diese Fähigkeit sei eigentlich ein Mangel. Dieselben Augen, die mehr sehen als die der comicungeeigneten erwachsenen Leser, haben einen falschen, einen eingeschränkten Blick. Vielleicht gerade deshalb, weil diese beiden Zuschreibungen besonderer und mangelnder Kompetenz einander stören könnten, wird dieser mangelhafte Blick durch Parallelen und Metaphern bezeichnet, die zu der expliziten Genauigkeit der Comicanalysen in einem auffälligen Widerspruch stehen. Willie etwa ist 13 Jahre alt, kurzsichtig und des Mordes verdächtig:
Einerseits ist der dargebotene Inhalt anstößig, und Wertham und Willie, Erwachsener und Minderjähriger erkennen offenbar gleich gut jene typische Körperhaltung, die einer Vergewaltigung unmittelbar vorausgeht. (Was ist das?) Aber es ist auffällig, daß der Hinweis auf Willies schlechte Augen oft und immer dort, wo es um seine Lektüre von Comics geht, wiederholt wird. Das Argument ist ja anscheinend nicht, daß er seine Comics deswegen nicht lesen konnte. Er hat sie vielmehr aufmerksam und immer wieder gelesen und gilt als erfolgreicher Comicrezipient, aber er hat dabei einen myopischen Blick auf die Panel gerichtet, dessen entscheidender Mangel nicht die Kurzsichtigkeit im wörtlichen Sinne sein kann, denn erkannt hat er das Dargestellte nur allzu gut. Als seine mangelnde Weitsicht zum ersten Mal erwähnt wird, folgt ihr unmittelbar – und vollkommen unvermittelt – die Erwähnung seines Schlafwandels, was die Kurzsichtigkeit in die Nähe einer buchstäblich hypno–tischen psychischen Wirkung rückt, wie sie bei Wertham immer wieder impliziert, aber nie ausdrücklich dargestellt wird. Wenn es freilich dieser myopische Blick ist, der Comics gefährlich macht, dann ist die Wahl eines entsprechend gefährlichen oder kindgerechten Themas kaum mehr entscheidend. In Werthams Darstellung tritt diese Unterscheidung dann auch mehr und mehr in den Hintergrund. Zunächst stellt er noch fest: „[N]ot every comic book is bad for children’s minds and emotions. The trouble is that the ‘good’ comic books are snowed under by those which glorify violence, crime and sadism.“14 In einem zweiten Schritt wird aber erklärt, ein Kind, das einmal mit der Rezeption von Comics begonnen habe, gehe immer zur Lektüre von Comics mit unangemessenen Themen über: „Children of eleven do not read only animal comics – whether their parents know it or not. They see all the crime, horror, superman and jungle comics elsewhere if they are not allowed at home.“15 Als Beweis wird etwa der Fall eines kleinen Mädchens angeführt, das einen Titel falsch wiedergibt:
Und schließlich wird die in Amerika überwältigende Mehrheit der Superheldencomics schlichtweg unter die ‘crime comics’ subsummiert:
Diese letzte Formulierung legt die ganze Problematik solcher normativen Ansätze an Kinder- oder überhaupt jede Rezeptionspsychologie offen: Hat die Verbfolge supposed to want to be überhaupt noch eine Referenz? Da wird eine Regel nicht der Verwirklichung eines Begehrens vorangestellt, sondern das Begehren selbst soll einer Regel unterworfen werden. Aber das Herausstellen solcher Schwachpunkte in Werthams normativem pädagogischen Programm fällt erstens allzu leicht – besonders im Abstand von 50 Jahren – und reicht darüber hinaus nicht aus, um seine deskriptiven Behauptungen zu widerlegen. Wieder muß als minimale Annahme akzeptiert werden, daß die psychische Wirkung von Comics tatsächlich verschieden ist von der anderer Kunstformen; alles andere hieße ignorieren, daß es sich überhaupt um verschiedene Kunstformen handelt. Es wäre überdies fahrlässig, von vornherein auszuschließen, daß diese besondere Wirkung geeignet ist, Kinder zu schädigen; was uns interessieren muß, ist vielmehr die Frage, wie nach dieser vermuteten Gefährdung überhaupt vernünftig gesucht und ihre Existenz also durch grundsätzliche psychologische und kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse sowie durch empirische Untersuchungen entweder bestätigt oder ausgeräumt werden kann. In einem zweiten Schritt könnte dann gefragt werden, ob es bessere Methoden gibt, Kinder zu schützen als dadurch, daß ihnen bestimmte Texte vorenthalten werden.
Verbot einer myopischen Semiose für Erwachsene Einstweilen aber können wir über der so präsentierten Vorstellung vom angenommenen myopischen Blick auf Comics begreifen, welche unausgesprochene Verbindung zwischen der Adressierung von Kindern in Comics und ihrer wahrgenommenen Obszönität im Plädoyer der Anklage hergestellt wurde. Denn wovon die größte Gefahr in diesen Fällen ausgeht, ist eben nicht die Wahl eines ungeeigneten oder obszönen Themas. Es ist vielmehr die besondere Semiose, die von Comics angeregt wird, die gefährlich scheint – gefährlich erfolgreich, gefährlich ungehindert. Wenn es einer besonderen Rezeptionskompetenz bedarf, die diese Semiose nicht etwa fördert, sondern sie behindern soll, und wenn diese Kompetenz erst von Erwachsenen besessen wird, dann liegt der Schluß nicht mehr fern, daß auch Erwachsene in einzelnen Fällen eine solche Kompetenz nicht ausreichend ausgebildet haben könnten; daß auch Erwachsene einmal eine Comic mit zu großem Erfolg lesen könnten. Ja vielleicht gibt es sogar derart erfolgreiche Comics, daß keine noch so große Kompetenz ihre Semiose in ausreichendem Maße behindern kann? Mike Diana wurde 1994 zum ersten amerikanischen Künstler, der überhaupt wegen eines Delikts in Sachen „Obszönität“ verurteilt wurde.18 Ein Exemplar seines Comics Boiled Angel war im Zusammenhang mit Ermittlungen in einem Mordfall zusammen mit weiterem Hausrat konfisziert worden. Jahre später wurde Anzeige gegen ihn erstattet, und eine Verurteilung erfolgte. Die Strafe betrug $ 3000 ; während seiner dreijährigen Bewährung hat Diana die Auflage, keinen Kontakt mit Minderjährigen zu suchen; einen Kurs in journalistischer Ethik zu besuchen; sich psychologischen Untersuchungen zu unterziehen; und keine Comics mit bestimmten Inhalten mehr zu zeichnen. Wohlgemerkt, zu zeichnen – es geht nicht nur um den Vertrieb an Minderjährige oder überhaupt um die Verbreitung, sondern Diana ist es ausdrücklich verboten, bei sich zuhause nur für seine eigenen Augen bestimmte Comics zu zeichnen, wenn diese Themen behandeln, die das Gericht für nicht angemessen hält. Um die Befolgung dieser Auflage zu gewährleisten, muß Diana seine Wohnung jederzeit ohne Ankündigung und ohne Durchsuchungsbefehl Inspektionen öffnen. Was wird hier verboten? Nicht die Verbreitung von anstößigem Material, und auch nicht die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen. Verhindert werden soll, daß eine bestimmte Semiose überhaupt irgendwo stattfindet, daß irgendein, und sei es ein einziges, Bewußtsein diese Semiose leistet. Angenommen wird, daß die Produktion von Comiczeichen Voraussetzung für diese Semiose ist; daß sogar dasselbe Bewußtsein, das diese Zeichen produzieren könnte, von jener Semiose abgehalten wird, solange es auf die Produktion verzichtet. Mehr Macht kann man einer Kunstform kaum zusprechen. Wie kann unter solchen Umständen eine medienwissenschaftliche Untersuchung überhaupt aussehen? Welcher Prüfung kann die These von der unglücklich erfolgreichen Comicsemiose unterzogen werden? Der Verweis auf Comics mit erwachsenen Inhalten muß, wie gesehen, scheitern. Ebenfalls scheitern wird jeder Versuch, Kindern die Kompetenz zum Umgang mit Comics entweder zu- oder abzusprechen; beides behauptet ja die These. Kinder überhaupt vor solchen Texten zu schützen, ist offensichtlich auch keine sichere Strategie. Die Crux ist, daß nach dieser These die gelungenste Rezeption eines Comics zugleich am schlimmsten mißlingen kann. Wenn es also Gegenbeweise geben kann, dann müssen sie vollständig gelungene Semiosen auf der Grundlage von Comics vorführen: Solche, in denen die Zeichen, aus denen Comics bestehen, ihre Kraft vollständig entwickeln und dennoch auch der Inhalt angemessen repräsentiert wird. Die Betrachtung solcher doppelt erfolgreicher Comicrezeptionen könnte nicht nur beweisen, daß ein solcher Erfolg möglich ist, sondern auch aufzeigen, unter welchen Voraussetzungen er gelingt, und also die Konstituenten einer tatsächlichen Rezeptionskompetenz für Comics definieren helfen. Damit wäre außerdem ein Schritt zur erfolgreichen Interpretation von Comics und für die vielen Fälle avancierter, schwieriger Comics eine Grundlage für eine potente Comichermeneutik geschaffen. Mike Diana ist auch zur Ableistung von 1248 Stunden Sozialarbeit verurteilt worden. Er kommt dieser Auflage als freiwilliger Mitarbeiter beim Comic Book Legal Defense Fund nach. Die Verteidigung dieser Kunstform vor Richtern und Gesetzen ist nämlich als gemeinnützig anerkannt.
Fussnoten
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Kontakt: redaktion@medienobservationen.de Veröffentlicht am 30.07.2004 |
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