Internet Chatlines (IRC) / Internet / Kommunikation / Macht / Kontrollverlust / Kontrollsteigerung |
Stephanie Schmaus Die grenzenlose Freiheit der Chat-Kommunikation - eine Illusion? Abstract: Durch das Internet ergeben sich neue Formen computervermittelter Kommunikation. Zu den wichtigsten zählen die elektronische Post (E-Mail), die Newsgroups und Chatlines. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit den Internet-Chatlines (IRC), mit "Kommunikationsräumen", die über Internet kontaktiert werden können und einer unbegrenzten Anzahl von Kommunikationsteilnehmern eine zeitgleiche Kommunikation ermöglichen. Im besonderen wird auf Kontroll- und Machtmechanismen eingegangen, die es ermöglichen, den eigenen Kontrollbereich auszuweiten und darüber hinaus den Kontrollbereich anderer Chatter einzuschränken. Es gilt zu klären, ob sich die Chat-Kommunikation hierbei von anderen Kommunikationsformen unterscheidet. Macht- und Kontrollausübung sind Bestandteile jeglicher
zwischenmenschlicher Kommunikation. Somit sind sie auch in scheinbar
herrschaftsfreien Diskursen wie den Internet-Chatlines vorzufinden.
Obwohl bestimmte Macht- und Kontrollmechanismen nicht auf alle Teilnehmer
die gleiche Wirkung haben und so auch nicht von vornherein zu generalisieren
sind, erscheint es mir wichtig, bestimmte Verhaltens- und Kommunikationsweisen
der Chatter sowie Besonderheiten der Chat-Kommunikation aufzuzeigen,
die entsprechende Wirkungen hervorrufen können. Kontrollverlust und Kontrollsteigerung Elektronische Vermittlung Die Nähe zur natürlichen Sprache kann sogar
Probleme aufwerfen: "Gleiche Wörter mit eingeschriebener Bedeutung
können zu Interferenzen zwischen natürlicher Sprache und formaler
Sprache führen. Erst durch Übung lernen die Benutzer, von
den Wörtern im System nicht die ganze Breite der natürlichsprachlichen
Bedeutungen zu erwarten." (Zoeppritz, S.113) Aufgrund der elektronischen Vermittlung der IRC-Kommunikation
ist es möglich, daß Teilnehmer ihre EDV-Kenntnisse nutzen,
um den Kontrollbereich anderer Kommunikationsteilnehmer einzuschränken.
So verweist Dibbell (1993) auf einen Vorfall aus der MUD-Kommunikation,
bei dem technisches Wissen eingesetzt wurde, um Teilnehmern das "Zugriffsrecht"
auf ihre MUD-Persönlichkeit zu verwehren (MUD = Multi User Dungeons:
"Viel-Nutzer-Kerker"; Kommunikationsform mit Rollenspielcharakter) (siehe
Dibbell). Mit Hilfe eines speziellen Programms wurde es möglich,
Handlungen und Äußerungen verschiedener Gesprächspartner
zu beeinflussen, so daß es gegen ihren Willen zur Darstellung
von Vergewaltigungsabläufen und Selbstzerstümmelung kam. Obwohl
dieses Ereignis im MUD stattfand, macht es deutlich, welche Gefahren
in der elektronischen Kommunikationsübermittlung liegen können.
Denn auch in der Chat-Kommunikation ist eine Manipulation denkbar. Versiertheit
im Umgang mit der Computertechnik kann dazu mißbraucht werden,
die Kommunikation anderer zu beeinflussen und indirekt Gewalt auszuüben.
So wäre zum Beispiel der Einsatz eines Robots denkbar, der automatisch
den Namen (Nickname) eines Chatters übernimmt, wenn dieser das
Programm verlassen hat. Dem Chatter ist es dann nicht mehr möglich,
beim erneuten Eintritt in den Kanal unter seinem bisherigen Nickname
in den Gesprächsverlauf einzusteigen. Derartige "Übergriffe"
sind allerdings nicht so harmlos, wie zunächst vermutet werden
könnte. Der Name spielt nämlich häufig eine wichtige
Rolle bei der Selbstdarstellung der Kommunikationsteilnehmer. Beispiel 1: Wenn es nicht mehr möglich ist, unter seinem Namen einem Kanal beizutreten, können Chat-Bekanntschaften den Kommunikationsteilnehmer auch nicht mehr erkennen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die bloße Übernahme des Namens als Kontrollverlust erfahren werden kann. Eine allgemeine Kontrollsteigerung ermöglicht die technische Vermittlung bei Gesprächsbeginn. Mit Eintritt in den Kanal erscheint die Programmnachricht "*** Nickname (...@...de) has joined #..." auf dem Bildschirm. Auf diese Weise wird für die bereits anwesenden Chatter ersichtlich, wer dem Kanal beigetreten ist, ohne daß eine explizite Namensnennung oder Bekanntmachung vonnöten wäre. Mißverständnisse wie in der Telefonkommunikation, die aufgrund von fehlender Identifikation hervorgerufen werden, gibt es im Chat nicht. Zudem ist der Name trotz mangelnder Kenntnis der "wahren" Identität des Chatters völlig ausreichend, um im Falle eines unerwünschten Verhaltens seinen Ausschluß herbeizuführen. Die elektronische Vermittlung ermöglicht es, mit Menschen verschiedener Nationalitäten in Beziehung zu treten, mit denen im "realen Leben" ein Kontakt nur unter erschwerten Bedingungen möglich wäre. So eröffnet die Chat-Kommunikation für alle Teilnehmer gleichermaßen neue Kommunikationsmöglichkeiten. Diese können je nach kulturellen Unterschieden als Bereicherung oder Kontrollverlust verstanden werden. Beispiel 2: Kanal
mit japanischen Chattern; Namen anonymisiert In diesem Beispiel wird AE von SB mit Verweis auf die mangelhaften Englischkenntnisse der anderen Teilnehmer indirekt aufgefordert, den Kanal zu verlassen. Somit versucht SB zu verhindern, daß AE nach seinem/ihrem Verlassen keinen weiteren Gesprächspartner im Kanal findet und die mangelnden Reaktionen der anderen Kommunikationsteilnehmer als Unhöflichkeit mißversteht. Für AE könnte dieser Hinweis jedoch auch als verbaler Hinauswurf gewertet werden. Dieses Beispiel zeigt, daß es durchaus zu interkulturellen Schwierigkeiten in der Chat-Kommunikation kommen kann. Die Chatlines stellen somit nicht immer friedliche und freundliche Kommunikationsräume dar, in denen alle Kommunikationsteilnehmer automatisch in gegenseitiger Zuneigung und Aufgeschlossenheit miteinander verbunden sind. Geschwindigkeit Beispiel 3: SU ich hiese SU Eine schnelle Abfolge der einzelnen Äußerungen zeigt sich besonders deutlich in der Zweiergesprächssituation. "Gesprächspausen" durch den Partner werden sofort durch eigene Äußerungen kompensiert. Häufig ist so kein stringenter Gesprächsverlauf mehr zu erkennen, da die Äußerungen nicht in direktem Bezug zu vorangegangenen stehen. Beispiel 4: Thema 2: Israelaufenthalt von AE Thema 3: Tätigkeit von KR In diesem kurzen Gesprächsausschnitt werden drei verschiedene Themenkomplexe behandelt. KR bezieht sich in Zeile 37 auf eine vorangegangene Frage AEs, während AE in Zeile 38 auf eine andere Äußerung KRs eingeht. Gleichzeitig bezieht sich AE in Zeile 39 auf KRs Äußerung in Zeile 37. Ähnlich verhält es sich mit den restlichen Äußerungen. Beide Kommunikationsteilnehmer scheinen nicht abzuwarten, bis die Antwort des Gegenübers erfolgt. Dies ist darauf zurückzuführen, daß man sich in keiner Gesprächssituation völlig sicher sein kann, die volle Aufmerksamkeit des Partners zu erhalten. Es besteht immer die "nicht kontrollierbare Möglichkeit, daß einer der Teilnehmer sich unbemerkt gleichzeitig mit dritten unterhält." (Krotz, S.122/123) Durch eine schnelle Abfolge des Gesprächs wird versucht, die Aufmerksamkeit auf das Zweiergespräch zu lenken, um somit nicht durch einen unachtsamen Gesprächspartner von Kontrollverlust bedroht zu werden. Neben der Tippgeschwindigkeit beeinflußt die
elektronische Vermittlung die Äußerungsschnelligkeit der
Kommunikationsteilnehmer. Eine Überlastung des Netzes oder des
Servers und Geschwindigkeitsbeschränkungen des Internetzugangs
kann zu Wartezeiten führen, bis die Kommunikationsteilnehmer dem
Chat-Kanal beitreten können. Aufgrund des vorwiegend nicht zielgerichteten
Kommunikationszwecks scheinen Wartezeiten vor Beginn der eigentlichen
Kommunikation jedoch weniger schwerwiegend zu sein und können höchstens
den Mißmut des betroffenen Kommunikationsteilnehmers herbeiführen.
Anonymität Die anonyme Gesprächssituation macht Experimente wie den Geschlechtertausch möglich. Dies bietet den Vorteil, Erfahrungen als Angehöriger des anderen Geschlechts zu sammeln, die im RL nicht möglich wären (Turkle, S.213). Reid verweist jedoch darauf, daß Geschlechtertausch häufig nicht ohne eigenen Kontrollverlust abläuft: "It is indeed a truly disorienting experience the first time one finds oneself being treated as a member of the opposite sex.(...) I did not know how to speak, whether to women or to 'other' men, and I was thrown off balance by the ways in which other people spoke to me." Die Anonymität im Chat verhindert nicht, daß Chatter mit weiblichen Nicknames von Kontrollverlust durch männliche Annäherungsversuche bedroht werden. Da sich diese aber auf der kommunikativen Ebene bewegen, kann nicht von einem völligen Kontrollverlust ausgegangen werden. So besteht immer die Möglichkeit, sich nicht auf derartige Belästigungen einzulassen, indem die häufig gestellte Frage nach dem Geschlecht mit "männlich" beantwortet werden kann. Beispiel 5: Außerdem müssen Textfenster mit "privaten" Nachrichten nicht geöffnet werden und sind durch Befehlseingabe "/ignore Nickname" zu verhindern. Die Äußerungen des "ignorierten" Chatters erscheinen nicht mehr auf dem Bildschirm des Initiators oder der Initiatorin. Inwieweit sexuelle Belästigung im Chat als beängstigende Erfahrung gewertet wird, kann hier nicht geklärt werden. Zwar muß aufgrund der vorherrschenden Anonymität nicht mit Übergriffen im RL gerechnet werden, jedoch läßt sich nicht ausschließen, daß verbale Angriffe im Chat Auswirkungen auf die Lebenssituation der Betroffenen haben. Hierarchischer Aufbau Beispiel 6: LC kritisiert mit seiner Äußerung "is hier wohl euer privatchannel" die mangelnde Kommunikationsbereitschaft der Chatter. Grundsätzlich scheint an dieser Kritik keine gemeinschaftsgefährdende Absicht deutlich zu werden, doch LE zieht es in Erwägung, LC aus dem Kanal auszuschließen. Die Bereitschaft, auch kritische Ansichten zuzulassen, ist also nicht immer vorhanden. Auch wenn in diesem Fall der eigentliche Ausschluß LCs nicht erfolgt, wird zumindest eine indirekte Verwarnung ausgesprochen. Auch im nächsten Beispiel kann keine konkrete Normverletzung festgestellt werden. Beispiel 7: 159 *** TP sets mode: -b TS! In diesem Gesprächsausschnitt wird TS keine Chance gelassen, dem Gesprächsverlauf länger beizuwohnen. Obwohl kein eindeutiger Normverstoß anhand seiner/ihrer Äußerungen deutlich wird, wirft IU ihn/sie in Zeile 74 das erste Mal aus dem Kanal. Weitere Hinauswürfe folgen in den Zeilen 154, 156 und 158. Der Protest von TS wird von IU mit "TS: du hast da nich viel zu sagen :))" abgewendet. Obwohl das Smileyzeichen den Gehalt der Äußerung zu mindern scheint, bewertet IUs Hinweis die Situation, in der sich TS befindet, in angemessener Weise: TS hat keinerlei Kontrolle über das Geschehen. Um dem Hinauswurf durch die Operators zu entgehen, muß der Kanal gewechselt werden. Von seiten der Operators mögen die "Kick-Attacken" gegen TS nicht allzu ernst gemeint sein. Dies zeigt sich vor allem daran, daß TS mittels "TP sets mode: -b TS!*@*" in den Kanal zurückgeholt wird, nachdem TP selbst die Verbannung eingeleitet hat. Es ist fraglich, inwieweit TS dieses jedoch als Spiel auffaßt. Er/sie versucht immer wieder, in den Kanal zurückzugelangen, und hofft so, doch noch in den eigentlichen Kommunikationsverlauf integriert zu werden. Abschließend läßt sich festhalten, daß die Chatlines nicht demokratischer oder offener als andere Gemeinschaften sind, sondern sich zum Teil sogar restriktiver und willkürlicher verhalten. Regelwidriges Verhalten oder nur vermutet anomisches wird oft mit sofortigem Ausschluß aus der Kanalgemeinschaft geahndet, ohne dem Betroffenen die Möglichkeit zur Verteidigung zu geben. Größere Freiheit als im "realen Leben" wird den Kommunikationsteilnehmern auch nicht im Umgang mit Sprache und Zeichen außerhalb bereits konventionalisierter Veränderungen - Abkürzungen, Emoticons und Comicsprache - zugestanden, wie folgendes Beispiel deutlich macht. Beispiel 8: Trotz OEs kreativer Fähigkeiten wird er/sie aus dem Kanal geworfen. Dies liegt vermutlich daran, daß er/sie sein "Kunstwerk" nicht mit einleitenden Worten näher erklärt, sondern unerwartet in den Kommunikationsverlauf einfließen läßt. Macht manifestiert sich vor allem in der Funktion der Operators, die sie teilweise willkürlich gegen einzelne Kommunikationsteilnehmer einsetzen. Willkür entsteht vor allem dann, wenn ohne ersichtlichen Grund die Operatorfunktion ausgenutzt wird, um mißfallende Gesprächsteilnehmer aus dem Kanal auszuschließen. Macht konzipiert sich zudem indirekt durch die elektronische Vermittlung der Chat-Kommunikation, die verhindert, daß die Kommunikationsteilnehmer völlig "frei" kommunizieren können. Literatur |
Der hier veröffentlichte Artikel stellt einen Ausschnitt einer umfangreichen Untersuchung dar, die im Rahmen meiner Magisterarbeit entstanden ist. Ausführlichere Angaben zum Thema über Post und e-mail bei der Redaktion: medienobservationen@lrz.uni-muenchen.de |
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