Alexander Schlicker

 

Kain und Raziel: Die Rache der unfreien Erlöser. Literatur- und medienwissenschaftliche Interpretationszugänge zur Video- und Computerspielserie „Legacy of Kain“.

 

Abstract: Der Beitrag untersucht inhaltliche Konflikte in Video- und Computerspielen am Beispiel der Action-Adventure-Serie „Legacy of Kain“. Dabei werden neben inhaltlichen Interpretationszugängen zum Thema Rache Konfliktpotenziale, Figurenkonzeptionen und philosophische und medientheoretische Fragestellungen zu diskutieren sein. Die Untersuchung führt vom problematischen Sein zum Tode der untoten Handlungsträger über die Doppelung zwischen den Protagonisten Kain und Raziel und das Motiv der Rache zu Überlegungen über die strukturelle Funktion des Sterbens in interaktiven Medien. Außerdem werden die ästhetische Funktion der Sexualitätstopik in „Legacy of Kain“ und die Parallele zwischen der seriellen Veröffentlichung der Spiele und ihren inhaltlichen Konflikten erörtert. Schließlich ist zu fragen, inwiefern solche Fragestellungen generell Zugänge für eine weiterführende Analyse von Games eröffnen können.

 

0. Zeit und Sein eines Vampirs

„Wenn man die Wahl hat, ein verdorbenes und verkommenes Reich zu regieren oder die Götter herauszufordern und sein eigenes Schicksal zu ändern...Was würde ein König tun?...Hat er überhaupt die Wahl? Man kann dem Weg des Schicksals nur folgen, Schritt für Schritt...um den tyrannischen Sternen zu trotzen.“

Dieser Eingangsmonolog des Vampirs Kain markiert den Beginn von „Legacy of Kain: Defiance“, dem fünften und bislang letzten Teil der epischen Video- und Computerspielsaga nach Amy Henning um Kain und dessen mit dem Schicksal des Reiches Nosgoth verwobenes (Un)Leben als vampirischer 1 Imperator. Die mythische Welt von Nosgoth wird durch neun magische, phallisch in den Himmel ragende Säulen und deren Hüter vor Verfall geschützt. Durch eine Intrige, die sowohl vom Zeitstromlenker Möbius wie dem mit den Vampiren verfeindeten Volk der Hylden ausgeht, wird der Zirkel der Hüter infiltriert und fast vollständig ausgelöscht. Kain, der ohne sein Wissen zum Hüter des Gleichgewichts bestimmt war, wird von Räubern auf einer Reise durch Nosgoth getötet und als Vampir wieder zum Leben erweckt, um sich an seinen Mördern rächen zu können. Am Ende von „Blood Omen 1“ wird Kain, nachdem er Möbius (zum ersten Mal) getötet hat, vor eine folgenschwere Wahl gestellt, der er als auserwählter Hüter der Säulen nicht entrinnen kann: Entweder sich selbst opfern, um damit Nosgoth in seiner Blüte zu erhalten, oder das Opfer verweigern und damit das Land verdammen. In den folgenden Episoden der Serie tritt Kain als Eroberer Nosgoths und Bezwinger der Hylden („Blood Omen 2“) sowie als König seines mittlerweile „verdorbenen und verkommenen Reiches“ auf, der aus sechs Leichen seiner Feinde Statthalter für die einzelnen Provinzen seines Reiches rekrutiert. Einer von ihnen ist Raziel, der von Kain verstoßen und nach tausend Jahren in neuer Gestalt vom mystischen Elder God wiedererweckt wird, um nun wiederum an Kain und seinen fünf Vampirbrüdern Rache zu nehmen. Raziels Rachefeldzug wird von zahlreichen Begegnungen mit Kain begleitet, der Raziel für seine Pläne benutzen will. Dabei kommt Möbius´ Zeitmaschinen eine besondere Funktion zu: Alle Hauptfiguren treffen sich in den unterschiedlichsten Zeitebenen der Saga wieder, woraus sich neue Konflikte, aber vor allem neue Perspektiven auf die vergangene und zukünftige Handlung ergeben. „Defiance“ schließt den narrativen Kreis, indem Kain in der letzten Szene auf das bestimmende Ereignis seines Lebens (zurück)blickt: Seine Entscheidung gegen seine Opferung. Die für ihn in jeder Zeit entscheidende Frage lautet: Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, sein Schicksal zu ändern und sowohl seine Existenz als auch Nosgoth zu erhalten?

Der eingangs zitierte Monolog fasst diesen dramaturgischen Kern der verschiedenen Serienteile zusammen und legt den paradoxalen Konflikt des Sprechers offen. Ist der Wille und damit das Handeln frei? Welchen Einfluss haben Kains Entscheidungen auf sein Schicksal und das der anderen Handlungsträger in der konfliktträchtigen Welt von Nosgoth? Und welche Rolle spielt der Umgang mit Zeit für eine inhaltliche Interpretation des „Legacy of Kain“- Universums? 2

Was verbindet Kain und seinen Antagonisten Raziel? Ohne die andauernde medientheoretische Debatte über den Vorrang ludischer oder narrativer Elemente in Games 3 fortzusetzen, wird dieser Beitrag die „Legacy of Kain“ - Reihe als „gespielte Geschichte“ und nicht als „Spiel mit Erzählelementen“ behandeln. 4 Die nachfolgenden Ausführungen wollen diese Herangehensweise unter besonderer Berücksichtigung literaturwissenschaftlicher Fragestellungen stützen, andere Perspektiven jedoch nicht ausschließen.

1. Kains paradoxer Fatalismus oder: Das Sein zum Tode

Wie bereits angedeutet, kämpft Kain mit einem ganz bestimmten Dilemma: Er ist zwar aufgrund seines Unlebens als Vampir unsterblich, doch kennt er sein ihm vorhergesagtes Schicksal, das ihn – paradoxerweise nun gegen seine (Un)Natur – in den sicheren Tod führen wird: Nur wenn er sich selbst als Hüter der Säulen von Nosgoth opfert, kann diese Welt bewahrt bleiben. Mit Hilfe der Zeitportale konnte Kain bereits das, was sich innerhalb des Kreises der Hüter der Säulen bzw. vor seiner Transformation ereignete, sowie das vermeintliche Ende seiner Geschichte erkunden. Was ist nun das für Kains Handeln konstitutive Element, seine Willensmaxime?

Es ist die Furcht vor seinem „zweiten“, wohl endgültigen Tod. 5 Als Vampir ist er unsterblich; es ist gerade seine Unsterblichkeit, die ihm die Möglichkeit von Zeitsprüngen und die damit einhergehende Einsicht in die Tragweite seiner Entscheidungen erst eröffnete. Die Konsequenz: Kain, der als Herrscher von Nosgoth stets zwischen seinem narzisstischen Machthunger und seiner Todesangst oszilliert, beobachtet die Sinnlosigkeit seiner variierenden Handlungen, die ihn doch stets an den gleichen Endpunkt seiner Existenz bringen. Dieser Prozess fördert zwar einerseits seinen fatalistischen Glauben, andererseits – und dies deckt sich mit einem in „Legacy of Kain“ programmatisch etablierten Leitgedanken – resigniert Kain nicht. Wie lässt sich Kains fatalistische Todesangst mit dem für „Legacy of Kain“ konstitutiven Umgang mit Zeit als Medium von Sinn zusammenführen?

An dieser Stelle kann es für eine weiterführende Erläuterung dieses philosophischen Problems nützlich sein, sich der Bedeutung des Todes in der Terminologie Martin Heideggers 6 partiell zu bedienen, der sich in „Sein und Zeit“ 7 unter anderem der Frage widmet, wie die Begriffe Zeit und (Da)Sein miteinander zu einer neuen Existenzphilosophie verschränkt werden können. Ohne diesen Weg nun in all seiner Konsequenz skizzieren zu wollen, wenden wir uns einem Leitsatz Heideggers zu, der die Frage nach dem Sein eines Individuums mit der Frage nach der Zeit so verknüpft, dass letztere gerade zum Interpretamen des Seins wird. 8 Indem sich Kain dem Tod, und damit einem Ereignis seiner (Lebens-)Zeit verweigert, entzieht er sich der Unumgänglichkeit des Todes, welche seinem Dasein erst Sinn verleiht. Zeit, Sein und Sinn hängen in Heideggers Modell nicht nur untrennbar zusammen. Speziell Sein und Zeit stehen in einem nahezu ununterscheidbaren Zwillingsverhältnis zueinander, sodass der Versuch, das eine durch das andere zu begreifen, wie es Kain und Raziel versuchen, scheitern muss. Schließt man sich der These an, wonach das Fragen nach dem Sein immer „zu spät“ kommt, da diese Frage stets jenes Element bereits beinhaltet und sogar voraussetzt, wonach gerade gefragt wird, nämlich Sinn 9, bietet sich für Kains Expeditionen durch die Zeit folgende Schlussfolgerung an: Kains Reise ist eben nicht nur eine Suche nach Sinn (also einem Ausweg). Sie ist gleichzeitig und unhintergehbar die Suche nach seiner Existenz. Der Tod ist, so verstanden, ein Moment des Daseins, des Lebens, was Heidegger in der berühmt gewordenen Formulierung vom „Sein zum Tode“ zum Ausdruck bringt. Die Existenz des ewig lebenden Kain hat - markiert durch seine „sinnlosen“ Versuche, seinem Schicksal zu entgehen - keinen Sinn. Die Angst eines Wesens vor dem Tod, welches aufgrund seiner Beschaffenheit gerade keine Angst vor dem Tod haben müsste, führt bei Kain zu einem Festhalten an der Existenz, wobei er letztlich - was ihm aber erst am Ende von „Defiance“ bewusst wird - nicht nach freiem Willen handelt. Heideggers Überlegungen bezüglich einer strukturellen Verknüpfung von Sein, Zeit und Sinn geben ein solides Muster vor, für das Kains Unfreiheit bzw. seine Suche nach Sinn in der Zeit ein geradezu spiegelbildliches Beispiel liefert.

Selbst die aktive Unterwanderung der vorgegebenen Entscheidungswege führt in Kains Fall nicht zu freiem Handeln, denn es ist über weite Strecken der Handlung nicht einmal exakt zu bestimmen, wer nun in Wahrheit „die Fäden der Marionetten“ zieht. Dadurch bleibt ein Misstrauen bezüglich der wahren Intention von Aktion und Reaktion innerhalb der Saga stets präsent. Gleichzeitig deuten diese Überlegungen allerdings bereits an, dass eine Demaskierung der Figurenintention eben nicht zu einem Ausbruch aus dem Muster des „Seins zum Tode“ führt. Durch die Initiierung der Ereignisse rund um seinen „Vampirsohn“ Raziel sucht Kain nach dem, was er die „Kante einer Münze“ nennt: Das Patt zwischen den Optionen Tod oder Verfall der Säulen, eine paradoxe Option. Die Konsequenz wäre die Möglichkeit des Unmöglichen – die Fortsetzung von Kains Herrschaft über ein vitales Nosgoth. Symbolisch würde dies die Vereinbarkeit von Leben (Nosgoth) und Tod (die Grausamkeit des Imperators Kain) bedeuten, was innerhalb der Saga und ihren inhärent eingezogenen Mustern nur dann möglich scheint, wenn sich Kain wandelt: Da Kain in seiner physischen Existenz bereits existenzielle Grenzen - den Tod und die Chronologie von Zeit - mehrmals überschritten hat, ist eine innere Reifung als kathartisches Transformationselement bereits symbolisch in seiner Figuration angedeutet. Die angesprochene Münz-Metapher entfaltet ein metaphorisches Deutungsangebot, das in die ganze Erzählhandlung der Saga eingeschrieben ist. Das Werfen einer Münze obliegt per se den Gesetzen des Zufalls und unterläuft damit jegliche Intentionalität eines Werfers, abgesehen von seiner Entscheidung, eben genau diese Regeln und die damit verbundenen Konsequenzen anzuerkennen. Das Werfen der Münze wird hier folglich zur Delegierung von Entscheidung. Denn obwohl Kain weiß, welche Optionen er nicht will, so hat er doch kein Wissen darüber, inwiefern und wie die Kante, die ohne beide Seiten nicht existieren würde, sein Schicksal verändert. Man könnte sagen, dass sich Kain damit aus freiem Willen in die Fatalität der Geschichte ergibt. Dieser Umstand spiegelt erneut ein Paradox von Kains Existenz wider: Wenn er nach einer Möglichkeit sucht, die es eigentlich gar nicht gibt und er selbst nicht allein imstande ist, diese unmögliche Möglichkeit zu produzieren, wie kann seine Existenz überhaupt jemals individuellen Sinn im „Spiel“ um das Schicksal Nosgoths erhalten? Selbst sein Tod würde das Problem nur vorübergehend suspendieren und auf den nächsten Hüter verlagern. Mit Heidegger formuliert: Ausschließlich Kains Opfer kann Sinn produzieren; jedoch nur vorübergehend. 10

Was ist nun genau die Kante der Münze, von der Kain spricht? Niklas Luhmann lieferte in seinem gleichnamigen Aufsatz über Temporalstrukturen von Handlungssystemen ein Modell, welches diese Kante ziemlich genau beschreibt:„[Luhmann] geht davon aus, dass erst dann, wenn die Veränderungen, die durch eine Handlungskette ausgelöst werden, nicht mehr reversibel seien, die Vergangenheit einsetze. Bevor das geschehe, gebe es eine ausgedehnte Gegenwart, in der zwar schon bestimmte Tendenzen für die Zukunft angelegt seien, die aber möglicherweise noch in eine andere Richtung gelenkt werden könnten [...]. Die Zukunft wäre also noch offen. Anders ausgedrückt heißt das: Ein Zustand dauert an, das Ergebnis steht noch nicht fest, man befindet sich noch im Prozess der Festlegung.“ 11

Auf die Spielhandlung übertragen, besagt Luhmanns Ansatz, dass Kain versucht, eine von ihm fixierte und zumindest teilweise aktiv manipulierte Zeitspanne innerhalb der Ereignisse von „Soul Reaver 2“, die durch „unumstößliche Dispositionen“ prädestiniert ist, für (s)eine Umdeutung der Geschichte zu nutzen. In einem Dialog mit Raziel 12 eröffnet Kain seinen paradoxen Plan, mit dem er sowohl Vergangenheit als auch Zukunft zu verändern sucht: Wenn er die Kausalität des Zeitstroms nur oft genug beeinträchtigt und damit letztlich einen bisher unbekannten und bezüglich der Kausalitätsgesetze des geschichtlichen Ablaufs un(auf)lösbaren Punkt [Was heißt das?] verändert, entsteht ein Zeit- und eben daraus resultierend ein Kausalitätsparadoxon, um das sich die Geschichte gänzlich neu formieren müsste. Im Schlussakt von „Soul Reaver 2“ kreiert Kain ein solches Paradox mit Raziels (un)freiwilliger Hilfe, die Münze fällt unwahrscheinlicherweise – aber eben nicht unmöglicherweise - auf ihre Kante und erzeugt einen „blinden Fleck“. Nachdem Raziel sein menschliches Ich getötet hat, bleibt für seine seelenverschlingende Spektralklinge nur noch Raziel selbst übrig. Doch weil Raziel selbst die parasitäre Einheit des Schwertes personifiziert, entsteht ein Paradox, denn die Klinge will nun ihre eigene Seele aufsaugen. Der Zeitstrom windet sich um diese neue, nicht mögliche Konstellation, offenbart aber erneut die Sinnlosigkeit von Kains Aktionen: Die Hylden können trotz bzw. gerade aufgrund dieser Ereignisse aus ihrem Exil zurückkehren und die Herrschaft über Nosgoth übernehmen.

2. Antagonismus und Raziels (un)freie Entscheidung zum Tode

Wie ist Raziels 13 Rolle innerhalb der Saga einzuschätzen? Er ist das einzige Wesen innerhalb der Saga neben Elder God, das selbst nicht einmal die Option des Freitodes wählen könnte, um sich von seiner Existenz zu erlösen, denn er ist als „Seelenfänger“ des Elder Gods irreversibel vom Rad des Schicksals ausgeschlossen. Die biblischen Parallelen und Referenzen werden durch den christlichen Wiederauferstehungs- und Erlösermythos, aber ebenso durch die diabolische Referenz auf einen „mephistophelischen Seelenfänger“ zunehmend ausgebaut. Dazu erinnert seine mit ihm (nach einem Duell mit Kain) untrennbar verbundene Spektralklinge frappierend an ein Flammenschwert, wie es etwa dem Erzengel Michael zugeschrieben wird. Damit ist Raziels ambivalente Aufspaltung zwischen Leben und Tod bzw. Erlöser und Dämon gleich mehrfach symbolisiert. 14 Raziel ist nicht nur unsterblich, er ist ein Spektralwesen, ein von Leben und Tod losgelöster „Transzendent“ par excellence, womit auch sein (angeblich) freier Wille erklärt wird. Nur so kann das Bestreben, „seinen“ tyrannischen Sternen (also Kain, Elder God und Möbius) trotzen zu wollen, plausibilisiert werden. Kain folgt punktuell der Vorsehung auf der Suche nach einem Wendepunkt für seine Existenz; Raziel will sich hingegen jeder manipulativen Einflussnahme entziehen. Sein Weg bildet von Anfang an ein Korrelat zu Kains Schicksalsweg, indem beide nach einer radikalen Form der Individualität streben, die sie selbst von Chronologie und (natürlicher) Kausalität befreien soll. Raziel kennt allerdings im Gegensatz zu Kain den Ablauf der Ereignisse nicht, die ihn zu seinem Schicksal (der erneuten Vereinigung mit der materiellen Version des „Soul Reavers“) führen müssen und kann einen Ausweg aus dieser Fatalität nur vermuten. 15Auf diesem „Ausbildungsweg“, der ihn zu einem gleichwertigen Gegner Kains aufsteigen lässt, wird eine eindeutige Definition von Raziels Figur zur Tendenzfrage, die sich im Verlauf von „Defiance“ sehr weitläufig aufspannt: So stellt sich allein aufgrund von Raziels physiognomischer Veränderung nach seiner Wiederauferstehung die Frage, ob er nun dem Volk der Hylden angehören und damit der natürliche Feind der Vampire sein könnte?

Für die an diese Fragen anschließende Überlegung ist eine Einteilung vorzunehmen, wie sie innerhalb der Handlung nur an Raziel vollzogen wird. Dieser wird zu Beginn von „Soul Reaver 2“ von Möbius als „Erlöser und Zerstörer, Bauer und Messias“ empfangen. Verteilt man diese Begriffspaare auf die beiden Hauptfiguren, ergeben sich variierende, fast willkürlich scheinende Zuteilungen. Nach einer fatalen Kollision mit Kain in „Defiance“ offenbart ihm Möbius die Sinnlosigkeit seiner Entscheidungsfreiheit im Hinblick auf seinen bisherigen Weg: Egal, für welche Figur der Prophezeiung sich Raziel hielt, der von Elder God vorherbestimmte Endpunkt seines Weges, ob nun als vermeintlicher Hylde, Vampir oder Spektralwesen, war doch immer derselbe. Seine Rollenwahl war zwar an sich frei, doch die minimale Diskrepanz zwischen nicht-absolutem Wissen (ob sich der erneute Krieg mit den Hylden nicht doch vermeiden lässt) und schicksalhafter Faktizität (das apodiktische Eintreten des vorherbestimmten Kampfes zwischen Hylden und Vampiren) reichte nicht aus, um diese Freiheit zu entmarginalisieren. Die Sinnlosigkeit der überwiegend emotionalen Affekthandlungen spiegelt sich in der Ambiguität der oben genannten Begriffszuordnungen wider. Diese Ambivalenz innerhalb der Erzählstrategie wird auch auf andere Figuren der Saga übertragen: Selbst Elder God kann nicht, wie es sein Auftreten in „Soul Reaver 1“ noch vermuten lässt, als eindeutig göttlich (sprich: von den Lebenden unabhängig) klassifiziert werden, da er sich vielmehr - analog zu den bluttrinkenden Vampiren - als ein von Seelen lebender Parasit zu erkennen gibt, der den ersten Krieg der Vampire mit den Hylden aus eigenem Interesse provozierte. Aber gerade diese begriffliche Ambivalenz entfaltet und vor allem manifestiert sich erst im Spiel (mit) der Zeit, wobei Kain und Raziel innerhalb der ihnen von Möbius zugedachten „Möbiusschleife“ verbleiben, die der Zeitstromlenker als Symbol trägt. 16 Vernunft und die damit innerhalb der Saga verbundene kausale Stabilität überwinden zwar vordergründig die an ihnen gespiegelte, destruktiv wirkende Emotionalität, fördern allerdings ohne dieses letzte Element keine finalen Überwindungsprozesse, wie an Kain in Bezug auf das Finale von „Defiance“ noch zu belegen sein wird. Der Rollentausch der beiden Protagonisten findet in „Defiance“ seinen symbolischen Höhepunkt, als Kain und Raziel in einer unheiligen Kathedrale erneut aufeinander treffen. Diese Konfrontation läuft zwar auf eine genretypische Fokussierung auf ein Duell zwischen zwei mittlerweile ebenbürtigen Kontrahenten hinaus, doch kann in dieser Passage der Handlung nicht entschieden werden, wer der Vertreter welcher Partei ist: Raziel als Vertreter der ebenfalls tyrannischen Hylden? Kain als Erlöser der Vampire oder Nosgoths?

Dieser Kampf stellt das markanteste Vexierspiel innerhalb der Signifikationsprozesse der Saga dar: Denn der vermeintliche Kampf der rücksichtslos agierenden „Helden“ könnte ebenso das Aufeinandertreffen zwischen Kain und dem Hyldenlord in „Blood Omen 2“ sein – wenn er es nicht sogar aufgrund der eindeutigen Rassendifferenz sein muss. Die latente Konfliktkonstellation, wer von beiden welche Rolle einnimmt oder welche Rolle Raziel überhaupt einnehmen kann, wird stets komplexer gefasst und bewegt sich in gewisser Weise zwischen dem Bereich der Metonymie und der Metapher, wie ihn etwa Jacques Lacan beschrieben hat. Denn die Uneindeutigkeit innerhalb der Frage nach einer eindeutigen Position der Figuren bleibt stets innerhalb eines wechselhaften Spannungsverhältnisses auf der gesamten Narrationsebene präsent: Raziel will sich zwar jeder Zuschreibung weitestgehend entziehen, „begeh(r)t“ aber dennoch den Pfad, der ihn zu Kain führen muss. Auf einer abstrakteren Ebene kann man somit zu dem Ergebnis kommen, dass ein Signifikant stets einen anderen zu ersetzen sucht, obgleich damit nicht das für die jeweilige Figur basale, also handlungsleitende Signifikat (und damit vor allem das unbewusste Begehren der Figuren) revidiert oder gänzlich negiert werden könnte. 17

Der Kampf in „Defiance“ signalisiert diese latenten Verschiebungen innerhalb der Figurenkonstellation, nimmt er doch gleichzeitig die Unausweichlichkeit der finalen Klimax vorweg: Der Schüler Raziel, der dieses Duell für sich entscheidet, musste zwar seinen Lehrer Kain überwinden, aber damit schließt er weder seinen Reifungsprozess endgültig ab (da er ohne Kain nicht gegen Elder God bestehen kann) noch legt er die grausamen Lehren seiner ehemaligen Meister vollends ab. Der Kampf, der unter dem Diktat der Hylden steht und damit erneut nicht „frei“ verläuft, markiert nur eine physische Überwindung Kains, nicht eine mentale oder intellektuelle. Mit anderen Worten: Raziel und Kain bleiben, wie es sich bereits in ihren zahlreichen, meist dialogisch ausgetragenen Duellen zuvor andeutete, jeweils komplementär unvollständig, gleichen sich allerdings tendenziell aneinander an. Denn bezeichnenderweise wird Raziel, je mehr er sich gegen Kain auflehnt, zunehmend zu seinem ebenso skrupellosen Gegenstück.

3. Der emotionale Wille zur Rache

So verbleibt Raziel trotz seiner Erfahrungen in einem von Kains Lehren definierten Handlungsrahmen. Diese Entwicklung offenbart das Verführungspotenzial von Macht, dem Kain bereits vor langer Zeit unterlag, als er den Vampirismus letztlich doch als göttliche Gabe angenommen hat. Friedrich Nietzsche thematisiert diesen für die Saga bedeutungstragenden Umstand in einem Aphorismus aus „Jenseits von Gut und Böse“:„Das Lernen verwandelt uns, es thut Das, was alle Ernährung thut, die auch nicht bloss 'erhält'(...) Aber im Grunde von uns, ganz 'da unten', giebt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen.“ 18

Dieses Unbelehrbare und letztlich nicht exakt zu Definierende ist tief in den archaischen Strukturen der übrigen Figuren verwurzelt, da sie – außer partiell Kain und Raziel – nicht in der Lage sind, sich von besagtem „Granit“ zu lösen und ausschließlich der Prädestination einer ihnen zugedachten Rolle folgen. Diese Charakteristik verweist auf das in der Serie allgegenwärtige Spannungsverhältnis zwischen vermeintlicher Rationalität und archaischer Gewalt, das sich durch Einsicht nicht vollkommen auflösen lässt. Anders formuliert: Selbst ein einsichtiger Kain/Raziel kann sich nicht völlig seiner Natur entziehen. Dies ist in „Legacy of Kain“ kein „Vorrecht“ der physisch fantastischen [???], sondern jedem Wesen als inhärent veranlagter Archaismus gegeben, der im Zusammenspiel mit der radikalen Kultur Nosgoths das von Nietzsche angeführte „geistige Fatum“ umschreibt, dem sich selbst dissoziierte Individuen (wie am Ende der Saga Kain und Raziel) nicht gänzlich entziehen können: Der menschliche Kain sinnt beispielsweise ebenso nach Rache an seinen Mördern wie die menschlichen Bewohner Nosgoths nach der Ermordung ihres Königs William durch Kain. Der diesem Kulturverständnis innewohnende Pfad einer Abfolge von Gewalt als instrumentaler Bestandteil von kausal aufeinanderfolgenden Racheakten wird nicht verlassen. Fügt man der Komplementärfunktion von Kain und Raziel nun diesen weiteren, auch heute noch medial ausladend thematisierten Topos der Rache 19 hinzu, erweitert sich die interpretatorische Dimension der Saga um ein historisch stets präsentes sowie kulturell vielfältiges Motiv, das eine weitere Abstraktionsstufe eröffnet. Ein potenziell relevanter Aspekt von Rache ist nämlich nicht nur ihre jeweilige (gesellschaftlich geächtete) Initialisierung, sondern ihr struktureller Hang zur Abbildung von antagonistischen Abhängigkeits- und Ähnlichkeitsverhältnissen, wie wir sie bereits an Kain und seinem „Erben“ Raziel kennen gelernt haben:„Das Prinzip der Rache ist ökonomisch: es beinhaltet ein Gesetz der Gabe und Gegen-Gabe. Die Rache eröffnet einen Kreislauf der Aktionen und Reaktionen, in der jede Gabe auf eine andere Gabe antwortet [...]. Die Ökonomie der Rache und die damit korrespondierende Logik der Nachfolge und Nachahmung wird kein Ende nehmen.“ 20

Was Oliver Kohns hier auf die Rachethematik in Quentin Tarantinos „Kill Bill“ und die in diesem Film angedeutete Unabschließbarkeit der Rache projiziert, gilt ebenso für „Legacy of Kain“. Die Unsterblichen töten sich zwar mehrmals gegenseitig, doch sowohl die Intrigen von Möbius und dessen Herrn Elder God als auch die Interventionen durch die Vampire Janos und Vorador halten den faktischen Abschluss von Raziels Rache über weite Strecken offen. So tötet er zwar in bester Motivtradition seine verfeindeten Vampirbrüder, aber dies rüstet ihn – gemäß dem für Games nahezu konstitutiven Prinzip der „retardierenden“ Hürden – erst mit den Fähigkeiten aus, um sich Kain überhaupt stellen zu können. Dennoch kann auch den Brüdern ein symbolischer und sujethafter 21 Wert zugedacht werden, denn sie haben über die Jahrhunderte körperlich bizarre „Unnaturen“ entwickelt, die ihr Tod in den natürlichen Kreislauf zurückführt; zugleich stellt dies die semantische Grenzüberschreitung zwischen Leben und Tod aus. Raziel versetzt sich mit der grenzüberschreitenden Überwindung seiner familiären Lebenswelt erst in die Position des solitären Rächers, der seine bisherige Sozialisation – aber nicht die ihm implementierten Gesetze der Rache - vollständig hinter sich lassen kann und dem folglich allein das Recht des stärksten Zöglings zukommt, gegen Kain anzutreten. Vor der Frage nach der weiteren Sinnhaftigkeit seines Feldzugs muss zunächst erörtert werden, wodurch Rache innerhalb der Saga eigentlich ausgelöst wird. Oberflächlich betrachtet provoziert Kain Raziels Feldzug gegen ihn durch seinen Neid auf dessen „darwinistische Überlegenheit“, da Raziel, obwohl wesentlich jünger als sein Erzeuger Kain, vor diesem die nächste Evolutionsstufe des Vampirismus erreicht hatte. Das damit verbundene Abreißen der Flügel ist nur Kains Methode, um Raziel als einen für seinen Plan nötigen „gefallenen Engel“ zu instrumentalisieren, da er offenbar in ihm eine weitere Figur der Prophezeiung erkennt. Abgesehen davon, dass diese Rache folglich in ihrer Konsistenz mehr und mehr bröckelt, lässt sich dennoch mehr aus ihr ableiten: Rache ist innerhalb von „Legacy of Kain“ kein rein emotionaler Akt, sondern bis auf wenige Ausnahmen stets auf die Erweiterung oder Verteidigung von Machtinteressen angelegt. Rache ist, so betrachtet, ein Instrument zur machtpolitischen Einflussnahme, wie es beispielsweise Möbius vorführt, der den Hass der Menschen auf die Vampire provoziert und kanalisiert. Alle rein affektgeleiteten Rachehandlungen, basierend etwa auf verletztem Ehrgefühl bzw. dem damit verbundenen Verlust von öffentlichem Ansehen, werden innerhalb der Serie nur peripher abgehandelt oder als Baustein innerhalb eines (für andere Rachegeschichten wie „Kill Bill“) charakteristischen Destruktionsprozesses von nicht stabilen Ordnungssystemen („Vampirfamilie“) funktionalisiert, während das Machtstreben der wichtigsten Akteure für die ganze Serie prägend bleibt. Klassische Familienstrukturen, welche die Figuren schematisch in entsprechende Genealogien und Dispositionen versetzen könnten, treten folglich nicht bzw. nicht dauerhaft in Erscheinung. Dies mag zum einen an der dämonischen Natur der meisten Figuren liegen, doch würde eine solche Erklärung, obwohl mit den meisten konventionalisierten Bearbeitungen des Vampirstoffes vereinbar, allein wohl zu kurz greifen. Der Familienmangel ist vielmehr der Erzählstrategie geschuldet, die dadurch sowohl eine Sympathielenkung des Rezipienten mit den überwiegend grausam agierenden Charakteren verhindert als auch diese von einer gesellschaftlich bindenden Sozialisation ausschließt. Will man diese Konstellation noch weiter zuspitzen und mit einem gängigen Motiv des literarischen Realismus verknüpfen, so stellt der thematisierte Familienmangel die Unfähigkeit zur dauerhaften Fortpflanzung der Vampire dar, die am bisherigen Endpunkt der Saga tatsächlich in Kain ihren letzten Vertreter finden. Gepaart mit einem Rekurs auf Heidegger: Der hinausgeschobene Tod ist auch deshalb ohne Sinn, weil die Untoten ihre Lebenslinie nicht uneingeschränkt weiterführen können. Gerade die durch die Zeit reisenden Kain und Raziel unterlaufen durch ihr Spiel mit der Zeit nicht nur eine sozialisierende Familienordnung 22 , vielmehr müssen sie sich dadurch fast notwendigerweise jeder anderen Ordnungs- oder Normierungsmacht ebenfalls entziehen, da sie ihren Rollenprofilen als isolierte Erlöserfiguren zuwiderliefe. 23

Raziel jagt zu Beginn der Rückkehr in den Zustand vor seiner Verbannung nach, obwohl er im Verlauf seines Weges zunehmend entdecken muss, dass er dies aufgrund seiner grausamen Vergangenheit gar nicht (mehr) will. Abgesehen von der Unwiederbringlichkeit von Raziels menschlicher Existenz – an die er sich nicht mehr erinnern kann und der er im direkten Duell mit seinem früheren Ich bewusst abschwört - oder seinem darauf folgenden Leben als Vampir, das er im Nachhinein ebenso verachtet, zeigt „Defiance“ die Folgen für Raziel selbst auf, indem sein Körper vom Schwert absorbiert wird und Kain so mit der Waffe ausstattet, die Elder God und den Hylden schaden kann. Wenn Raziel für den Verlust dessen, was er nicht vermisst, nämlich seine menschliche und vampirische Existenzform, Rache nehmen will und im Verlauf seiner Reise den Sinn hinter Kains Tat erkennt, wird das Motiv der Rache zunehmend unterlaufen bis es am Ende von „Defiance“ geradezu implodiert. Was kann uns dieses Ergebnis über Rache verraten? Greift man aus der überwiegenden Anzahl der medialen Racheverarbeitungen die These heraus, wonach Rache stets die Sehnsucht des Rächers nach einem irreversiblen Vergangenheitszustand (die Irreversibilität des Todes) darstellt, kann dies für Kain und Raziel gar nicht gelten. Damit steht die hier vertretene Interpretation im Einklang mit einer partiellen Abweichung gegenüber gängigen Rachegeschichten. Und dennoch bleibt der solide Konstruktionsplan aktiv in die narrative wie metaphorische Struktur eingebunden, denn: Rache evoziert letztlich immer eine Handlung. Rache ist das für „Legacy of Kain“ narrativ katalysatorische Prinzip, also die Erzählstrategie, die nahezu alle Figuren in den Gesamtrahmen der Saga einbezieht und sie bis zum finalen Akt in ebendiese einbindet. Übertragen auf das Medium Game lässt sich die These formulieren, dass Rache damit besonders attraktiv für das „Aktionsmedium“ Game ist. Handlungen werden nicht als unterkomplexer und narrativ belangloser Selbstzweck kreiert, deren Erfüllung nur die Trennlinie zwischen Gewinner und Verlierer markiert, wie es beispielsweise bei den meisten Vertretern des „Beat´em up“-Genres (z.B. der „Tekken“-Serie) der Fall ist. Sie werden aufgrund der leicht verständlichen und in nahezu jedem Kulturkreis auftauchenden Erzähltradition in eine symbolische Ordnung eingebettet, die sich dennoch flexibel genug erweist, kulturelle Spezifizierungspotenziale (Was provoziert Rache?) zu berücksichtigen. Besonders in „Legacy of Kain“ zeigt sich Rache als ein Motiv zwischen der Freiheit der potenziellen Aktualisierung und der Unfreiheit der Form, das heißt die hier unauflösbare Konstruktion der Rache fordert nicht mehr durch eine bewältigte Situation (z.B. Raziels Brüder) ihren Tribut, schließt jedoch keine weiteren Racheakte aus, wie sie etwa der Hyldenlord nach seiner Niederlage gegen Kain in „Blood Omen 2“ ankündigt. Ebenso bleibt Elder God, der aufgrund seiner Omnipräsenz den formalen und fatalen Kreislauf der Rache schlechthin verkörpert, als ihr strukturierender Katalysator bestehen.

4. Ars moriendi in interaktiven Medien

Das Sterben der Hauptfiguren verweist zusätzlich auf einen vielfach diskutierten medienspezifischen Aspekt von Games: die Symbolhaftigkeit einer ars moriendi in interaktiven Medien. 24 Ohne auf die symbolische Qualität des Bildschirmtodes einer Avatar-Spielfigur generell ausführlich eingehen zu wollen, genügt für den Fokus dieser Arbeit die These, dass der Tod als symbolische Handlung in „Legacy of Kain“ auf mehreren Ebenen narrativ fruchtbar funktionalisiert wird: Raziel stirbt nach dem vollständigen Verlust seiner Seelenenergie nicht; er wird stattdessen in die Spektralwelt, in der die Seelen der Toten wandeln, teleportiert und kann von dort aus gestärkt wieder in die reale Welt zurückkehren. Dieser Prozess ist hier sogar oftmals narrativ und ludisch notwendig, um innerhalb der Handlung voranzukommen und bestimmte Rätsel zu lösen. Der Spieler wird Zeuge einer fantastischen Grenzüberschreitung, die sich durch die mediale Qualität von Games darstellen lässt und letztlich das Spielerlebnis dadurch sogar steigern kann, ohne die fast obligatorisch starke Emotionalisierung des Todes als einmaliges (Verlust)Erlebnis in zahlreichen Filmen übernehmen zu müssen: Die Normalisierung und eine damit fast strukturell verbundene Entemotionalisierung des Todes durch den medientypischen Wiederholungseffekt des Games. Genau dies be- und erzeugt - aus der extradiegetischen Perspektive des Spielers - den fantastischen und damit per se unrealistischen Charakter des Todes in „Legacy of Kain“ sowie innerhalb des Mediums generell. Natürlich kann auch der fantastische (Bewusstseins- oder Traum-)Film diese Grenzüberschreitung „unemotional“ vollziehen, doch der potenzielle Wiederholungseffekt ist nur für Games konstitutiv, die ein „unendliches“ Sterben an beliebigen Stellen einer Spielhandlung zulassen und dies dennoch narrativ motivieren können. Kurz gefasst: Wo ein Film „extradiegetisch“ in seiner Chronologie wie ein Zeitstrahl fortlaufen muss, kann der Spieler eines Videospiels in vielen Fällen im wahrsten Sinne des Wortes an einer Stelle verweilen und diese erkunden und „erproben“. Die narrative Symbolhaftigkeit der Unsterblichkeit findet sich also auch in der ludischen Umsetzung von „Legacy of Kain“ wieder, obgleich dies selbst in Games desselben fantastischen Genres missachtet wird. 25 Der Tod als narratives Element erhebt dadurch keinen Emotionalisierungsanspruch, da Raziels Ableben weder narrativ dramatisiert wird noch inhaltlich schwerwiegende Folgen nach sich zieht. Dass keine der Figuren als Sympathieträger etabliert wird und der Spieler weder das Ableben von Möbius noch anderer Figuren aus dem Repertoire der Serie bedauert (außer Kains „Fast-Geliebte“ Umah aus „Blood Omen 2“, deren selbstgerechte Ermordung durch Kain mehrfach emotional aufgeladen wird), passt letztlich in das Gesamtbild der Todessemantik innerhalb der archaischen und grausam barocken Ständewelt Nosgoths. Die Figuren, und das scheint mir ein markanter Unterschied zu den meisten anderen fantastischen Figuren in vergleichbaren Games zu sein, sind nicht nur als Videospielfiguren, deren Leben sich auf der Memory Card absichern lässt, entemotionalisiert. Sie sind dies gerade durch die Codierung ihres Todes zwischen Existenz und Transzendenz innerhalb der Handlung und der darauf ausgerichteten Präsentation der Serie. 26

Damit suspendiert der Erzählmodus in Verbindung mit der Figuration jede Art des „Mitleidens“ 27, wie sie unter anderem in Lessings „Hamburger Dramaturgie“ theoretisch fundiert und als wichtiger Schritt hin zu heute medial gängigen Individualitätsentwürfen konzeptualisiert wurde. Man könnte sogar so weit gehen, dass Raziel durch seine Entwicklung, die über „mehrere Tode“ hinausgeht, einem weiteren Diskurs, wie er in dieser Zeit seinen Ausgangspunkt nahm, entspricht: der Idee einer unendlichen Perfektibilität des Individuums über den Tod hinaus. Der Theologe Johann Joachim Spalding sah darin sogar die Möglichkeit einer Versöhnung mit dem Tode, „ohne das Leben abzuqualifizieren.“28 Bezeichnenderweise ist Raziel, der ansatzweise als positive Identifikationsfigur akzeptiert werden kann, die Figur der Saga, die über weite Strecken der Handlung mit allen handlungsrelevanten Charakteren der Serie konfrontiert wird und so – in zahlreichen inneren Monologen - als gleichwertige Reflexionsfigur zu Kain etabliert wird. Kurz vor dem Abschluss von „Defiance“ beugt sich Raziel endgültig seinem notwendigen Schicksal als Komplementärfigur des ihm nun als Gefängnis dienenden Schwertes.

5. Ein Vampir mit Herz oder: Individualität und (Medien)Systeme

Was ist aber für die Sinnlosigkeit der einzelnen Handlungen verantwortlich? Ich plädiere dafür, erneut den Umgang mit Zeit innerhalb von „Legacy of Kain“ in dieser Frage heranzuziehen und sie in eine Dichotomie aus negativer Emotionalität und kausaler Logik einzugliedern. Dadurch, dass Kain und Raziel durch die Zeit reisen, sich permanent begegnen und dennoch nur den Hylden oder Elder God in die Hände spielen, wird zeitliche Kausalität als Weg von einem fixierten Ausgangspunkt zu einem eindeutig definierten Ziel negiert und folglich in ihren Erzeugnissen geradezu austauschbar. Geschichte, im Sinne einer retrospektiv analysierbaren und statischen Formation, kann somit „retardiert“, jedoch nicht als diskursiver Machtapparat gänzlich umgangen werden. Das Leitmotiv von „Soul Reaver 2“ verdeutlicht diese Entwicklung:„Die Geschichte verabscheut ein Paradox.“

Die latente Spiegelung der beiden Hauptfiguren, welche schlussendlich die zahlreichen anderen Spiegelverhältnisse der Serie final zuspitzt, findet also symbolisch im Schlussakt von „Defiance“ ihren vereinigenden Höhepunkt. Die im Zuge dieses langwierigen Prozesses permanent vorgetragene Übermacht des Schwertes und die Art der Einverleibung mit Raziel, der vom Schwert - analog zur Todesszene mit seinem eigenen Ich - durchbohrt wird, implizieren erneut eine phallische Deutung, die nur eine Vereinigung des mächtigsten Kriegers (also Kain als potenzieller Erlöser Nosgoths, der das nun komplettierte Schwert führt) mit der mächtigsten Kraft (die Spektralmacht Raziels) nach sich ziehen kann, um sowohl der gängigen, männlich orientierten Genrekonvention des fantastischen Actionhelden als auch dem Topos der Vereinigung, wie sie im Sexualakt sinnbildlich vollzogen wird, gerecht zu werden. Vereinigung und Überwindung sind innerhalb dieses psychoanalytischen Deutungsmusters eng an die Imagination eines sexuellen Aktes gekoppelt, wie er - ohne auf Foucaults These der subjektkonstituierenden Funktion von Sexualität 29 detailliert eingehen zu wollen - gerade an entscheidenden Wendepunkten der Handlung symbolisch vollzogen wird. Die Macht von Kain und Raziel, symbolische Hürden wie die Zeit formal zu überwinden, substituiert ihre sexuelle Unfähigkeit, die mit ihrem Status als Vampir/Spektralwesen einhergeht. Dieser Aufhebungs- oder vielmehr Überwindungsprozess zwischen Leben und Tod, vermittelt über eine Sexualitätssymbolik 30, war bereits durch die Affektpolitik der beiden Figuren von Beginn an festgeschrieben. Die extremen Gegenpole (wie sie sich auch parallel zu den Figuren in Raziels Spektralklinge und dem materiellen Gegenstück von Kain widerspiegeln) müssen sich zunehmend annähern, um in der Vereinigung gegen ihre gemeinsamen Feinde bestehen zu können. Damit wird die symbolisch starre Dichotomie der Figuren- und Handlungsstrukturen in „Legacy of Kain“ nicht nur etabliert und folglich festgeschrieben, sondern entwickelt daraus erst ihre narrative Funktion vom Prozess bis zum Akt der Vereinigung in „Defiance“. In anderen Worten: Die der physischen Sexualität enthobenen Figuren Kain und Raziel können sich so betrachtet nicht gänzlich den symbolischen Normierungsmustern von Sexualität entziehen. Nimmt man die Vereinigung der gegensätzlichen Pole ernst, ergeben sich zahlreiche Assoziationsketten zu klassischen Beispielen aus der Kulturgeschichte, in der die Vereinigung zweier zumeist gegensätzlicher Prinzipien erst eine Art „Bildungseffekt“ evoziert. Ein Beispiel: Hannah Arendts berühmtes „Theorem“ einer (politischen) Verbindung von vita activa und vita contemplativa 31 lässt sich abstrakt auf Kain und Raziel übertragen: Ersterer agiert vorausschauend und ist mit dem Wissen der „äußeren“ Zusammenhänge der Geschichte Nosgoths vertraut, während Raziel über weite Strecken impulsiv handelt und noch überwiegend von Affekten geleitet wird. Dieser paradigmatische Topos der Vereinigung von Antagonismen deckt in Verbindung mit der Thematik der Rache ein weiteres kulturgeschichtliches Thema hinter Raziels Reise durch Nosgoth auf: Raziel, dem kurz zuvor die Hüterin des Gleichgewichts in ihrer geläuterten Form erscheint, gewinnt die abschließende Einsicht über die Notwendigkeit seiner Selbstopferung erst über seine bis zu diesem Zeitpunkt ausgebildete Medienkompetenz, die er sich - analog zur Rezipientenperspektive - über die zahlreichen semiotischen Zeichenträger innerhalb der Saga erwirbt. 32 Wie kann man nun die in „Legacy of Kain“ vorkommenden Medien und Zeichenprozesse als Katalysatoren oder gar als fundamentale Voraussetzung für die Individualisierung der Hauptfiguren deuten, ohne die der finale Vereinigungsprozess von Kain und Raziel nicht zustande kommen könnte? Divergierenden Medienformen und Medienbegriffen (besonders Schrift und Bild) kommen in literaturtheoretischen Arbeiten zum Thema Subjektivität und den damit verbundenen geschichtlichen und soziologischen Entwicklungen seit Beginn des 18. Jahrhunderts eine eminent wichtige Bedeutung zu. 33 Obwohl diese theoretisch vielfältigen Diskussionen in ihrer Komplexität hier nicht einmal annähernd skizziert werden können und im Gesamtzusammenhang dieser Ausführungen nicht überstrapaziert werden sollten, bleibt dennoch festzuhalten, dass eines der wesentlichen Ergebnisse dieser Forschungsdiskussion, nämlich die Feststellung, dass Literatur (speziell unter Berücksichtigung der strukturellen Koppelung von Bewusstsein und Kommunikation nach Luhmann) bzw. der Leseprozess neben der bildenden Kunst zum Medium von Subjektivität schlechthin wird 34, im Einklang mit den Individualisierungsprozessen von Kain und Raziel steht. Raziels Weg zum Individuum vollzieht sich nach seinem Wiedererwachen primär über seine interpretatorische (Eigen)Leistung in Bezug auf „erzählende“ Aufschreibesysteme 35 , deren Quantität analog zu ihrer inhaltlichen Komplexität im Verlauf seiner Reise zunimmt. Kittlers Analyse von „Aufschreibesystemen“ als Speichermedium kulturspezifischer Daten (hier überwiegend die Historienmalerei über Nosgoth und die Prophezeiung) ist für die Saga aufgrund der mit diesem Ansatz verbundenen Diskursivität von Medieninhalten in Bezug auf Meinungsmacht interessant, weil Raziel stets mit inhaltlich konkurrierenden Informationsangeboten konfrontiert wird, die er - analog zu Kains Interpretationsprozessen in seinen zahlreichen inneren Monologen - nur über eine effektive Medienkompetenz sondieren und entsprechend seiner bisherigen Erfahrungen einordnen kann. 36 Die Medieninformation verläuft in strenger Analogie zum Erzählmodus, da Raziel und Kain nicht mit aufeinander stringent aufbauenden Informationen versorgt werden, sondern die einzelnen Indizien der Prophezeiung vielmehr detektivisch zusammenfügen müssen. Was also (im systemtheoretischen Vokabular) Mitteilung oder Information ist, muss ebenso archäologisch erkundet werden wie die jeweiligen Zeitebenen und deren ludische Handlungsräume.

Die verbindende These wäre nun, dass die archaische und einem weitgehend unflexiblen Konstruktionsplan aus Aktion und Reaktion unterliegende Rache zwar als Initiationsakt für Raziels Reise notwendig war, allerdings zunehmend seiner kulturellen, (medial) wahrnehmenden und individuellen Ausbildung weichen muss, die ihn letztlich dazu befähigt, sich mit seinem Äquivalent Kain wieder zu vereinen. Im Moment der besagten Vereinigung weicht jegliche Aggressivität aus den beiden Kontrahenten, was als weiteres Indiz für die Eindämmung ihrer Selbstbezogenheit angesehen werden kann und eine sexuelle Konnotation ihres Vereinigungsprozesses unterstützt. In diesem Zusammenhang erwähnenswert sind die sich schon zuvor abzeichnenden „Normalisierungsphasen“ 37 zwischen Kain und Raziel, wie sie nicht nur in ihrem letzten Aufeinandertreffen konstatierbar sind. Denn beide unterwerfen sich im Angesicht der direkten Konfrontation stets den Regularien eines Zweikampfes und versuchen beispielsweise nicht – anders als der Magier Möbius – einander zu betrügen. 38 Besonders bei Kain fällt noch ein weiterer Aspekt ins Gewicht: Er verfügt nicht mehr über ein Herz, da es ihm von Raziel während ihres letzten Kampfes „entfernt“ wurde. Wie lässt sich nun der Mangel des „subjektiven Übersymbols“ innerhalb der Kulturgeschichte in diese Argumentationslinie einbetten? Die Antwort liegt in der Charakteristik des Herzens, da es sich dabei um das sogenannte „Herz der Dunkelheit“ handelt, das - und dies stellt eine zusätzliche Pointe der Handlung dar - nicht Kain, sondern ursprünglich dem Urvampir Janos gehört. Damit wird klar: Kain verliert mit dem Herzen nur etwas, was er gar nicht benötigt, da er nach kurzem Delirium erneut erwacht. Auf einer abstrakteren Ebene vollzieht sich somit die endgültige Abkehr von Schöpferfiguren, denn das Herz wurde Kain im Zuge seiner Transformation zum Vampir implantiert und von Raziel wiederum als symbolischer Emanzipationsakt entrissen. Wenn Kain zu Beginn der Saga bei Raziel die Positionen des Lehrmeisters, Königs, aber eben auch des Vaters besetzte und damit stets nominell über ihn gestellt war, so hat diese Hierarchisierung in „Defiance“ keinen Bestand mehr. Nur so kann er mit Kain bzw. dem Schwert eine symbolische Einheit bilden. Sein Schicksal ist das Opfer des Erlösers, welches Kain, wie dieser in seinem letzten Monolog in „Defiance“ explizit darlegt, mit Hoffnung erfüllt. Bezieht man die etymologische Dimension des Wortes Individuum 39 in diesen Prozess mit ein, kann nach „Defiance“ folgendes Resümee gezogen werden: Das „Unteilbare“ wurde zwar symbolisch in Form des Schwertes durch Kain und Raziel geteilt, musste aber für den hier inszenierten Individualitätsprozess wieder vereint und somit ultimativ vollendet werden. Dies ist zwar keine Veränderung des „Vampirbildes“, doch sollte man sich diese Wende in ihrer inhaltlichen wie symbolischen Aussage präzise vor Augen führen: Kains Verständnis von Zeit und seinem Schicksal basierte bis zu diesem Zeitpunkt auf seiner Schicksalsergebenheit und einer dazu fast notwendigen Rationalität im Umgang mit den Kausalitätsgesetzen des Zeitstroms. Nun tritt an die Seite dieses Verständnisses ein rein subjektives Gefühl, welchem eine emphatisch-religiöse Affinität zugeschrieben wird. Da er dies nun selbst - wenn auch mit einem gewissen Maß an Skepsis - als Gabe Raziels anpreist und seine rein narzisstisch verklärte Gottesperspektive weitgehend zu suspendieren scheint, lässt sich mit diesem Abschluss von „Defiance“ ein möglicher Umschlagpunkt für Kains Charakterentwicklung erahnen. Die normierende Tragweite dieser Entwicklung kann durch einen Rückgriff auf „Blood Omen 2“ noch weiter präzisiert werden, wenn man sich an die bereits erwähnte Umah erinnert. Denn sie wurde als potenzielle, positiv konnotierte Geliebte Kains eingeführt, deren (sexueller) Attraktivität sich Kain auf grausame Weise aufgrund ihres Verrates an ihm entzieht, ohne die wahren Motive ihrer Tat verifiziert oder gar hinterfragt zu haben. Die interpretatorische Konsequenz aus diesem Befund: Dem Gefühl der Liebe entzog sich Kain; dem Gefühl der Hoffnung durch seine religiöse Heilfigur Raziel hingegen nicht. Damit wird die religiöse Semantik aber nicht nur als klimaktische Erzählpointe ausgewiesen. Denn trotz aller philosophischer Bezüge ist „Legacy of Kain“ tendenziell mehr religiös denn philosophisch und exponiert mit seinem Gotteskrieger Raziel auf der narrativen Oberfläche eine kritische Haltung gegenüber religiösen Institutionen (Orden der Sarafanpriester) und falschen Göttern (Elder God); unter dieser Oberfläche wird mit Kains Hoffnung jedoch der Glaube an Religiosität affirmativ gefördert, da nur so der Kreis der Geschichte zu durchbrechen zu sein scheint. Aber wie lässt sich eine solch religiöse Deutung mit Kains explizit geäußerten Zweifeln in dieser Szene vereinbaren? Die Zweifel Kains belegen sein nun gesteigertes Reflexionspotenzial, das heißt sein „aufgeklärtes“ Nachdenken über zuvor nicht von ihm hinterfragte Handlungen, wie er sie noch in seiner exzessiv ausgelebten Ignoranz innerhalb der Ereignisse von „Blood Omen 2“ (selbst gegenüber seinen Verbündeten wie Umah) genoss. Kain ist nach „Defiance“ gerade deshalb ein Individuum, weil er einerseits Gefühle wie Hoffnung überhaupt zulässt, andererseits aber in der Lage ist, diese aufkeimenden Gefühlsenergien 40 zu reflektieren. Das Subjekt Kain – und damit wird erneut ein Topos der „aufgeklärten“ Literatur des 18. Jahrhunderts aufgerufen – brauchte seinen Messias Raziel, um sich ideell, abseits der konkreten Kampfhandlungen mit den Sarafanen oder Elder God, an die Stelle Gottes setzen zu können. Eine moralische Katharsis Kains erscheint trotz alledem eher zweifelhaft.

Treibt man die Kohärenzmuster in einem letzten Schritt weiter in die Richtung einer Einbettung der Charaktere in kulturgeschichtliche und diskursive Semantisierungsprozesse, kann selbst die Konfliktlinie zwischen Individuum und Gesellschaft mit der Figurenentwicklung von Kain und Raziel gekoppelt werden. Luhmanns soziologisches Konzept der historischen Entwicklung von Individualität, wonach ab dem 18. Jahrhundert gesellschaftliche Systeme nicht mehr (primär) inkludierend, sondern exkludierend wirken und damit Individualität in spezifischen Funktionssystemen außerhalb eines stratifikatorischen Hierarchiesystems fördern, deckt sich weitgehend mit den hier extrapolierten Überlegungen. Denn wenn man dem zustimmt, was Luhmann über das Verhältnis von temporärer Emanzipation und einer damit verbundenen „Isolierung zur Reflexion“ 41 innerhalb seiner Überlegungen über Individualisierungsprozesse festgestellt hat, nämlich dass diese Prozesse zu einer Selbstdisziplinierung von Individuen (allerdings unter Einfluss der „erfundenen Kultur“ der jeweiligen Epoche) führen können, steht uns ein weiterer interpretatorischer Zugang bezüglich der Individualisierung von Kain und Raziel zur Verfügung. Die am Ende der narrativen Kreisbewegung der Saga stehenden Kain und Raziel mussten sich aus ihren „inkludierenden Systemen“ lösen, um in die Lage versetzt werden zu können, sich von der Gesellschaft Nosgoths zu lösen und außerhalb ihrer Beobachtung zu individualisieren. Besonders Kain agiert in „Blood Omen 1 und 2“ weitgehend im öffentlichen Raum, während sich seine Aktionen in den anderen Episoden im Verborgenen, damit jenseits der Beobachtung von Gesellschaft und somit außerhalb eines regulierenden Codes abspielen. Die Ermordung der Brüder durch Raziel impliziert in diesem Zusammenhang die endgültige Befreiung des „Vaters“ Kain aus dem Familienverbund der Vampire, die nach „Defiance“ weitgehend ausgelöscht sind. Radikalisiert und erweitert man diese Überlegung hinsichtlich der unterschiedlichen Gesellschaftsformen der Menschen, Hylden und Vampire, lässt sich die Transformation von einer Existenzform in eine andere als Ausbruch aus einem die jeweilige Figur begrenzenden System interpretieren. Das offensichtlichste Exponat dieser Konklusion ist Raziel: Er verweigert sich als „entkörpertes“ Spektralwesen einer konsistenten Körperform und entzieht sich dadurch einer gesellschaftlichen Machtausübung. 42

6. Die Destruktion der freien Kausalität durch Faktizität

Der Umgang mit Zeit wird nicht nur rein auf der inhaltlichen oder ludischen Ebene der Serie narrativ fruchtbar installiert. Bereits die Veröffentlichungsstrategie der Entwicklerfirma Crystal Dynamics in Kooperation mit Publisher Eidos provozierte erst einige der Fragen, die zahlreiche Fans der Serie selbst Jahre nach der Veröffentlichung der letzten Episode noch beschäftigten. 43 Die Vereinigung der parallel produzierten Serien „Soul Reaver 1 und 2“ sowie „Blood Omen 1 und 2“ durch „Defiance“ folgt keiner strengen inhaltlichen Chronologie und verlagert die interpretatorischen Problemfelder der fiktionalen Ebene bereits auf die Rezeptionsebene des Spielers. Am Ende von „Soul Reaver 2“ versucht Kain Raziel davon abzuhalten, den zuvor von den Sarafanen getöteten Janos erneut zu erwecken, da dies in direkter Relation zur Invasion der Hylden steht. Aufgrund der sehr zeitnahen Veröffentlichung von „Soul Reaver 2“ und (bald darauf) „Blood Omen 2“ ergeben sich bemerkenswerte Wissensvorsprünge für den Spieler vor „Defiance“, obwohl die Handlung von „Blood Omen 2“ chronologisch nicht in die Reihenfolge der Episoden passt, da die inhaltliche Lücke zwischen „Soul Reaver 2“ und „Defiance“ nicht durch „Blood Omen 2“ geschlossen wird. Was in diesem Teil geschieht, ist in Kains Erinnerung (in „Soul Reaver 2“) bereits von ihm erlebte Vergangenheit, aber eben eine Vergangenheit, die er von seinem aktuellen Standort im Zeitstrom als mögliche Zukunft verhindern möchte.

Was folgt daraus für diese Interpretation? „Blood Omen 2“ thematisiert genau jenen Konflikt um die kausale Verknüpfung, vor dem Kain zuvor Raziel gewarnt hat. Janos ist wieder am Leben und die Hylden regieren Nosgoth. Das heißt letztlich nichts anderes, als dass der Spieler, nimmt er das Ende von „Soul Reaver 2“ als Ausgangs- und „Blood Omen 2“ als Endpunkt, die Klammern der Geschichte kennt, ohne jedoch die kausale Verbindung zwischen den Ereignissen exakt nachvollziehen zu können. „Blood Omen 2“ zeigt Kains selbstherrlichen Kampf gegen die Hylden, doch weil in dieser Episode keine Zeitsprünge vollzogen werden, bleibt die Handlung so, wie sie situiert wurde; sie ist nicht aus der Rezeptionsperspektive destruierbar und wird ebenso wenig in einem gänzlich neuen Licht präsentiert, wie es vice versa „Defiance“ mit den Ereignissen von „Blood Omen 1“ vorführt. Kains Taten haben also unter dieser Voraussetzung nichts verändert, da er ja um seinen – aus seiner individuellen Perspektive – vergangenen Kampf gegen die Hylden weiß. Die Zukunft ist bereits geschrieben, aber der konkrete Ablauf verschleiert sich. Erst „Defiance“ klärt diesen weitgehend auf. Radikalisiert man diese Konstellation, so könnte man die These aufstellen, dass bereits die Verkaufsstrategie von „Soul Reaver 2“ und „Blood Omen 2“ auf der inhaltlichen Ebene der Spiele jede freie Entscheidung der Figuren unterläuft und ihre angeblich freien Handlungen als Aktionismus brandmarkt. Denn wenn die Ereignisse innerhalb von „Defiance“ eine Wende vollzogen hätten, wäre „Blood Omen 2“ inhaltlich komplett obsolet und letztlich innerhalb der Serie irrelevant geworden, da kein „inhaltliches Update“ zu diesem Teil der Serie erschienen ist. Interessanterweise findet sich eine ähnliche Situation bereits im ersten Teil der Saga, wenn Kain vor die Wahl gestellt wird, ob er sich für Nosgoth opfert oder nicht. Der Spieler hat nämlich die Möglichkeit, diese Entscheidung aktiv im Spiel zu treffen und damit jeweils ein entsprechendes Ending auszulösen. Entscheidet sich der Spieler für Kains Tod, ist „Legacy of Kain“ bereits nach „Blood Omen 1“ innerhalb einer narrativ stringenten Ebene beendet oder prägnanter: sinnlos im Sinne der Fortsetzungen, weil inhaltlich nicht anschlussfähig. Das heißt, dass ausschließlich die egoistische Entscheidung Kains als narratives Element der Serie bestand hat und sich in die Chronologie der Ereignisse einbetten lässt. Dieser Befund verweist nicht nur auf den potenziell trügerischen (Erzähl)Schein einer fantastischen Welt, wie er sich besonders eindringlich in den ambivalenten (von der jeweiligen Figurenperspektive abhängigen) Äußerungen über Janos widerspiegelt. Das in allen Medienformaten überwiegend angewandte Erzählkonzept “first questions, then answers“ wird mehrmals (re)kombiniert, ohne jedoch Kain oder Raziel in ihren jeweiligen Perspektiven einseitig zu bevorzugen. 44 Da speziell im Bereich Game zahlreiche Fortsetzungsserien kommerziellen sowie ästhetischen Erfolg für sich verbuchen können, ist es für eine fundierte Auseinandersetzung sinnvoll, auch Games als serielle und intertextuelle Werke zu analysieren, in denen (noch) überwiegend traditionelle Narrationsprofile medienspezifisch umgesetzt werden. 45

Es bleibt eine ungeklärte, stringenterweise paradoxe Frage bestehen, die innerhalb der Saga wohl „das Interpretationsereignis“ darstellt, weil sie genau das exemplifiziert, was Interpretation erst provoziert: Unklarheit bzw. Uneindeutigkeit: Der Vampir Vorador wurde in „Blood Omen 1“ von Möbius öffentlich hingerichtet, trotzdem erscheint er in „Blood Omen 2“ als der Anführer einer vampirischen Untergrundbewegung gegen den Hyldenlord. Da sowohl in diesem Spiel als auch „später“ in „Defiance“ keine Erklärung 46 für diesen Umstand gegeben wird, könnte auf der Basis des gesamten Erzählkonzeptes der Saga ein inhaltliches Fazit gezogen werden: Geschichte verabscheut zwar ein Paradox, kann jedoch nicht jedes vermeiden oder auflösen und gibt sich damit einer fast willkürlichen Beliebigkeit sowie Beeinflussbarkeit preis. 47 Kann Kain also doch den tyrannischen Sternen trotzen und dem Möbiusband seiner Geschichte entfliehen? Oder entwickelt sich seine Geschichte so, wie er in „Soul Reaver 1“ nebulös vorhersagt:„Die Ewigkeit ist grausam, Raziel [...]. Die Geschichte verspricht weitere Verflechtungen...bevor dieses Drama sich komplett auflöst.“

7. Unfreie Spielwelten im freien Medium?

Da die meisten für diesen Beitrag relevanten Aspekte im eingangs angeführten Zitat zusammenlaufen und das Verhältnis von Freiheit, Determinismus und Prädestination die ganze Serie prägt, soll zum Abschluss dieser Untersuchung die Diskussion einer medientheoretisch relevanten Fragestellung zumindest kurz angedeutet werden: Es handelt sich dabei um das „Freiheitsversprechen“ der (neuen) Medien. Denn wenn Raziel und Kain auf der narrativen Ebene von ihrer Unfreiheit geprägt werden und sich dieser Umstand sowohl im Erzählmodus als auch innerhalb der damit verbundenen technischen Umsetzung 48 feststellen lässt, ist besagte Medienfreiheit bereits in einer oberflächlichen Rezeption letztlich mehr fantastischer Wunsch als der verwirklichte Traum von Ausflügen in freie Spielwelten und virtuelle Repräsentationsmuster. 49 Ein Wunsch, den nicht nur die Industrie im Sinne eines verkaufsfördernden, medienumspannenden Mythos weiterhin aktiv zu schüren sucht und der sich im Bereich der Games unter dem Begriff „Free-Roaming“ 50 einer längeren Diskussionskultur erfreut. Diese Diskrepanz zwischen der interaktiven Freiheit des Mediums und einer gleichzeitig notwendigen Beschränkung ist eines der entscheidenden Spannungsverhältnisse in der Diskussion um reziproke ludologische Begriffe wie „ play“ und „game“ 51 , auf die hier nur hingewiesen werden kann. Schließt man sich etwa Thomas Anz und seiner Definition eines Spielbegriffs (der Postmoderne) an, wonach es sich dabei um die „lustvolle Befreiung von unlustvollen Zwängen“ 52 handelt, so muss man nicht nur dem Konfliktpotenzial innerhalb einer Anwendung tradierter Begrifflichkeit auf interaktive Medien Rechnung tragen 53, sondern sich generell der problematischen Frage nach einem einheitlichen Terminus für medienwissenschaftliche Analytik im Bereich der „Medienspiele“ bewusst sein. Denn eine eindeutige „Spieldefinition“ steht – so die Meinung von Dietmar Kemper – der einem Spiel immanenten Situationslogik per se entgegen, da diese gerade keine „eindeutigen Merkmale oder eindeutige Definitionen“ 54 zulasse. Aber wie sollten sich Games, die per definitionem letztlich bestimmte konsistente Regeln benötigen, um inhaltlich und technisch kontinuierlich 55 funktionieren zu können, narrativ sinnvoll von jeglicher Beschränkung lösen? Und wie sollte ein Unterhaltungsmedium als „Vermittler“ 56 überhaupt seine medialen (Unterhaltungs)Spuren hinterlassen, wenn es nicht einer Eingrenzung bzw. Ausgrenzung durch bestimmte Codes gehorchen müsste? Besonders narrativ motivierte Spiele bauen ihre intradiegetischen Hürden (Bsp. Rätsel in Adventure-Games) gezielt auf der Partizipation und Interaktion des Spielers auf, so dass sich diese Aufgaben am letztlich begrenzten Weltwissen des Spielers orientieren müssen, um für diesen lösbar und damit ludisch attraktiv bleiben zu können. Ultimative Freiheit müsste in diesem Zusammenhang, radikal formuliert, eine völlige Kontingenz nach sich ziehen. Kognitive Sinnproduktion und die damit verbundene selektive Übertragung von Bedeutung (innerhalb kultureller und damit differenzierender Muster) auf eine pragmatisch funktionale Spielwelt ist als Voraussetzung für Mediennutzung 57 nicht anders konkretisierbar als über mehr oder weniger rigide Spielregeln und vereinheitlichte, anschlussfähige Standards - besonders im Mainstreambereich. Der „Spielkontrakt“ zwischen Subjekt und Objekt, Spieler und Spiel 58 , Handlungsangebot und Rezeptionsperspektive erweist sich folglich nach wie vor als komplexes Feld avancierter Theoriebildung:„Klar ist, dass die Interaktivitätsbehauptung dem Medienspiel (formal wie inhaltlich) substanziell beigegeben ist. Das Spiel scheint (je nach Genre, technischer Möglichkeit und ästhetischer Gestaltung) seinen Partizipanten aktiv am Entstehungsprozess eines Textes, einer Narration, einer Struktur und vor allem eines Prozesses teilhaben zu lassen und gleichzeitig die explizite Einschreibung von Autorenhaftigkeit zu negieren.“ 59 Das damit angedeutete Verhältnis zwischen den Game-Entwicklern als Autoren und den Spielern als Co-Autoren zwischen Interaktion, Partizipation und - im spielerischen Idealfall - Immersion zieht sich thematisch durch die noch relativ jungen Game Studies und es bleibt abzuwarten, welche theoretische Präferenz sich in der Diskussion um „mediale Festbühnen“ 60 und das Primat ihrer Deutung eventuell durchsetzen kann.

Vielleicht bieten schon klassische Texte zum Thema Freiheit und Unfreiheit letztlich die basalen Ansätze. Vergleicht man die Avatare Kain und Raziel mit Marionetten, die nach des Spielers Gusto mit behäbigen Dämonenbeinen durch Nosgoth „tanzen“, entfaltet Heinrich von Kleists Universalmetapher „Über das Marionettentheater“ auch in diesem Kontext ihre transhistorische Relevanz:„Der Kreis ihrer Bewegung ist zwar eingeschränkt; doch diejenigen, die ihnen zu Gebote stehen, vollziehen sich mit einer Ruhe, Leichtigkeit und Anmut, die jedes denkende Gemüt in Erstaunen setzen.“ 61


Fußnoten

1 Das Motiv des Vampirismus setzt(e) seinen medialen Siegeszug auch im Bereich der Games fort, was neben zahlreichen anderen Vertretern die fast unüberschaubare Anzahl an Titeln der „Castlevania“-Serie (Konami) oder „Legacy of Kain“ dokumentieren. Zur Motivgeschichte siehe: Claude Lecouteux (2001): Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos. München: Artemis&Winkler, S. 9 - 39.

2 Die einzelnen Episoden der „Legacy of Kain“ - Serie sind nicht in einer inhaltlich chronologischen Reihenfolge erschienen. Die Reihenfolge ihrer Veröffentlichungen in Europa: „Blood Omen: Legacy of Kain“(1996; Silicon Knights), „Soul Reaver“(1999; Eidos/Crystal Dynamics), „Soul Reaver 2“(2001; Eidos/Crystal Dynamics), „Blood Omen 2“(2002; Eidos/Crystal Dynamics) und „Legacy of Kain: Defiance“(2004; Eidos/Crystal Dynamics). Die Serie erschien für mehrere Konsolenplattformen und für den PC. Screenshots und zahlreiche Details der Geschichte, die hier nicht dargestellt bzw. nacherzählt werden können, finden sich u.a. auf der offiziellen Homepage zu „Defiance“, einer (unter derselben URL zugänglichen) Fanseite zur Serie (www.legacyofkain.de) oder auf www.dark-chronicle.co.uk (letzter Aufruf: 24.11.2006).

3 Siehe dazu: Britta Neitzel und Rolf F. Nohr (2006): Das Spiel mit dem Medium. In: Ders. [Hg.]: Das Spiel mit dem Medium. Partizipation-Immersion-Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Marburg: Schüren (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft 14), S. 10 – 13. Oder: Jesper Juul (2005): half-real. Video Games between Real Rules and Fictional Worlds. Cambridge/London: MIT Press, S. 7 – 22.

4 Vgl. Britta Neitzel (2004): Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen. URL: http://e-pub.uni-weimar.de/volltexte/2004/72/ (letzter Aufruf: 11.2.2006).

5 Jacques Lacan entwickelte eine psychoanalytisch fundierte Theorie zur literarischen Gestaltung von Figuren, die zwischen zwei Toden „oszillieren“. Zwar soll diese Theorie in der vorliegenden Arbeit nicht näher überprüft, aber zumindest auf sie aufmerksam gemacht werden, da Lacans Ansatz (u.a. mit einem Rekurs auf Heidegger) auf die „vampirische Existenzsituation“ in „Legacy of Kain“ anwendbar ist. Siehe: Jacques Lacan (1996): Schriften I. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. 4. durchgesehene Auflage. Berlin: Quadriga, S. 131 – 169, sowie Ders. (1986): Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse. Berlin: Quadriga. Für diesen Hinweis sei Stephan Packard hiermit herzlich gedankt.

6 Oliver Jahraus (2004): Martin Heidegger. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam. S. 136 – 145.

7 Martin Heidegger (1983): Sein und Zeit. 15. durchgesehene Auflage. Tübingen: Niemeyer.

8 Oliver Jahraus (2004): Martin Heidegger. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam. S. 89.

9 Ebd., S. 90 – 91.

10 Der Unsterblichkeit kommt innerhalb der Serie noch eine weitere, explizit symbolische Bedeutung zu, da ewige Existenz die Vampire vom Rad des Schicksals, dem „reinigenden Zyklus“ des Lebens und des Todes, ausschließt. Elder God, der dieses allumfassende Fatum (laut eigener Aussage) verkörpert, wandte sich von den ihn anbetenden Vampiren ab und ernährte sich von deren Seelen, nachdem sich viele von ihnen aufgrund der Abkehr ihres Gottes selbst exekutierten und damit ihrer Unsterblichkeit freiwillig entsagten. Daran lässt sich erneut die Sinnlosigkeit von Sein ohne zeitliche Limitierung innerhalb der Saga exemplifizieren Die Sinnstiftung durch eine göttliche Instanz innerhalb der weitgehend mittelalterlichen Welt von Nosgoth entspricht grob kulturgeschichtlichen Entwicklungslinien der politischen Theorie und Philosophie, wie sie Augustinus mit seinem theologischen Begriff des „civitas dei“ für das Mittelalter maßgeblich geprägt hat. Siehe dazu: Henning Ottmann (2004): Geschichte des politischen Denkens. Band 2/2. Die Römer und das Mittelalter. Stuttgart: Metzler, S. 14 - 28. Vgl. außerdem: Jean Baudrillard (2000): Der unmögliche Tausch. Berlin: Merve. S. 42 – 44. Anhand dieser Passage lässt sich eine Analogie zu zeitgenössischen Debatten rund um ethisch-moralische Streitfragen in der Genforschung (u.a. Klonen als Weg zum ewigen Leben) ziehen.

11 Britta Neitzel (2004): Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen, S. 45. URL: http://e-pub.uni-weimar.de/volltexte/2004/72/.

12 An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass innerhalb der „Legacy of Kain“ - Reihe Vampire nicht per se als blutrünstige Jäger der Nacht agieren. Erst die Hylden, nachdem diese durch die Vampire nach einem langen Krieg mit Hilfe der Säulen verbannt wurden, verfluchten die Vampire ihrerseits dazu, von Blut leben zu müssen und unsterblich zu sein. Kain ist aufgrund seiner menschlichen Geburt auch optisch von „Urvampiren“ wie Janos Audron zu unterscheiden und verfügt u.a. nicht über Flügel, wie sie Raziel kurz vor seiner Verbannung durch Kain besaß.

13 Raziel wird von Elder God, der aus ihm ein sich von Seelen ernährendes Wesen macht, auch als sein „Soul Reaver“ bezeichnet. Das gleichnamige Schwert wurde von den Vampiren für denjenigen geschmiedet, der als Held der Vampire gegen die Hylden kämpfen sollte. Raziel tötet in seiner neuen Gestalt neben seinen Sarafanbrüder (er vernichtet sie in ihrer vampirischen wie menschlichen Gestalt in unterschiedlichen Zeitebenen) auch sein ehemaliges Ich und liefert Kain damit selbst die Leichen für dessen spätere Statthalter. Raziel war als menschlicher Sarafanpriester einer der grausamsten Vampirjäger und in seiner Arroganz mit Kain vergleichbar.

14 Die religiösen Bezüge können sogar noch weiter gefasst und beispielsweise um den in „Legacy of Kain“ auftretenden (ebenfalls in seiner Rolle höchst ambivalent dargestellten) Priesterorden der Sarafanen erweitert werden. Dies trifft auf Raziel ebenfalls zu: Im Engelchor der Cherubim wird u.a. von einem Engel gleichen Namens berichtet. Siehe dazu: Ellen Stubbe (1995): Die Wirklichkeit der Engel in Literatur, Kunst und Religion. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Wulf-Volker Lindner. Münster: Lit-Verlag (Hamburger Theologische Studien 10); Alfons Rosenberg (1986): Engel und Dämonen: Gestaltwandel eines Urbildes. 2. erweiterte Auflage. München: Kösel.

15 Vgl. hierzu einen Essay von Julian Nida-Rümelin über die Entitäten von Entscheidungen. Darin diskutiert Nida-Rümelin sowohl die aus seiner Sicht bedeutenden Konstituenten einer freien Entscheidung als auch die Rolle von verfügbarem Wissen und Kausalität innerhalb eines (freien) Entscheidungsprozesses: Julian Nida-Rümelin (2005): Über menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam. S. 45 – 78.

16 Vgl. eine Arbeit über vergleichbare Denkfiguren in der Medienwissenschaft: Ulrike Bergermann (2006): Castingshows, Selbstdrehtechnologien, Falsche Flaschen. Zur Sichtbarkeit von Drehmodellen. URL: http://wwwcs.uni-paderborn.de/~bergerma//texte/Casting.pdf (letzter Aufruf: 14.10.2006).

17 Zu Metonymie und Metapher in der Psychosemiologie Lacans siehe: Samuel Weber (2000): Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse. 2. Auflage. Wien: Passagen Verlag, S. 87 - 105.

18 Friedrich Nietzsche (2005): Jenseits von Gut und Böse/Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: DTV, S. 170.

19 Beispiele im Bereich Game: „Devil May Cry 1“(Capcom); „Metal Gear Solid 1“(Konami); „God of War 1 bzw. 2“(Sony); „Onimusha 3“(Capcom); „Resident Evil: Code Veronica“(Capcom); „Spartan: Total Warrior“(Sega);

20 Oliver Kohns (2006): Modelle der Traditionsbildung in „Kill Bill“: Verrat, Mord, Rache. In: Achim Geisenhanslüke und Christian Steltz [Hg.]: Unfinished Business. Quentin Tarantinos „Kill Bill“ und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript, S. 167 – 171.

21 Zur Bedeutung des Sujetbegriffes für die Narration von literarischen Texten bei Lotman siehe: Jurij M. Lotman (1981): Die Struktur literarischer Texte. 2. Auflage. München: Wilhelm Fink, S. 329 ff.

22 Norbert Elias hat aus soziologischer Perspektive das Verhältnis von Zeit bzw. den jeder Gesellschaft konstitutiv eingeschriebenen Umgang mit Zeit als normierendem Regulativ an zahlreichen unterschiedlichen Beispielen der Kulturgeschichte herausgearbeitet. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei, dass sich solche Entwicklungen dynamisch in nahezu alle gesellschaftlichen Strukturen integrieren. Siehe: Norbert Elias (1988): Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

23 Vgl. eine Einführung von Gonzalo Frasca in die Ludologie, die tendenziell dazu neigt, narrative Elemente überwiegend nur als Verbindungsklammern zwischen den zu bewältigenden Aufgaben zu klassifizieren : Gonzala Frasca (2003): Simulation versus Narrative. Introduction to Ludology. In: Mark J.P. Wolf und Bernard Perron [Hg.]: The Video Game Theory Reader. New York/London: Routledge, S. 221 – 235.

24 Vgl. Frank Degler (2006): Partizipation und Destruktion. Sterbende Körper im Computer/Spiel/Film zwischen <resurrectio> und <save as>. In: Britta Neitzel und Rolf F. Nohr [Hg.]: Das Spiel mit dem Medium. Partizipation-Immersion-Interaktion.Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Marburg: Schüren (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft 14), S. 348 – 364.

25 Ein fast beliebiges Beispiel: In Capcoms Action-Adventure „Devil May Cry 3“ wird zwar die Hauptfigur Dante im Prolog als eigentlich unbesiegbar vorgestellt (zahlreiche Sensen, die sich durch seinen Körper bohren, zwingen ihm nur ein müdes Lächeln ab) und doch können dieselben Gegner dieses Prologs bereits in der nachfolgenden Szene – ohne eine metaphorische Veränderung der fiktionalen Regularien – das Ableben des Helden verursachen ohne diese inhaltliche Lücke zu schließen. Vgl. dazu Juuls Überlegungen zum Verhältnis von Fiktion und (ihren) festen Regeln im Computer- und Videospiel: Jesper Juul (2005): half-real. Video Games between Real Rules and Fictional Worlds. Cambridge/ London: MIT Press, S. 163 – 196.

26 Vgl. Frank Degler (2006): Partizipation und Destruktion. Sterbende Körper im Computer/Spiel/Film zwischen <resurrectio> und <save as>. In: Britta Neitzel und Rolf F. Nohr [Hg.]: Das Spiel mit dem Medium. Partizipation-Immersion-Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Marburg: Schüren (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft 14), S. 348 – 352.

27 Zu Emotionalisierungsstrategien speziell in Computer- und Videospielen siehe: David Freeman (2003): Creating Emotions in Games. The Craft and Art of Emotioneering. Indianapolis: New Riders.

28 Zu Spaldings Biografie und Theorie: Karl Eibl und Marianne Willems [Hg.]: Individualität. Hamburg: Meiner (Aufklärung; Jg. 9, H. 2), S. 139 – 140 (speziell S. 140). Vgl. dazu exemplarisch zur Entwicklung der Individualitätssemantik in der Literatur des 18. Jahrhunderts: Fotis Jannidis (1996): 'Individuum est ineffabile'. Zur Veränderung der Individualitätssemantik im 18. Jahrhundert und ihrer Auswirkung auf die Figurenkonzeption im Roman. In: Karl Eibl und Marianne Willems [Hg.]: Individualität. Hamburg: Meiner (Aufklärung; Jg. 9, H. 2), S. 77 – 110 (speziell S. 101: „Nicht der Gedanke an die Vorsehung beruhigt, vielmehr haben die 'Empfindungen', wenn man sich ihnen 'überläßt', eine heilsame Eigendynamik.“ ).

29 Zu Foucaults Theorie: Stefan Neuhaus (2002): Sexualität im Diskurs der Literatur. Tübingen: A. Francke, S. 22 – 34.

30 Dem „Soul Reaver“ fällt in „Legacy of Kain“ gleich in mehrfacher Hinsicht eine phallische Bedeutung zu: Das Schwert (in Spektralform) ist, neben seiner Funktion als Waffe, ein Schlüssel für zahlreiche, meist geheimnisvolle Tore innerhalb der Welt von Nosgoth. Vgl. hierzu Sigmund Freuds Deutungsmuster in: Ders. (1993): Bruchstücke einer Hysterie-Analyse. Nachwort von Stavros Mentzos. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 95 – 96. Ein weiterer Beleg: Im Prolog von „Blood Omen 2“ erwacht Kain aus seinem langen Schlaf genau in dem Moment, als der Anführer der Hylden (innerhalb einer retrospektiven Traumsequenz von Kain) den „Soul Reaver“ an sich nimmt, den Kain im Zweikampf verloren hat. Kains Begehren fokussiert sich danach gänzlich auf seine Rache am Hyldenlord und der Rückeroberung des Machtsymbols „Soul Reaver“. Zur metaphorische Analogie zwischen Phallus und Schwert innerhalb der Psychoanalyse siehe: Joan Riviere (1994): Weiblichkeit als Maskerade. In: Liliane Weissberg [Hg.]: Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, S. 44. Diese Bedeutungsebene des Schwertes als Quelle der Macht und damit als Statussymbol (des männlichen Protagonisten) korrespondiert mit einem gängigen Topos von Fantasygeschichten (z.B. He-Man, dessen Macht ebenfalls an sein magisches Schwert geknüpft ist).

31 Hannah Arendt (2006): Vita activa oder vom tätigen Leben. München: Piper, S. 22 – 27. Arendt rekurriert mit ihrem Entwurf bzw. ihrer Kritik an einem rein funktionalistischen Politikverständnis auf Aristoteles, der bereits in der „Nikomachischen Ethik“ von unterschiedlichen Arten von Tugenden und ihrer notwendigen Zusammenführung spricht, um als Bürger der Polis (theoretisch und praktisch) vernünftig „urteilen“ zu können. Als zusätzliches Beispiel von vergleichbaren (dualen) Komplementärfiguren innerhalb der Kulturgeschichte sei auf E.T.A. Hoffmann hingewiesen, dessen Gesamtwerk vielfach als Aufspaltung zwischen dem „callotschen“ und „serapiontischen“ Prinzip interpretiert wird, die sich im „hoffmannschen Prinzip“ vereinen. Besonders eindringlich herausgearbeitet bei: Klaus Deterding (1991): Die Poetik der inneren und äußeren Welt bei E.T.A. Hoffmann. Zur Konstitution des Poetischen in den Werken und Selbstzeugnissen. Frankfurt a.M.: Peter Lang.

32 Vgl. dazu eine Rede von Bernd Scheffer über die Bedeutung der „alten“ für die neuen Medien: Bernd Scheffer (1997): Franz Kafka ans Telephon! Warum die Literatur zu den neuen Medien gehört und warum ihr vor der Zukunft nicht bange sein muss. In: Medienobservationen (letzter Aufruf: 2.11.2006).

33 Vgl. dazu: Oliver Jahraus (2003): Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewusstsein und Kommunikation. Weilerwist: Velbrück Wissenschaft, S. 31 – 94 und S. 519 – 583.

34 Ebd., S. 521 – 523.

35 Friedrich A. Kittler (1987): Aufschreibesysteme 1800/1900, 2. Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 429 ff.

36 Vgl. Hans Blumenbergs Charakterisierung von Mythen, die, so Blumenberg, in einer archäologischen Dechiffrierung nicht linear rezipierbar sind: „Im Mythos gibt es keine Chronologie, nur Sequenzen.“ Siehe: Ders. (2003): Arbeit am Mythos. In: Wilfried Barner, Anke Detken und Jörg Wesche [Hg.]: Texte zur modernen Mythentheorie. Stuttgart: Reclam, S. 214. Zur archäologischen Problematik der Destillierung einzelner Überlieferungsvarianten von Mythen siehe: Jean-Pierre Vernant (2003): Das mythologische Problem. In: Wilfried Barner, Anke Detken und Jörg Wesche [Hg.]: Texte zur modernen Mythentheorie. Stuttgart: Reclam, S. 242 – 247. Dass man diese sinnstiftenden Prozesse auch unter einem systhemtheoretischen Fokus in Bezug auf Luhmanns „Einheit von Aktualisierung und Virtualisierung“ lesen kann, der sich sowohl auf die Figurendarstellung als auch auf die Rezipientenposition konzentrieren könnte, soll hier als weitere Theorieoption erwähnt werden. Siehe dazu: Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 99 – 101 (speziell S. 100).

37 Der für die hier vorgestellten Überlegungen bedeutsame Aspekt innerhalb des „Normalismus“-Konzepts ist der fließende Übergang zwischen den Kategorien normal und anormal, wie ihn Link u.a. von Broussais ableitet. Das Verhalten von Kain und Raziel oszilliert - wenn man dies so strikt fassen will - zwischen „normalen“ Dialogen und „anormalen“ Kämpfen, wobei diese Klassifizierung letztlich „fließend“ de(kon)struiert wird. Vgl. Jürgen Link (2005): »Normalisierungsgesellschaft«?»Kontrollgesellschaft«?»Flexibler Normalismus«?Über einige aktuelle Gesellschaftskonzepte, mit einem Blick auf die »Reformen«. In: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie, Nr. 49 (1). Hrsg. von Jürgen Link und Rolf Parr. Essen: Klartext Verlag, S. 5.

38 Das Verhalten von Kain und Raziel entspricht in diesen Situationen dem von Duellanten innerhalb klassischer Konventionen von Actionfilmen wie etwa Tarantinos „Kill Bill“. Siehe dazu: Rolf Paar (2006): Is Everything Alright In The Jungle At Last? Irritationen im Dreieck von Genrekonventionen, erwarteten Szenarien von De-Normalisierung und unerwarteten Normalisierungen in „Kill Bill“. In: Achim Geisenhanslüke und Christian Steltz [Hg.]: Unfinished Business. Quentin Tarantinos „Kill Bill“ und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript, S. 95 - 110.

39 Zum etymologischen Ursprung des Wortes Individuum als „das Unteilbare“ siehe: Friedrich Kluge (2002): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 24., durchgesehene und erweiterte Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter, S. 438.

40 Christian Berthold und Jutta Greis (1996): Prometheus´ Erben – über Arbeit, Individualität, Gefühl und Verstand. In: Karl Eibl und Marianne Willems [Hg.]: Individualität. Hamburg: Meiner (Aufklärung; Jg. 9, H. 2), S. 113.

41 Niklas Luhmann (1999): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 144. Zu Luhmanns ausführlichen Studien über Individualität und Individualismus siehe: Ders. (1989): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 149 - 208.

42 Zur kulturgeschichtlichen Thematik des Körpers als Projektionsfläche von Macht (z.B. bei Michel Foucault oder Christoph Wulf) und des damit verbundenen Umgangs mit Körperlichkeit siehe: Anja Seifert (2002): Leitmotive im 20. Jahrhundert. Körper, Maschine und Tod. Zur symbolischen Artikulation in Kunst und Jugendkultur, S. 57 – 58. URL: http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?idn=965604624&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=965604624.pdf (letzter Aufruf: 2.12.2006).

43 In einschlägigen Internetforen (Bsp. auf www.legacyofkain.de) wird teilweise sehr kreativ darüber diskutiert, wie die Geschichte weitergehen und ob es nicht sogar veränderte Remakes der bisherigen Teile geben könnte, wie dies zum Beispiel bei Capcoms Survival-Horror-Neuauflage von „Resident Evil“ für Nintendos Gamecube (2002) der Fall war.

44 Als filmisches Referenzbeispiel bezüglich einer „Rekombinierung“ von Erzählperspektiven innerhalb eines Handlungsrahmens sei auf Akira Kurosawas Klassiker „Rashomon“ (1950) verwiesen, in dem dieselbe Geschichte aus 4 Perspektiven geschildert wird, ohne jedoch am Ende dem Zuschauer eine verbindlich gültige Version nahezulegen. Vgl. Alexander Flier (2004): „Die Menschen lügen nun mal. Aber niemand gibt es zu. Sie wissen nicht mal, dass sie lügen.“ Zur Relativierung von Wirklichkeit und Wahrheit in „Rashomon“. In: Kerstin Kratochwill und Almut Steinlein [Hg.]: Kino der Lüge. Bielefeld: transcript, S. 49 – 70. Dass etwa Erzähler nicht nur in explizit (als solche ausgewiesenen) fantastischen Erzählungen als Element einer „unrealistischen Erzählkonzeption“ auftreten können, belegt Oliver Jahraus anhand zweier Erzählungen aus dem deutschen Realismus. Siehe: Oliver Jahraus (2003): Unrealistisches Erzählen und die Macht des Erzählers. Zum Zusammenhang von Realitätskonzeption und Erzählinstanz im Realismus am Beispiel zweier Novellen von Raabe und Meyer. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie. 122. Band. Hrsg. von Werner Besch, Norbert Oellers Berlin u.a.: Erich Schmidt Verlag, S. 218 – 234.

45 Siehe: Jan Distelmeyer (2006): „...unterwegs zur Abteilung Spieltheorie“ Überlegungen zum Verhältnis zwischen Videospielen und dem populären Kino. In: Britta Neitzel und Rolf F. Nohr [Hg.]: Das Spiel mit dem Medium. Partizipation-Immersion-Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Marburg: Schüren (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft 14), S. 187 – 198. Bsp.: „Der Pate“(Electronic Arts), „Scarface: The world is yours“(Free Radical), die „Final Fantasy“- Reihe(Square Enix) oder „Silent Hill 1 - 4“(Konami);

46 Da „Defiance“ zu einem Großteil während den parallel ablaufenden Ereignissen von „Blood Omen 1“ angesiedelt ist, wird Voradors Gefangennahme durch Möbius sogar erneut zumindest verbal thematisiert. Dieses Mysterium wurde unter Fans - ebenso wie Kains Kollision mit einem anderen Ich in „Blood Omen 1“ - ausgiebig diskutiert und förderte zahlreiche Faninterpretationen über einen möglichen Abschluss der Saga zutage. Eine Auswahl findet sich im Fanforum auf www.legacyofkain.de (letzter Aufruf: 13.10.20006) unter den entsprechenden Themenlinks zu den einzelnen Episoden. Dort findet sich auch mehrfach der Hinweis auf ein Interview mit den Produzenten der Serie, in dem diese angeben, dass sie ursprünglich eine erklärende Szene für dieses Paradox in „Defiance“ einfügen wollten, dies allerdings aus dramaturgischen Gründen verworfen wurde.

47 Vgl. dazu Jean Baudrillards Zeichenkritik zwischen grenzenloser „Kommutation und Permutation“ in: Ders. (1982): Der symbolische Tausch und der Tod. Mit einem Essay von Gerd Bergfleth. München: Matthes&Seitz, S. 133.

48 So können Raziel oder Kain - trotz ihrer fantastischen Fähigkeiten - eben nicht beispielsweise jeden Bereich innerhalb der vorgegebenen Welt von Nosgoth erkunden. Ihr Aktionsradius innerhalb der separaten Spielabschnitte bleibt sogar – besonders in „Soul Reaver 2“ - sehr eingeschränkt und auf ein überschaubares Maß vorgeprägt, was neben einer inhaltlichen Konformität an der begrenzten „Rechenleistung“ der Hardware liegt, die keine detailliertere Ausgestaltung Nosgoths zuließ.

49 Vgl. Florian Rötzer (1998): Vom zweiten und dritten Körper oder: Wie es wäre, eine Fledermaus zu sein oder einen Fernling zu bewohnen? Ein Essay. In: Sybille Krämer [Hg.]: Medien. Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 152 - 168.

50 Vgl. einen Artikel mit zahlreichen Beispielen in der Fachzeitschrift „playThePlaystation“: Mark Liebold (2006): „Die große Freiheit. Das Free-Roaming-Spielprinzip. In: playThePlaystation, Ausgabe 13. Höchberg: Cypress, S. 78 - 81.

51 Zur Begrifflichkeit von „play“ und „game“ siehe: Britta Neitzel (2004): Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen, S. 43 – 48. URL: http://e-pub.uni-weimar.de/volltexte/2004/72/. Als kleiner Hinweis für die hier relevante Fragestellung soll ein Zitat aus diesem Abschnitt genügen: „Das play, so könnte man sagen, wird also im Prozess der Zivilisation eingeregelt“ (Ebd., S. 46). Zu diesem Wechselverhältnis und zu einigen daraus resultierenden medientheoretischen Konsequenzen am Beispiel von „Resident Evil 4“ und „Half Life 2“ siehe: Frank Furtwängler (2006): Mensch-Maschine-Computerspiel. Über eine notwendige Paartherapie in der Medienrealität. In: Georg Braungart, Peter Gendolla und Fotis Jannidis [Hg.]: Jahrbuch für Computerphilologie 7. Paderborn: mentis Verlag, S. 111 – 131.

52 Thomas Anz (2002): Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München: Dtv, S. 37.

53 Siehe Karin Wenz (2006): Game Art. In: Britta Neitzel und Rolf F. Nohr [Hg.]: Das Spiel mit dem Medium. Partizipation-Immersion-Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Marburg: Schüren (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft 14), S. 39-41.

54 Ebd., S. 40.

55 So ist es gerade für viele Fans von Spielserien oftmals ein wichtiges Kriterium, inwiefern bereits verinnerlichte oder gar ritualisierte Regeln eines Games (z.B. die Steuerung der Avatare) beibehalten oder modifiziert werden.

56 Zur divergierenden Begrifflichkeit im Bereich der Medien und Medientheorien siehe: Werner Faulstich (1991): Medientheorien. Einführung und Überblick. Goettingen: Vandenhoeck&Ruprecht, S. 7 – 17. Zur Theoriediskussion über Medien und „ihre Spuren“ siehe: Sybille Krämer (1998): Das Medium als Spur und als Apparat. In: Dies. [Hg.]: Medien. Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 73 - 94.

57 Martin Seel formuliert einen ähnlichen Gedankengang im Bereich der Mediennutzung (mit Bezug auf auf Luhmanns Medienbegriff) wie folgt: „Durch Unterschiede einer bestimmten – immer begrenzten – Art eröffnen Medien spezifische Möglichkeiten der Fixierung von Unterschieden und damit des Wahrnehmens, Erkennens und Handelns.“ Siehe: Ders. (1998): Medien der Realität und Realität der Medien. In: Sybille Krämer [Hg.]: Medien. Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 248.

58 Vgl. dazu: Serjoscha Wiemer (2006): Körpergrenzen. Zum Verhältnis von Spieler und Bild in Videospielen. In: Britta Neitzel und Rolf F. Nohr [Hg.]: Das Spiel mit dem Medium. Partizipation-Immersion-Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Marburg: Schüren (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft 14), S. 244 - 260.

59 Britta Neitzel und Rolf F. Nohr (2006): Das Spiel mit dem Medium. In: Britta Neitzel und Rolf F. Nohr [Hg.]: Das Spiel mit dem Medium. Partizipation-Immersion-Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Marburg: Schüren (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft 14), S. 16.

60 Natascha Adamowsky (2000): Spielfiguren in virtuellen Welten. Frankfurt a. M.: Campus, S. 18.

61 Heinrich von Kleist (1994): Über das Marionettentheater. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner. München: Artemis&Winkler, Bd. 2, S. 341. Dass Kain in seinem Schlussmonolog von „Defiance“ - obwohl in Bezug auf Elder God und die Hylden - von den „Händen des Puppenspielers“spricht, die sichtbar geworden sind, sollte an dieser Stelle noch angemerkt werden. Überhaupt wird der Begriff der Marionette mehrmals innerhalb der Saga verwendet; so auch in „Blood Omen 2“, als Kain auf den in seine ursprüngliche Gestalt zurückverwandelten Janos trifft.



Verfasser: Alexander Schlicker, veröffentlicht am 11.04.2007

   
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