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Bernd Scheffer

Bilder beim Wort genommen: Fotografie als Paratext (1)


   
         
Birth Certificate, 1962   Useless, 1974   Job Hunt, 1976
During the fight, her mother threw her birth certificate at her. This is how she found out her real father´s name.   Her father´s nickname for her was 'useless'.   After tree weeks he still couldn´t find a job. His mother said to him, 'maybe you´re not good enough'.

Copyright by Tracey Moffat, Courtesy: LA-Galerie, Frankfurt/M. Lothar Albrecht www.lagalerie.de

Die „Lesbarkeit der Welt“ (Hans Blumenberg) geht über Texte (im engeren Sinne) hinaus, und deshalb wird „Lesbarkeit“ auch bleiben, ob man sie im Zuge erheblicher medialer Veränderungen dann noch so nennen mag oder nicht. Bilder überschneiden sich mit Texten: Man muss sich ein Bild auch „erzählen“ können, um es überhaupt sehen zu können, um es zu behalten, um es zu „verstehen“. Nicht nur die demonstrativ mit Titeln und Kurztexten gestalteten Bilder in einer Ausstellung oder in einem Buch, sondern grundsätzlich alle Bilder verwirklichen sich stets im Bereich ineinander verschleifender Bild- und Text-Wahrnehmungen und Gefühls- und Körper-Wahrnehmungen. Bilder ergeben visuelle „Texte“ und sie ergeben dabei immer auch Sprachtexte und Gefühls“texte“ und Körper“texte“: Es handelt sich also durchaus nicht um (falsche) Metaphern oder (pure) Äquivokationen, wenn etwa der Fotograf STAN DENNISTON im Zugriff auf literarische Konzepte auch anlässlich von Fotografie von „fiktiven persönlichen Geschichten“, von „gemeinsamer Autorschaft“ oder von „vorgeschriebener Lesart“ spricht; wenn DUANE MICHALS bekennt: „I am a short story writer. Most other photographers are reporters“ oder wenn JOHN HILLIARD seine Bilder „Readings“ nennt.

Was Fotoarbeiten zwischen Text und Bild derzeit so bedeutsam macht, ist die aktuelle Demonstration dessen, dass bei jeder Wahrnehmung stets verschiedene Zeichensysteme zusammen-spielen und auseinander-spielen und dass sich dabei Zwischen(spiel)räume auftun zur Projektion unserer eigenen individuellen und sozialen Wahrnehmungsmechanismen. Wir können hartnäckige Vorurteile korrigieren; allen voreiligen (populären medienkritischen) Behauptungen zum Trotz: Es gibt keine strikte und umfassende Trennung zwischen Bild-Wahrnehmung und Sprach-Wahrnehmung, und gerade die harten Polarisierungen zwischen alten Schriftmedien und neuen elektronischen Bildmedien ließen sich unschwer korrigieren, wenn die zur Zeit (noch) vorherrschenden kulturkonservativen Interessen nicht genau in die Gegenrichtung tendieren würden. Wir kennen zwar die dabei wirksamen (neurophysiologischen) Mechanismen noch nicht im einzelnen, aber unstrittig ist, dass eingehende, dass länger andauernde Bild-Wahrnehmungen nicht ohne gleichzeitig ablaufende Sprach-Prozesse stattfinden können. Es genügt vollauf, sprachliche „Speicher“ zu aktivieren, um Bilder zu „sehen“: „(Willy) Brandt kniet (am Mahnmal des Warschauer Ghettos)“, „Einsteins Zunge“ oder „Marylins weißes Kleid“ oder „Mein erster Schultag“ - und diese Vorstellungsbilder erweisen sich dann als erstaunlich „fehlerlos“ im Vergleich mit den „tatsächlichen“ Bildern. Doch wichtiger als die „tatsächlichen“ Bilder sind indessen die Vorstellungsbilder: Niemand trägt ja die „tatsächlichen“ Bilder mit sich herum; die wenigen Ausnahmen im Portemonnaie, in der Brieftasche, in der Handtasche sind eher zum Vorzeigen für andere als für uns selbst gedacht.

Produzent und Rezipient vollziehen Bilder und Texte, vollziehen Zeichen-Wahrnehmungen generell, in doppelter Urheberschaft (in „gemeinsamer Autorschaft“, sagt STAN DENNISTON). Genauer gesagt: Wahrnehmungs-Konzepte ermöglichen es uns, vorteilhafterweise zwischen Produktion und Rezeption nicht mehr strikt trennen zu müssen bzw. „(produktive) Rezeption“ verallgemeinern zu können. Auch der bildende Künstler ist auf dem Weg der Wahrnehmungs-Wahrnehmung in einer Rezeptions-Situation, einer deutlich produktiven freilich. Was immer man wahrnimmt und vor allem: Was immer man in weiterer (Selbst-) Beoachtung als Wahrnehmung wahrnimmt: Immer geht es dabei um „Semantisierung“, um „Sinn“, um „Texte“, um „Geschichten“ o. ä.. Man gelangt nicht vor die Zeichen und ihren Verweisungszusammenhang zurück. Man kann nicht nicht interpretieren. Wahrnehmung ist so gesehen von Interpretation nicht zu trennen. Wahrnehmung meint unvermeidlich Sinngebung: Es gibt keine reine Zeichen- oder Struktur-Mitteilung und keine reine Zeichen- oder Struktur-Rezeption (trotz aller Versuche einer avancierten Kunst im 20. Jahrhundert, sich hauptsächlich eine solche „Sinn-Entleerung“, eine solche „De-Semantisierung“ als Ziel zu setzen). Man kann nicht nichts verstehen. Immer versteht, projiziert, interpretiert man etwas, und auch wenn dieses „Verstehen“ gerade nicht mehr eindeutig zuzuordnen ist, so reagiert dieses nicht stornierbare „Verstehen“ doch immer zumindest para-semantisch auf ein „Werk“ (oder besser gesagt auf einen „Anlass“, auf einen „Anstoß“, auf eine „Vorgabe“).

Indessen fallen Sehen und Sprache (und Denken) nicht restlos zusammen; wäre es „restlos“ so, dann würden ja „Sehen“, „Sprache“ und „Denken“ restlos das gleiche bezeichnen, was freilich in mehrfacher Hinsicht unvorstellbar ist. Die unvermeidliche (Para-) Semantisierung bzw. die sprachliche Beteiligung an der Bildwahrnehmung ist durchaus modifizierbar; sie lässt sich künstlich/künstlerisch verstärken oder abschwächen: Die bedeutsame Kunst, Musik und Literatur im 20. Jahrhundert ergibt sich aus den erfolgreichen Versuchen, konventionelle Bedeutungs-Zuordnungen abzuschwächen: Das fast leere Bild, der fast leere Ton, das fast leere Wort („Empty Words“ bei John Cage) wird fast erreicht, aber eben nur „fast“. Trotz aller Kommunikationsverzögerung oder Kommunkikationsverweigerung (in der Literatur bei Kafka, Joyce oder Beckett): Die jeweilige Realisierung dieser Versuche (in der Produktion oder in der Rezeption) behält (para-) semantische Reste; die Versuche bleiben im wörtlichsten Sinne „aufschlussreich“ (auch wenn man sich selbstverständlich in jedem Fall hüten muss, angeben zu wollen, was denn „genau“ der „(konkrete) Aufschluss“ wäre). Bei Kafka wird gewissermaßen erzählt, dass das Erzählen über das „Schloß“ oder den „Prozess“ oder das „Gesetz“ nicht erzählt wird; das Erzählen bleibt davor („Vor dem Gesetz“), auf der Schwelle, im Zwischenraum, im „stehenden Sturmlauf“.

Gezeigt, erzählt werden in der avancierten Kunst des 20. Jahrhunderts bekanntlich immer nur Voraussetzungs-Situationen, Möglichkeiten, Proben, aber keine endgültigen Aufschlüsse oder Abschlüsse - aber eben auch nichts pur Formales, nichts vollständig Inhaltsleeres. „Große Kunst“ (was immer das sein mag) hat durchaus ihre benennbaren Bausteine; einer davon ist ihre Tendenz, Meta-Kunst zu sein: Zeigen des Zeigens, Sprechen über das Sprechen; Literatur über Literatur; Bilder über Bilder; Fotografie über Fotografie.

Künstlich, künstlerisch verstärken Fototexte die Semantisierungs-Tendenz von Bildern, von Fotos. Sie wären „naiv“, täten sie es anders als probeweise, würden sie nicht mit Stilisierungen und ironischen Brechungen arbeiten. Sie bringen Prinzipien ins Spiel, die vorzugsweise der literalen Kultur vorbehalten schienen. Sie setzen sich großzügig und erfolgreich über hergebrachte Verdikte hinweg; für Lessing etwa durften Bilder und Texte allein schon aufgrund ihrer unterschiedlichen Zeitstruktur nichts miteinander zu tun haben. Jetzt spätestens erkennen wir aber, dass Texte keineswegs nur stur „linear“ sind (niemand versteht einen Text nur Wort nach Wort ohne Rückkoppelungen); und wir erkennen, dass es andererseits unmöglich ist, Bilder nur stur „simultan“ wahrzunehmen (das ginge allenfalls im Augenblick einer schlagartigen Erleuchtung). Die räumlichen Schärfe-Verschiebungen in den Bildern von JOHN HILLIARD ereignen sich für jeden Betrachter nacheinander, also in der Zeit, und unsere Wahrnehmung kann gar nicht anders als „narrativ“ ausfallen („temporal conscience“ sagt JOHN HILLIARD). Ein Foto war noch nie nur eine Moment-Aufnahme; das könnte höchstens „die Camera selbst“ so sehen, wenn sie etwas „sagen“ könnte, aber keine der beteiligten Personen kann das so sehen; ein Foto war noch nie nur eine Moment-Aufnahme, weil es keinerlei Situation der Moment-Abnahme (der Moment-Rezeption) geben kann: Unvermeidliche „Sinngebung“ ereignet sich stets in der Zeit; anhaltende Simultaneität ist unmöglich. Und das (eigene) „Begehren“ (vgl. etwa die Szenen des Glücks in „Le Bonheur“ der Fotografin FLORENCE CHEVALLIER), dieses Begehren, das uns ja fast alle Kunst-Bilder spürbar werden lassen, ist nicht anderes als (mehr oder weniger) gerichtete Zeit; mit der Tendenz zur (noch) nicht gelebten „Story“; also ein Zeit-Entwurf.

Vieles spricht auch bei der Fotografie für einen Zusammenhang mit Sprache, Schrift und Literatur. Mit einiger Vorsicht gegenüber gängigen Äußerungen wie „alles ist Text“ (alles ist Gewebe; alles ist „vernetzt“) ließe sich der Textbegriff und vor allem der Kontextbegriff ausweiten; denn spätestens die Kontexte, die zum Verstehen von Texten bzw. die zum Verstehen von Bildern gehören, umfassen multi-modal die gleichen Zeichensysteme. Der Kontext von visuellen Allegorien ist per se ein spezifischer Kultur-Text. Ob ich es nun „sage“ oder „zeige“: „Le Bonheur“ - der Kontext ist stets identisch. Demzufolge sind auch „Erzählen“ („Narration“) weiter zu fassen als nur bezogen auf die Wiederkehr anekdotischer (und so gesehen: erzählerischer) Inhalte in der Fotografie: Wir nehmen wahr innerhalb der verschiedenen, auch konkurrierenden „Geschichten“, die wir „schreiben“, indem wir sie leben; anders lässt sich das, was wir jeweils im Einzelfall mit Bilder und Texten machen, kaum erklären. Die Vermutung, dass nicht nur die Kunst das Leben nachahmt, sondern auch das Leben die Kunst, ist nicht nur anekdotisch, sondern essentiell und existentiell relevant. „Inszenierung“ bezeichnet so gesehen eben auch kein seltenes oder periphäres Ereignis. Die von anderen Gelegenheiten her bekannten „Inszenierungen“ von JEFF WALL oder die grausam-graziösen „Inszenierungen“ von JOEL-PETER WITKIN sind gleichsam nur die Unterstreichungen des Inszenierungsprozesses, des allgemeinen Erfindungsprozesses, den wir behelfsmäßig „Wahrnehmung“ nennen. Fotoinszenierungen bieten „Theater“ im Stillstand, aber dieser Stillstand ist freilich nur scheinbar.

Die hier vertretenen Künstler beziehen entscheidende Überlegungen gerade auch aus Konzepten literaler Autorschaft und literaler Autorität: „suspicion of the authority of the photographer’s image“ (STAN DENNISTON); „authorized voyeur“ (JOHN HILLIARD). Ähnlich wie in „reinen“ Texten (aber auch sie sind ja nicht ohne „Bilder“; die Literatur ist voll von Bildern) geht es auch hier um Fiktionen, um das Spiel von Wahrheit und Lüge („im aussermoralischen Sinne“), aber weder um die klarste Differenz von Wahrheit und Lüge noch um ihr Zusammenfallen, noch um ihre Indifferenz. Niemand kann Indifferenz denken (man kann auch immer nur „Ordnung“, aber nicht ernstlich „Chaos“ wahrnehmen); man ist, wenn auch schnell wechselnd, entweder auf der einen oder auf der anderen Seite (z.B. von Wahrheit und Lüge). Anwesenheit und Abwesenheit lassen sich nicht gleichzeitig sehen; das zeigen die Bilder von DUANE MICHALS oder auch von JOHN HILLIARD oder STAS KLEVAK; entweder sieht man und sagt man sich das eine (Anwesenheit) oder das andere (Abwesenheit), und so verbraucht man Zeit und gerät in „Geschichte(n)“. Die Tatsache, dass sie uns als Fotos überhaupt vorliegen, macht die „reale“ Möglichkeit der jeweiligen Szenen eher unwahrscheinlich; das Phantastische der Bilder- und Buchstaben-Texte liegt darin, wie am deutlichsten vielleicht die Arbeiten von TRACEY MOFFATT zeigen, dass genau der Augenblick, den diese Fotos festzuhalten scheinen, „in Wirklichkeit“ wohl nie fotografiert wird.

Wir haben es häufig mit „Bildungs“-Bildern und „Bildungs“-Texten zu tun (mit „kulturellem Kapital“, wie Karen Knorr offenbar unter Bezug auf Pierre Bourdieu sagt). Das beim Betrachter jeweils vorausgesetzte Wissen kann bei diesen Bildern gar nicht hoch genug veranschlagt werden; das gilt etwa für „Le Bonheur“ von FLORENCE CHEVALIER oder auch für „Die schönsten Liebesgeschichten der Welt“ von MANUELA BURKART (Bilder, die zudem die in anderen Ländern so beliebten Foto-Romane „zitieren“: Liebes-Comics, nicht gezeichnet, sondern fotografiert, was sie für uns noch „fiktiver“ macht). Explizit thematisch wird „Bildung“ in der Serie „Connoisseurs“ von KAREN KNORR: “In diesen Arbeiten habe ich versucht, das selbstgefällige Gebaren der britischen Upper Class mit den Mitteln der Ironie bloßzulegen, einer Ironie, die offenbar wurde, wenn das Bild in Verbindung mit dem Text gelesen wurde. Die Aufmerksamkeit galt dem Zusammenspiel des Bildes mit einer Legende (...).“ Wer allegorische Fotos anbietet, macht (was kein Einwand ist) gewissermassen auch Bilder, deren Herkunft die „Bibliothek“ ist. VIBEKE TANDBERGs Bilder sind Formen des allegorischen (Text-) Erzählens, auch wenn es dabei nicht um klassische, sondern um koloniale „Allegorien“ geht: Die weiße, aufopfernde Wohltäterin schwebt bei armen Afrikanern ein und macht sie „erstmals“ glücklich; so oder so ähnlich lauten die unvermeidlich nachzutragenden „Geschichten“: Alte und neue Mythen, auch Archetypisches, jedenfalls Kultur“geschichte“ und vor allem: Masken und Zitate: „Da die Maske vor allem ein soziales, historisches Produkt ist, enthielt sie mehr Wahrheit als jedes Bild, das sich als ‘wahr’ ausgab; sie trug eine Menge von Bedeutungen in sich, die sich nach und nach enthüllen würden. (...) Photographien zu photographieren, (war) der einzige Weg, der ihm blieb, der wahre Weg sogar, den er bis dahin dunkel gesucht hatte.“ (Italo Calvino: Abenteuer eines Photographen. In: I. C: Erlebnis eines Reisenden.)

Die Bilder von FLORIAN MERKEL oder DANY LERICHE oder BERNHARD PRINZ wären allegorische (Text-)Erzählungen auch ohne Titel wie „Perseus“ oder „Diana“ oder „Allegorie der Eingebung“ (Titel eines Bildes von Bernhard Prinz); das „beweisen“ die Bilder von STAS KLEVAK in ihrer unspezifischen Allegorie (wie anders kann man sie sehen?). Und selbstverständlich „erzählen“ beim Anblick der weiblichen Körper in den „Individual Allegories“ von DANY LERICHE die dominanten männlichen Blicke weiter, „schreiben“ sich visuell und textlich fort. - Welche Texte tragen wir (unvermeidlich) heran, wenn ein Frauengesicht, das BERNHARD PRINZ fotografiert hat, uns (unvermeidlich) als „elegisch“ erscheint? Wohl doch vor allem die „Geschichte der Elegie“, zumal wenn wir wissen, dass der Fotograf seine Bilder als Überlegungen zu einer „visuellen Moral“ (eine „Allegorie“ schlechthin) versteht; Kinder und Jugendliche mögen hierbei allenfalls „Trauer“ sehen können, aber nichts „Elegisches“ oder „Allegorisches“. - Und ohne die (freilich voraussetzbaren) Vorab-Gespräche über den „Deutschen Wald“ und das „Deutsche Wohnzimmer“ wird man das (Text-) Vergnügen kaum haben, zu dem die Bilder von ANNA und BERNHARD BLUME uns Anlass geben - ein Vergnügen, das nicht unerheblich von unserem (doch wohl vor allem sprachlichen) Wissen über „Dekonstruktion“ (über „Desaster“ über „die Tücke des Objekts“) abhängt; ähnliches veranlasst ein Titel wie „Sonntagsneurosen“ bei den Fotos von JÜRGEN KLAUKE.

Man könnte sich fragen, ob die „Sho(r)t Stories“, die ganz ohne Titel und weiteren Buchstaben-Text auskommen, nicht am Ende doch die interessanteren, radikaleren, avancierteren Beispiele darstellen, aber eine solche Frage noch Regeln und Regularitäten erweist sich zum Vorteil der „Sho(r)t Stories“ als aussichtslos: Zusätzlicher Buchstaben-Text kann die visuelle Komponente der Wahrnehmung verstärken, muss sie aber nicht verstärken. Nachdem man einmal den Buchstaben-Text der Bilder von TRACEY MOFFATT kennt, wird man schwerlich noch eine mögliche „Unschuld“ der Szenen abschwächend imaginieren können; in „Birth Certificate“ werden wir die Situation der Frau mit dem Brief schwerlich noch als „harmlos“ und „vorübergehend“ imaginieren können. - Der Militärflugplatz, den STAN DENNISTON einmal per Buchstaben-Text vorschlägt (in einem hier nicht gezeigten Bild; eventuell Abb. im Katalog), ist in der Landschaft des zugrunde liegenden Fotos nun nicht mehr zu übersehen, obwohl er „rein“ optisch noch gar zu präsent ist.

Wir sehen nicht die „Gedanken“ der Künstler, wenn wir ihre Bilder sehen, vielmehr machen wir uns jeweils unser eigenes Bild, das wir dann als deren Gedanken unterstellen. „Die Bilder selbst“ sind immer nur notwendige, aber alles andere als hinreichende Vorgaben: Vorgaben, Vorschläge, Anstöße, Anlässe, Anregungen, Impulse, Spuren, Gelegenheiten o. ä.. Aber wir können auch nicht mit den Bildern machen, was immer wir (idiosynkratisch) nur wollen: Es gibt niemanden, der nicht sozial beeinflusst wäre. Wir können zwar unser eigenes persönliches Gefühls-Risiko erahnen, aber wir können mit den Bildgeschichten, die TRACEY MOFFATT oder FLORENCE CHEVALLIER oder MANUELA BURKHART oder BETTINA RHEIMS („Warum hast Du mich verlassen?“) vorgeben, eben doch nicht all das machen, was immer wir wollen. Gefühls- und Körper-Risiken (gleichermaßen individuell und sozial) spielen stets herein, und auch so gesehen, haben wir es schließlich mit weit mehr zu tun, als nur mit Bildern und Texten: „Holistische“ Wahrnehmungsmodelle sind gefragt.

Wie auch immer: Jede Rede darüber, was die „Bilder selbst“, was die „Fotos selbst“ sind oder machen, ist endgültig sinnlos geworden. Mit Bildern und Fotos lässt sich all das machen, was im Zuge der „Lebens-Geschichten“, die die die Bilder verstärken oder abschwächen, möglich ist: Bildtexte, Sprachtexte, Gefühlstexte, Körpertexte, die rückgekoppelt unsere „Geschichten“ verändern - und in begründeter Zurückhaltung nennen wir sie. Paratexte - zwischen „Augenschein“ und „Wortlaut“.

1. Der vorliegende Text erschien in ähnlicher Form zuerst in dem Katalog zur Ausstellung „Foto Szenen / Sho(r)t Stories“ im Alten Rathaus in Göttingen 8. Sept. bis 20. Oktober 1996. (top)



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