Emergentes Erzählen / neue Medien / konstruktivistische Literaturtheorie


Martin Maurach

Emergentes Erzählen. Der Bildschirmschoner "Johnny Castaway"




Abstract: "The world's first story-telling, screen saver cartoon" (Eigendarstellung des Herstellers) kann beispielhaft für emergente, zufallsgesteuerte Formen des Erzählens betrachtet werden, wie sie im Umkreis der ‚neuen Medien' auftauchen und sich von den einst zur 'Subkultur' gerechneten kurzen und kürzesten Erzählgattungen wie Witzen und Comics unterscheiden. Diese Formen sind zugleich Schlüsselbeispiele für eine 'konstruktivistische' Literaturtheorie. Zu fragen wäre nach der Entstehung von 'Handlungen' und Sinn aus stark reduzierten, scheinbar zusammenhanglosen Elementen.


Fortsetzung folgt – vielleicht. Denn es bleibt fraglich, ob daraus ein 'Fortsetzungsroman' wird, aus Bildschirmschoner-Laufzeiten zwischen zwei Serienbriefen oder Datenbankformularen, oder zwischen Seminararbeit und Computerspiel. Der Kontakt möglicher Rezipienten mit "Johnny Castaway Screen Saver. Downloadable Version. [...] Version 1.01. Date 2/6/97. Copyright ©1996 Sierra On-Line Inc." ist jedenfalls ‚zerstreut' und episodisch, vielleicht gar gezeichnet von schlechtem Gewissen. Erwartungen an Handlungschronologie und Gegenstandskonstanz werden infragegestellt. Wie bewährt sich eine ‚konstruktivistische' Literaturtheorie an der zunächst unauffälligen Herausforderung eines Bildschirmschoners, der dennoch kompromißloser zu sein scheint als klassische 'subkulturelle' Erzählformen wie Comics, Witze und Werbung?

Zunächst wirkt das Programm wie eine Reihe zufällig ablaufender Inselwitze, die aus Publikumszeitschriften und Werbung bekannt sind. Schon im Klassiker "Vater und Sohn" von E. O. Plauen wird den schiffbrüchigen Titelhelden endlich am Strand eine Kiste zugespült: Leider enthält sie ein Klavier. Bei Johnny Castaway startet jeder 'Cartoon' nach einem kurzen Verschwinden der Figur hinter der einsamen Palme, die wie im Cartoon seine Insel ziert. Da werden Sandburgen gebaut, Flaschenposten ins Meer geworfen, wieder aufgefischt, Stiefel geangelt und manchmal auch gebraten, und Motorboote, Hubschrauber, riesige Ozeandampfer kommen vorbei – und lassen natürlich den gestrandeten Seemann unentdeckt in seiner Einsamkeit zurück. Zwischen zwei solchen Neustarts verschwinden vorher eingeführte Gegenstände, oder sie werden wie aus dem Nichts hinter der Palme hervorgeholt, oder die eigene Flaschenpost wird dank der zufälligen Episodenfolge drei- bis viermal hintereinander aus der See gefischt, aber nicht etwa zwischendurch wieder hineingeworfen. Außerdem steuert die Weltliteratur ihre Motive bei: Jonas und den ‚Walfisch' zum Beispiel, von dem man verschluckt und wieder ausgespuckt werden kann, oder eine sirenenhaft singende Nixe; oder es kommen Liliputaner auf einem Schiffchen vorbei und fesseln den ahnungslos schlafenden Johnny wie einen zweiten Gulliver.

Als "konstruktivistische Literaturtheorie" wird hier allgemein ein Gegenmodell zur Kommunikationstheorie von Sender, Botschaft und Empfänger bezeichnet. Die letztere geht davon aus, daß Texten oder anderen Medien fixierte Bedeutungen 'entnommen' werden könnten, die andere in sie hineingelegt hätten. Dieser Annahme zufolge würden auch fiktionale Handlungszusammenhänge tendenziell von allen gleich gedeutet werden müssen, die sich mit entsprechenden Medienangeboten beschäftigen. Dagegen setzen konstruktivistische Literaturtheorien voraus, daß alle Wahrnehmungsangebote stets nur nach den psychischen und kulturellen Voraussetzungen der jeweiligen Rezipienten/innen gedeutet, genauer, daß nach deren subjektabhängigen Regeln erst der jeweils "systemspezifische" Sinn erzeugt wird, der den Wahrnehmungen zugewiesen werden kann.

Formale Prinzipien solcher Sinnerzeugung sind mit einiger Wahrscheinlichkeit die chronologische, kausale oder finale Interpretierbarkeit von Ereignisfolgen und eine gewisse Beständigkeit einmal als existent angenommener Gegenstände. Ob und wieweit Sinnerzeugung aus Anlaß medialer Fiktionen in diesem hier nur angedeuteten konstruktivistischen Modell beschrieben werden kann, läßt sich gerade anhand von Medienangeboten fragen, die solche Prinzipien zu unterlaufen scheinen. Dazu zählt natürlich unser zufallsgesteuerter Bildschirmschoner, der doch eine Geschichte (oder Geschichten) erzählen soll. Wie verhalten sich also Sinnkonstruktion und Bildschirmschoner-Rezeption zueinander, wie ist diese im Lichte von jener zu beschreiben?

‚Erzählen' oder fiktionsähnliche Medienangebote ermergieren in der Praxis manchmal als 'Zusatznutzen', als Kaufanreiz, als Aufmerksamkeitsfänger und Belohnung fürs Wiedererkennen in der Werbung. In der Kinowerbung zum Beispiel fehlt zwar meist selbst ein hypothetisches Fortsetzungsmoment, aber zwei einzelne Glimmstengel in je einer Packung auf einem Plakat und dazu die Frage "Zu mir oder zu dir?", das erzählt selbst Nichtrauchern eine Geschichte, und in einem Jahresrückblick kann man später auf die gesammelten plakatkleberischen Kulturleistungen zurückblicken. Auch ein einzelnes geschickt gestaltetes Plakatmotiv kann also bereits ein gewisses Fortsetzungsmoment suggerieren, das in diesem Fall dann noch durch eine Rückschau auf "the best of" der jeweiligen Kampagne verstärkt wird.

Kino- und Plakatwerbung, Witz, Comic oder Werbebeilage: Der zufallsgesteuerte erzählende Bildschirmschoner scheint die älteren subkulturellen Formen emergenten Erzählens zu überbieten, indem er Erwartungen an Gegenstandskonstanz, Handlungszeit und Motivation irritiert. Zu der Zufallsorganisation der Wahrnehmungsangebote tritt bei ihm noch quasi eine Motivationshemmung. Wer den Bildschirmschoner betrachtet, kann sich, anders als bei der Kinowerbung, nicht in die Erwartung des 'eigentlichen Films' retten, und er oder sie ist auch nicht so frei wie PassantInnen gegenüber einem Plakat, das sie weitgehend ignorieren können. Zu den Schwierigkeiten, aus unzusammenhängenden Eindrücken eine Erzählung zu konstruieren, tritt erschwerend der 'Motivkonflikt': Der oder die Screen-saver-Betrachter möchten oder müssen am selben Gerät und zur selben Zeit 'eigentlich' etwas ganz anderes tun. Ihre Rezeption tritt explizit in funktionale Konkurrenz zu in der Regel strukturierteren und 'wichtigeren' Tätigkeiten.

Wie ‚rezipiert' man also einen erzählenden Bildschirmschoner ? Der Verfasser hat etwa einen Monat lang einen nicht ganz strengen 'Selbsttest' durchgeführt, teils im mutwilligen Testlauf, teils per 'regulärer' Installation. Was für eine dramaturgisch-poetologische 'Einheit' ist überhaupt die Laufphase eines Bildschirmschoners? Einmal zuschauen, öfter zuschauen, wider besseres Wissen und Wollen? Offensichtlich neigt man schnell dazu, Unerwartetes zu erwarten, entwickelt eine Neigung zum frommen Selbstbetrug, indem man bei sich selbst Zwangs- und Kreativitäts(?)pausen unter allerlei Vorwänden provoziert in der Hoffnung, eine der Zufalls-Episoden könne etwas noch nie zuvor Gesehenes auf den Schirm bringen. Die Vermutung, daß nach längerer Laufzeit mit größerer Wahrscheinlichkeit etwas ganz Neues auftritt, reizt dazu, länger dabeizubleiben. Der Rezipient als Roulettespieler, der nach 99mal "Schwarz" zu Unrecht ein "Rot" erwartet. Eine Verwendung als Orakel scheint möglich. Zweifellos: Wie konstruktivistische Ansätze fordern, ist das Subjekt aus dieser Variante von Sinnerzeugung nicht tilgbar.

So 'sieht' ein anderer User, angesprochen auf die Palme, den Episodenrhythmus und die auftauchenden und wieder verschwindenden Requisiten, ganz selbstverständlich ein ‚Vorratslager hinter der Palme'. ‚Sehen' impliziert hier offenbar eine robustere Wahrnehmung von Gegenstandskonstanz – und eben auf solche Weise, durch Ergänzung fragmentarischer Eindrücke aufgrund des individuell verfügbaren Alltagswissens, werden Grundbestandteile einer 'Fiktion' konstruiert.

Auch die der Figur unterschobenen psychologischen Motive erweisen sich als in hohem Maße konstruktionsabhängig: Wenn während ein und derselben Laufphase zuerst ein Fisch geangelt, wenig später aber hinter der Palme ein Stiefel hervorgeholt und gebraten wird, ist die Versuchung groß, dem Helden ein etwas gespaltenes Verhältnis zu seiner Wirklichkeit zuzuschreiben. Aus dem Alltagswissen begründbare Handlungserwartungen werden hier klar durchbrochen; aber unser konstruktives Vermögen scheint gleichsam sofort umzuschalten: An die Stelle der Kohärenzvermutung tritt sozusagen die Diagnose "Schizophrenie" – und unter dieser Annahme kann die Vorstellung einer handelnden fiktiven Figur aufrechterhalten werden: Diese handelt eben inkohärent. Aber es gibt ja auch längere Zyklen; sogar einige mit sich steigernden Handlungsabläufen. Aus Treibholz wird offenbar ein Floß gebaut. Das ist jedoch nie 'direkt beobachtbar'; verfolgen kann man nur ein undefinierbares Herumfuchteln mit Balken am Ufer, und ein paar Einschaltperioden später liegt da dann ein grösseres 'Floß'. Irgendwann wird es aber auch, ebenfalls gleichsam 'hinter der virtuellen Bühne', wieder auf ein kümmerliches Anfangsmaß reduziert. Damit werden linear sich steigernde Handlungen aus relativ kleinen Einheiten auf einer nächsthöheren Ebene wieder zurückgenommen in einem Zirkel, der gemäß der Programmstruktur beliebig oft durchlaufen werden kann. Erzählen ‚emergiert' bis zu einem gewissen Grad an Komplexität - und wird von der Zufallsfunktion wieder aufgehoben.

Erzählende Episoden über die scheinbar kausalitäts- und sinnwidrigen Irritationen hinweg können sich User besonders leicht dann zusammensetzen, wenn plötzlich einmal – selten! - ganz andere Schauplätze und Figuren erscheinen. Wie in alten Kinofilmen weist dann eine laufende Uhr auf die vergehende Zeit hin. In der Tat muß hier Chronologie fast gewaltsam durchgesetzt werden gegen die Pluralität zufallsbestimmter 'Zeiten' von Episodenfolgen und Rezeptionsrhythmen. Und doch bleibt die Uhr ein eigenartig kontextarmes Zeichen. Wie ordnen der oder die Schoner-SchauerIn etwa eine Frau an großstädtisch bewohntem Strand ein, die eine – die? – Flaschenpost findet: Wie mag das wohl weitergehen, über die einmonatige Versuchsrezeptionszeit hinaus? Ist das doch schon der Sog des Fortsetzungs-Romans, der über einzelne Episoden hinaus konstruierbaren längeren Fiktion?

Könnte Johnny vielleicht gar ein virtueller Popstar werden, Partner oder Konkurrenz für Lara Croft und ihresgleichen? Folgen beide vergleichbaren Strategien und Mäandern einer von oft schlichtesten Wahrnehmungsangeboten angeregten, je vom einzelnen Subjekt abhängigen Wirklichkeitserzeugung? Oder erzeugen solche 'Stars' sogar viel mächtigere Fiktionen als bisher eine konventionelle, linear erzählende Literatur tat? Eduard mögen wir vielleicht einen Baron im besten Mannesalter nennen – einen Plattenvertrag haben wir ihn noch nicht unterschreiben sehen und kennen ihn auch nicht, was vielleicht näher läge, als virtuellen Grundstücksmakler. Da erscheint es offensichtlich, daß sowohl Croft und Co. einerseits als auch Goethe andererseits insofern stärkere Fiktionen sind, als sie ausführlichere und viel weniger gebrochene Konstruktionsanweisungen geben, viel 'glatter' funktionieren, einen stärkeren Sog ausüben als Johnny Castaway. Jedenfalls treffen auf dessen Bildschirmabenteuer offensichtlich weder die Kategorien einer Erzählzeit noch einer erzählten Zeit zu. Zu sprechen wäre eher von einer diffus-zerstreuten User-Zeit, auf die sich auch die fiktionsbrechenden Feiertags-Markierungen beziehen: Weist der Kalender des Systems auf das entsprechende Datum, grüßt zum Beispiel eine Banderole "Happy New Year" von der Palme.

So wird ansatzweise sogar so etwas wie Fiktionsironie inszeniert. Zumindest erinnert es an Theaterwitze ältester Prägung, wenn Johnny sich vom User beim Nacktbaden ertappt fühlt, unter schamhafter Bedeckung seiner Blöße aus dem Wasser klettert, sich hinter der Palme ankleidet und sein dreisilbiges Geschimpfe gegen den Zuschauer jenseits des Bildschirms ausstößt. Die wenigen stereotypen Geräusche, das nur nebenbei, können überraschend vielfältig eingesetzt werden. Manchmal winkt die Figur ihrem Beobachter auch zu oder zwinkert durchs Fernrohr. Hier dürfte die Fiktionsironie tatsächlich dieselbe Funktion haben wie beim Theaterwitz: Die Beobachtungsbeziehung wird hervorgehoben und ihre Umkehrbarkeit angedeutet: Darsteller betrachtet ZuschauerIn. Auch diese Wendung setzt bereits ein recht differenziertes Niveau erfolgreicher Sinnkonstruktion voraus: die Reflexion auf Beobachtungsbeziehungen selbst. Diese kann wiederum nur einsetzen, wenn zumindest relativ klar ist, daß überhaupt etwas relativ Konstantes beobachtet werden kann.

Schließlich kommt außer den kurzen 'Cartoons' und den stückweise erschließbaren längeren Sequenzen auch eine Art von Episoden vor, deren anspruchsvoller strukturierten Verlauf kaum ein/e BenutzerIn durch das Wiederaufnehmen von ernsthafter Arbeit unterbrechen wird. Aus dem den meisten Medien gemeinsamen Repertoire typisierter Komödienfiguren wird Johnny die Identität des ewigen Verlierers zugewiesen. Er landet dann in einer derartigen Sackgasse – badend und vom Vogel der Kleider beraubt z.B., oder als Wasserskiläufer wider Willen, weil ein Hai an seiner Angel angebissen hat -, daß gleichsam ein Vorhang fallen und die Ausgangssituation hinter der 'Bühne' wiederhergestellt werden muß – elektronische Umbaupause mit einer klaren Pointenstruktur. Hier wird auch ein filmisches Darstellungsmittel übernommen, wenn sich der Bildausschnitt abschließend kreisförmig um den Pechvogel zusammenzieht.

Ist man als Schoner-Schauer literarisch einigermaßen vorkonditioniert, werden vermutlich die aus Printfiktionen vertrauten Momente eher verstärkt und rücken stabilisierend in den Vordergrund. Das entspräche der konstruktivistischen These, daß subjektabhängige Voraussetzungen die Sinnerzeugung wesentlich bestimmen. Wie angedeutet, wirkt bei fragmentarischen Eindrücken häufig eine Art Gestaltergänzungsmechanismus; so zum Beispiel, wenn das ruckartige Verschwinden von Johnnys Lagerfeuer einerseits als ganz normales Ausbrennen gesehen und andererseits die zunächst überraschend auftauchende neue Figur, nämlich die ‚fremde' Frau am Großstadt-Strand selbstverständlich zu dem Schiffbrüchigen in Beziehung gesetzt wird. Beide Fälle mögen sozusagen zwei Extreme einer auf sehr verschiedenen Ebenen stattfindenden Konstruktion von Erzählzusammenhängen sein: kurzfristiges Überbrücken fehlender Gegenstandskonstanz einerseits, komplexeres Unterschieben einer Liebesgeschichte als romanhaftes Handlungsmuster andererseits.

So ist es auch wahrscheinlich, daß bei längerem Gebrauch die Episodensequenzen weniger zufällig erscheinen. Die eigene Flaschenpost kommt zwar zurück, 'bevor' sie geschrieben wurde, aber der Benutzer weiß aus früher gesehenen Episoden, daß es eben Johnnys eigene ist. So stabilisiert sich bei bestimmten kleineren Einheiten gleichsam ein Vorrat von Motiven, die dann zunehmend autonom in beliebige Zeitsequenzen eingesetzt werden können und dennoch einen zunehmend stabilen, konventionellen Sinn erhalten. Man könnte das eine Modularisierung potentieller Fiktionselemente nennen.

Von solcher Modularisierung lebt offensichtlich die Serialität von Inselwitz wie Zigarettenwerbung. Denn das Schema der Inselwitze ist ja bekannt: der Robinson wird mit Dingen, Figuren, Verhältnissen konfrontiert, die nur in der 'Zivilisation' ihren Sinn zu haben scheinen, in der Einsamkeit aber komisch wirken -, und über die Variationen dieses Schemas amüsiert man sich. Ebenso ist das Gebot bekannt, bei der Plakatwerbung für Zigaretten "nur die Packung" abzubilden – und das reicht aus als kontinuitätsstiftendes Moment, dem sich immer neue Variationen zuordnen lassen. Beim bewußten Beispiel kann dann auch einmal nur die stereotyp gefärbte leere Hintergrundfläche mit entsprechender Schlagzeile gezeigt werden ("Die L[...] sind heute fort. Die tun was."). So weit sind hier einzelne Gestaltungselemente modularisiert. Sie können daher der Sinnkonstruktion gleichsam 'selbständig' angeboten werden.

Andererseits aber kann mit längerer Benutzung des Schoners besonders bei den kürzeren Episoden auch der Eindruck abnehmen, daß hier überhaupt etwas 'erzählt' werde. Die pure Bildschirmschonerfunktion mag dann wieder dominieren, wenn die User 'gelernt' haben, daß viele Episoden eben nicht eindeutig zugeordnet werden können, und daß, anders als im Alltagsleben, kürzere und längere Handlungszyklen hier keine Folgen füreinander haben, sondern jeweils autonom und ‚modularisiert' zur Gestaltergänzung angeboten werden.

So mag zwar ein ‚erzählender Bildschirmschoner' seine User dazu anregen, eine ganze Reihe von Elementen literarischer Fiktion nachzukonstruieren – literarische Motive, stereotype Charaktere, Pointen, sich steigernde Handlungen, Fiktionsironie, stoffliche Anspielungen. Vorauszusetzen ist aber eine starke Modularisierung von Größen wie Zeit und Handlung – eine Zerlegung in kleine, beliebig anzuordnende und doch gerade noch 'sinnvoll' ergänzbare Einheiten. Ob sich dadurch aber Fiktion quasi per Zufall in jedem Medium wie von selbst einstellt? Da wäre eben doch mehr vergleichende Forschung auch mit anderen Versuchssubjekten erforderlich.

Diese erfordert letztlich auch die Frage, ob sich nun eine konstruktivistische Deutung bewährt, die die Modularisierung kleiner Einheiten einerseits und komplementäre Tendenzen zur Gestaltergänzung andererseits als Erklärungshilfen einsetzt. Zumindest ist der Bildschirmschoner in den Communities des Web und angesichts der gleichzeitigen extremen Ausdifferenzierung und Vermischung von Lebensstilen nicht mehr gut als eine subkulturelle Form des Erzählens zu bezeichnen, was teilweise auf emergentes Erzählen in Witz und Werbung noch zugetroffen haben mag. 'Trivialität' ist dieser Darstellungsform ebenfalls nicht nachzusagen, da sie doch an die Sinnerzeugung gewisse Ansprüche stellt.

Sinnerzeugung in konstruktivistischem Verständnis ist als Deutungsmodell dann besonders plausibel, wenn auf untergeordneten Ebenen Erwartungen an Kohärenz und Konstanz enttäuscht werden und nur durch Gestaltergänzungen befriedigt werden können. Etwas schwieriger mit konstruktivistischen Annahmen vereinbar scheint dagegen die gegenüber den anderen Fällen emergenten Erzählens in Kino- und Plakatwerbung andersartige Motivierungssituation zu sein. Bei den letztgenannten medialen Gattungen ist eine Rezeption zwar auch kaum Selbstzweck, aber sie wird quasi als Zusatznutzen durch begleitende Erwartungen gefördert. Dagegen konkurriert der screen saver direkt mit anderen Aktivitäten, die am selben Gerät nicht zugleich ausgeführt werden können. Der Motivkonflikt steigert also die Zerstreuung durch das zufallsgesteuerte Wahrnehmungsangebot. Der Film beginnt zwar meist auch erst nach der Kinowerbung und läuft nicht gleichzeitig mit ihr, sieht ihr aber technisch (und durch Produktplacement...) ähnlicher als der Bildschirmschoner einem Datenbankformular...

Motivkonflikte können aber in konstruktivistischer Sicht emotionale wie auch kognitive Hindernisse für eine Sinnerzeugung sein. Funktioniert diese also beim Bildschirmschoner dennoch relativ gut, und zwar einschließlich der angedeuteten Verschiebungen und Hilfskonstruktionen zum Verstehen der Figur, dann wäre diesem Zusammenhang von Mediengebrauch und Motivation mit konstruktivistischen Thesen nochmals kritisch nachzugehen. Zufällige Angebote an mehr oder minder zerstreute Rezipienten können offenbar die Konstruktion von fiktionalen Sinnzusammenhängen in vielen medialen Verwendungsformen unterschiedlich gut provozieren. Die jeweiligen Motivationsstrukturen sollten – auch theoretisch – genauer differenziert werden, um den konstruktivistischen Ansatz zu testen. Man muß dabei ja nicht so weit gehen wie Johnny, der seine Sandburg beim ersten Rieseln aus der Fassade jähzornig gleich ganz zerstört...



Ausführlichere Angaben zum Thema über e-mail beim Verfasser: MMaurach@aol.com

   


    

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