Jacques Derrida / Tod von Jacques Derrida / Nachruf / Dekonstruktion


Mario Grizelj (aus Paris)

Über Derrida(s Tod).
Persönlich Unpersönliches



Es ist, was es nicht ist, und ist nicht, was es ist“
(Derrida, Ousia und Gramme)

Die Verstörung hält an. Darüber, dass mit Derrida ein exzeptioneller Denker der abendländischen Philosophiegeschichte gestorben ist, darüber, dass mit ihm ein Schriftsteller gestorben ist, dessen Texte und Denkfiguren einem ans Herz gewachsen sind, und Verstörung darüber, dass man nicht weiß, ob es eine besondere Ehre bedeuten soll, sich zum Zeitpunkt seines Todes, völlig zufällig, in derselben Stadt aufzuhalten. Ist man hier in Paris Derrida(s Tod) näher als anderswo? Diese Frage ist hier und jetzt, weil man sich eben gerade hier in Paris und nicht auch noch woanders aufhält, unbeantwortbar. Um jedoch nicht in der Umklammerung der Verstörung und der Unbeantwortbarkeit zu erstarren, sondern vielmehr etwas zu gewinnen, bietet es sich pragmatisch an, zum einen zu beobachten, wie Paris, wie Frankreich Derrida(s Tod) beobachtet, und zum anderen zu beobachten, wie man selbst Derrida(s Tod) beobachtet. Im Folgenden soll es um diese zwei Blickkonstellationen gehen.

In Deutschland ist Derrida gemäß seiner immer noch vielgelesenen frühen Schriften primär ein Textphänomen. Sicherlich weiß man, wie er aussieht, vielleicht sind auch Filme über ihn gesehen worden, aber Derrida ist, zumal in den Seminaren der Universitäten und der persönlichen Lektüre, das, was seine Texte sind. Hier in Frankreich, in Paris ist meine Überraschung doch groß ob der Flut an Bildern und Stimmen, die man von Derrida sieht und hört: in Zeitungen, im Fernsehen, auf Bildschirmen in Bibliotheken und im Radio. Der Denker des entkernten und dezentrierten, wenn nicht gar zerfallend-verschwindenden Subjekts erscheint hier in seiner ganzen charismatischen Leibhaftigkeit. Und oft, gerade bei den vielen eindringlichen Photos, meint man eine geradezu taktile Nähe spüren zu können.

Die Trauerarbeit richtet sich zu großen Teilen an Jacques Derrida als Subjektgröße mit Biographie, Lebensabschnitten, Freunden. Dabei ist es erstaunlich, dass Derrida immer als Philosoph dargestellt wird; hin und wieder wird erwähnt, dass er in jungen Jahren ein guter Fußballer war, aber insgesamt wird seine Biographie, wird Derrida als Subjekt, konstitutiv an sein Leben als Intellektueller gebunden. Nichts Privates oder gar zu Enthüllendes im landläufigen Sinne ist von Belang. Die Photos zeigen Derrida meistens an seinem Arbeitsplatz in Ris-Orangis, zwischen den Büchern seiner Bibliothek oder im Hörsaal einer Universität, und es dominieren die Bilder, wo auf denen Derrida mit anderen Denkern zu sehen ist, mit Lyotard und Deleuze, mit Glucksmann, mit Bourdieu oder mit Ponge. Zwischen Biographie und Philosophie, zwischen dem eigenen Leben und dem eigenen Denken scheint es keinen Unterschied zu geben. Insbesondere die vielen Nachrufe von Kollegen und Freunden, die so gut wie alle auch Denkkollegen waren, zeugen in ihrem Insistieren auf das Denken Derridas davon, wie sehr hier ein Mensch als Philosoph gelebt hat.

„Philosophieren heißt sterben lernen.“ Dieses Credo hat Derrida in sein Leben eingewebt, indem er schon lange sein Denken konstitutiv dem Verhältnis von Tod und Überleben gewidmet hat, sich also um die Frage bemüht hat, wie und ob das Philosophieren sich dem Da-Sein und Nicht-Da-Sein widmen kann. Beobachtet man, wie Frankreich Derrida beobachtet, wird man sich dessen wieder klar bewusst. Beeindruckt ist man nicht zuletzt von der Art und Weise, wie die wirklich vielen und ausführlichen Zeitungsartikel und Radiosendungen mit Derrida und seiner Philosophie umgehen. Diese ist, die etwas parfümierte Formulierung sei mir verziehen, sachlich und liebevoll zugleich. Hier wird das dekonstruktive Denken ausgiebig, präzise, anspruchvoll, oft in Form von langen Zitaten, dargestellt und kommentiert. Den Lesenden wird die Komplexität und Kompliziertheit Derridas zugemutet, wobei die Selbstverständlichkeit und auch Leichtigkeit überrascht, mit der das schwierige dekonstruktive Denken präsentiert wird. Dadurch verliert es viel von der ihm oft zugeschriebenen Dunkelheit und Exotik; hier in Frankreich, in Paris, wird Derridas Denken voll und ganz ernst genommen. Zumindest in den Tagen nach seinem Tod. Dies zeigt sich auch darin, dass vieles aus der derridaschen Philosophie nun auf Derrida(s Tod) appliziert wird: sein Denken über das Überleben, sein Denken vom Verschwinden und von Präsenz/Absenz oder seine Philosophie der Freundschaft. Durchgängig wird betont, dass Derrida gerade seine Philosophie der Freundschaft tagtäglich gelebt hat. Auch hier stellt sich eine eigentümliche Nähe zum philosophischen Freund Derrida ein; auch wenn man ihn nicht persönlich kannte, ahnt man, welchen guten und treuen Freund man hätte haben können, und man wird von Trauer und phantomhaften Verlustgefühlen überrascht.

Es ist sicherlich deutlich geworden, dass das Beobachten des Beobachtens hin und wieder die nötige Distanz missen ließ. Es ist so, als ob mich, hier in Paris, Derrida(s Tod) so affiziert, dass ich auch über die mediatisierte Wahrnehmung anhand von Photos, Zeitungstexten und Radiostimmen hinweg in Kategorien wie Betroffenheit, Nähe, Berührung, Verlust, Trauer denke, in Kategorien also, die das Beobachten von Beobachten eher meiden sollte. Es ist eigenartig, wie die unmittelbare Nähe zu den vermittelnden Medien meine wissenschaftliche Distanz und mein Wissen über Medienwirklichkeiten als den ’eigentlichen Wirklichkeiten’ mit der Suggestion von Unmittelbarkeit und Dabeisein zu kontaminieren scheint. Obwohl Derrida(s Tod) als geballte Medienwirklichkeit daherkommt, beobachte ich ihn so, als ob dies nicht so wäre, so, als ob Derrida(s Tod) eine unmittelbare Präsenz besäße. Es scheint, dass das Beobachten des Beobachtens mich ein wenig verrückt hätte, mich ein wenig zu mir selbst verschoben hätte, meinen Zoom für Nähe/Distanz beschädigt hätte. Dadurch ist meine Wahrnehmung Derridas in den letzten Tagen minimal entgleist, sie hat anhand des Beobachtens des Beobachtens subtil Fleisch und Blut bekommen. Nun interessiert mich vor allem, wie dieses Entgleisen – und dies ist derridaesk gefragt – für mein Denken und für mein Beobachten von anderem Denken fruchtbar werden kann.

Derrida kann als der Philosoph des ’Un-’, des ’Ver-’ und des ’De-’ bezeichnet werden: Es geht um das Unmögliche, Unpräsentierbare, Unentscheidbare, um Verschiebung, Verspätung, Vertagung oder um Dekonstruktion, Depräsentation, Dezentrierung. All diese Momente führen (mit vielen anderen zusammen: Hymen, Invagination, Dissémination usw.) eine Verrückung in jedes Denken ein, das dadurch weder zu einem Ziel noch zu ’sich selbst’ finden kann. Somit ist eine permanente produktive und kreative Unruhe eingebaut, die das Denken unabschließbar und konstitutiv revidierbar macht. Deshalb rede ich immer lieber vom Dekonstruieren und weniger von Dekonstruktion, um damit die Suggestion eines Abschlusses gänzlich zu tilgen. Das Wichtige ist nun, dass diese Philosophie des ’Un-’, des ’Ver-’ und des ’De-’ nicht allein ein negatives Moment markiert, sondern vor allem in ihrem Verrücken und Dekonstruieren gleichzeitig sowohl einen schöpferischen Impuls als auch einen Impuls des ’Jenseitigen’, d. h. des Weder-Noch und des Sowohl-als-Auch bezeichnet. Die Dekonstruktion ist weder konstruktivistisch noch destruktionistisch, indem sie sowohl das eine als auch das andere ist. In dieser paradoxen Bewegung, in diesem Schnitt des ’De-’, liegt die Möglichkeit begründet, jenseits der vom Begriff Dekonstruktion selbst aufgerufenen Möglichkeiten zu denken. Die Dekonstruktion ist somit immer zu sich selbst, immer zur eigenen Bewegung des Dekonstruierens verschoben. Im Dekonstruieren wird das Prinzip konstituiert, dass ein Denken etwas möglich macht und gleichzeitig die Realisierung dieses Möglichen immer der Unmöglichkeit zuführt. Dadurch begibt sich das Denken in die Lage, etwas zu tun, was es gar nicht kann: Es denkt etwas, was es nicht denken kann und übersteigt in diesem Denken des Unmöglichen das nur Mögliche.

Das, was Derrida so eindrucksvoll an den Texten der Philosophiegeschichte aufgedeckt hat – die Aporie zwischen Sagen und Tun – wird vom Dekonstruieren immer wieder am Dekonstruieren selbst vollführt. Jeder Text postuliert ein Denken mithilfe von Bewegungen, die gegen das postulierte Denken agieren, wobei diese subversive Bewegung des Dagegen-Agierens konstitutiv ist für das Denken selbst. Entscheidend ist dabei, dass es hier nicht um die Zelebrierung von Paradoxien und Aporien geht, sondern um eine Form des Philosophierens, die immer danach fragt: Wie kann mein Denken anhand der Paradoxien und Aporien zu einem neuen Denken und Tun angeregt werden. Oft wurde und wird der Dekonstruktion vorgeworfen, dass sie sich im Paradoxen verliere und ihr eigenes Fortschreiten blockiere; keineswegs, es ist gerade das hier dargestellte Dekonstruieren des Dekonstruierens, das in den Bewegungen des ’Un-’, des ’Ver-’ oder des ’De-’ das, was es schafft, subvertiert, indem es das, was es subvertiert, schafft – also produktiv und schöpferisch ist. Und dies ist kein verspielter Intellektualismus, sondern konstruktive ’Überlebensphilosophie’. Dies hat Derrida bis zuletzt gedacht und gelebt: „ich sage widersprüchliche Dinge, die, sagen wir, in einem wirklichen Spannungsverhältnis stehen, die mich erschaffen, die mich leben und die mich sterben machen werden“ (Derrida, Das Leben, das Überleben).

Mich interessiert hier am Dekonstruieren in erster Linie, dass das Denken neben sich steht, indem es sich denkt. Es ist zu sich selbst verrückt und in dieser Verrückung liegt kein zu überwindendes Problem, sondern das Konstitutionsprinzip des Philosophierens und des Lebens. Wenn ich mich nun beobachte, wie ich Frankreich, Paris, beim Beobachten von Derrida(s Tod) beobachte, kann ich an mir die oben erwähnte Verrückung und Verschiebung erfahren. Nicht im mindesten behaupte ich, dass sich meine Verrückung mit der Derridas und seines dekonstruktiven Denkens vergleichen lässt, es geht mir vielmehr allein darum, dass es dieses Verrücken gibt und darum, dass es mich, wie jede andere Person auch, dazu animieren kann, sich zu fragen, wie das eigene Denken und Leben produktiv und schöpferisch beobachtet werden kann. Es geht mir darum, die durch mein Beobachten von Derrida(s Tod) erfahrene Verrückung meiner Beobachtung als das Moment zu deuten, das mich erschafft, indem es mich subvertiert. Es geht darum, die Verstörung und Verrückung zu bejahen, die Momente des eigenen Entgleisens, der eigenen Widersprüche und Aporien in ihremn für mein Denken und Leben konstitutiven Zügen zu erkennen. Das Beobachten von Derrida(s Tod) hier in Paris hat mein Beobachten gestört und verrückt; nun wäre es schön, wenn ich Derrida(s Tod) so lange wie möglich nachvibrieren lassen könnte, in dem Sinne, dass ich mich nicht wieder einrücke, sondern, dass ich von nun an als Ver-rückter und Verstörter meine Unmöglichkeiten möglich zu machen versuche.

Indem ich beobachte, wie ich Frankreich, Paris, beim Beobachten von Derrida(s Tod) beobachte, beobachte ich, wie Derridas Tod mehr ist als der Tod eines großen Philosophen: Sein Tod markiert auch das Überleben des Dekonstruierens in jedem von uns. Es wäre schön, wenn Derridas Tod als ewig aufgeschobener, als nie präsenter Tod, als immer zu sich selbst verschobener Tod beobachtet und für unser eigenes Denken und Leben bewahrt werden könnte. In diesem Sinne: Möge Derridas Tod nie ein Ende finden!



Verfasser: grizelj@oleco.net , veröffentlicht am 22.10.2004

   


    

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