Mario Grizelj


„Ich biete Ihnen meine Arbeit Ihres Hörens an.“
Oskar Pastior ist tot.

 

Oskar Pastior lebte in der Sprache mit der Sprache & dies so, dass es außerhalb seiner Texte und seiner Sprache nichts gab, das nicht immer schon innerhalb seiner Texte & seiner Sprache gewesen sein wird. Er schrieb einmal, dass die Welt sich zu den Texten nachliefert. Indem geschrieben, geredet & gehört wird, entsteht im Nachhall, gleichsam als Nachleuchteeffekt die Welt. Eine radikal antimimetische Ästhetik ist das. Und mimetische Literaturkonzepte, auch das sagte Pastior explizit, sind ihm zuwider.

Wie nun liefert sich die Wirklichkeit von Oskar Pastiors Tod Oskar Pastiors Texten nach? Greift man in Pastiors Wortzauberkiste, lässt sich vielleicht so etwas zusammenbasteln: „Karos Rostiap aus der Welt gekippt off off – blänntä.“ Nun, sicherlich wäre Pastior anders mit seinen Worten umgegangen & dies würde sicherlich schöner klingen, aber es ist auch tatsächlich nicht notwendig, rumzudilettieren & holprig rumzupoesieren, da Pastior sich seinen Nachruf Ende der 1970er wunderbarer- & unheimlicherweise schon vorgeschrieben hat. Fakten seines Todes (wie man sie gerade erzählt bekommt): Er starb in der Nacht vom 4. zum 5. Oktober in einer Frankfurter Wohnung bei Freunden. Frankfurt deshalb, weil die Buchmesse auf der Agenda stand. Er starb ganz plötzlich & ruhig, überraschend & sicherlich selbst überrascht auf einem Sofa beim Zeitungslesen. Sein Kopf sank ihm auf die Brust – er schlief sich in den Tod. Liest man nun den Tod als den verlängerten & ewiglangen Schlaf, so kann man sich Pastiors Sterben folgendermaßen vorstellen:

Über meinen Schlaf

Früher, wenn ich einschlief, kam der Schlaf. Heute,
wenn der Schlaf kommt, schlafe ich schon tief. Der
Schlaf kam damals später, jetzt schlafe ich früher

ein. Wenn ich tief schlafe, kommt es vor, daß der
Schlaf, wenn er dann kommt, mich noch einmal weckt,
bevor ich weiter tief schlafe. Früher war das so:

ich schlief, und der Schlaf kam. Bloß wenn ich auf-
wachte, war er wieder fort – ein unruhiger Gast.
Jetzt kommt und geht er etwas ruhiger, während ich

schlafe, und manchmal ist er plötzlich da, wenn ich
wach bin. Dann wache ich auf und sehe, daß er da
ist. Es geht mir der Schlaf durch den Kopf, auch

jetzt, ich kann nicht einschlafen, bevor er geht:
dann muß er wohl kommen. So ist es jetzt anders wie
früher. Er kommt und er geht, ich bin wach und ich

schlafe. Manches geht mir durch den Kopf, der im
Unterschied zu früher dem Schlaf immer unähnlicher
Wird: auch er kommt und geht, auch er weckt mich

hin und wieder, während ich denkend ihn schlafen se-
he, bevor der Schlaf kommt, diese beunruhigende Ru-
he, die keinen Schlaf kennt, auch wenn ich wach bin.

Über meinen Schlaf/Tod: der vorrufende Nachruf. Dieses Mal kommt der Schlaf, geht jedoch nicht wieder, sondern bleibt & vielleicht war Pastior durch dieses Bleiben so überrascht, dass er einfach einschlief, ohne sich noch einmal vom Schlaf aufwecken zu lassen. Vielleicht schlief er auch gerade nur ein & sah, dass sein Gedicht von vor 30 Jahren jetzt die Welt einforderte, die vor 30 Jahren sich dem Text noch nicht nachliefern wollte. Oskar Pastior ist tot & die Welt liefert sich seinen Texten auch weiterhin nach. Das ist nicht nur antimimetisch, sondern auch kontrafaktisch. Mehr kann man von Poesie nicht verlangen.

Warum trauert man um Oskar Pastior? Weil er nicht nur der größte deutsche Experimentaldichter ist/war, sondern überhaupt einer der größten deutschen Dichter. Michael Lentz hierzu kurz & knapp: Oskar Pastior ist ein Genie. Tatsächlich verstand es niemand sonst, Sprache – & die ihr nachleuchtende Welt – immer wieder neu zu erfinden, indem er sie aufknackte, aufdröselte, neu & alt zusammensetzte, in Wallung brachte, verlangsamte, beschleunigte, liebkoste, verfremdete & nahe brachte usw. usf. Was nicht alles für wunderbare Begriffe an Oskar Pastior & seinen Texten haften: Zungenzwinkerer, Alphabetjongleur, Kunstmaschinist, Silbendrechsler, Sprachakrobat, Formkünstler, Wortschatzmagier, Reisender im Buchstabenall, lingualer Neutöner, – es ist die Rede von Gedichtgedichten, Wuselpunkten, Rahmengeplänkel, von Textgenese als Vivisektion, Textgenese als Schlachthof, Voodoo ludens, Gaumenkitzler, Buchstabenalchimie, molekulares & inframolekulares Cracking, Ohren-Leasing, Palindromitis, Wechselbalg, phonetischer Aspik, krimgotische Schleuse, privates Algengewusel, Peristaltik der Ganglienstränge, semantische Kinetik, Kehlkopf im Ohr & Ohr im Kehlkopf ...

In diesem glitzernden Durcheinander liegt auch schon ein Schlüssel zu Pastiors Werk. Natürlich gehört es in eine Reihe mit DADA, Schwitters, Stein, Chlebnikow, Heißenbüttel, Zürn, Artmann, Mayröcker, Prießnitz, Perec, Queneau oder Claus, natürlich kann man Pastior als Märchenonkel der Avantgarde (Lothar Müller) oder als heimlich öffentlichen König der Experimentellen bezeichnen & er ist es auch. Was sein Werk aber im Dunstkreis des Experimentellen zu einem exzeptionellen experimentellen Werk macht, ist die De/Konstruktion des Experimentellen selbst. Pastior spricht von verschiedensten Verfahren, die er beim Schreiben verwendet, seine einzelnen Gedichtbände sind jeweils neue Versuche & Projekte, neue Verfahren des Dichtens in Gang zu bringen. Seine Projektpoetik, die sich in ihrer Auffächerung in verschiedenste Projekte & Verfahren als Poetik selbst dementiert, ist nicht nur experimentell, sondern vor allem die permanente Konstruktion & Dekonstruktion des Experimentellen. Entlang von Pastiors Werk sieht man, dass die Identität des Experimentellen in der konstitutiven Differenz ihrer Verfahren besteht. Das Experimentelle ist das, was es nicht ist. Dass es keine Poetik des Experimentellen gibt, bedeutet auch, dass sich Pastior, wie er sagt, immer weiter überraschen lassen will. In der differenziellen Nicht/Identität des Experimentellen liegt der Schlüssel verborgen, wie immer wieder neu & überraschend die Welt sich der Poesie nachliefert. In diesem Sinne erfindet Pastior nicht nur permanent neue Verfahren des Dichtens, sondern er erfindet stets das Dichten neu, das sich im permanenten Erfunden-Werden als Dichtung konstituiert. Also nicht: Es gibt experimentelle Poesie, sondern: Poesie ist experimentell, sonst ist sie keine Poesie. Das wissen wir mithilfe von Pastiors Werk & da es dieses Werk nun eben gibt & nicht nicht gibt, gibt es auch keine Poesie vor oder jenseits von Pastior. Also nicht: Es gibt pastiorsche Poesie, sondern: Poesie ist pastiorisch, sonst ist sie keine Poesie.

Im Detail – kurz angeschnitten − sieht dies folgendermaßen aus: Pastior hat einen Hang, Poesie & Naturwissenschaften korrelierbar zu machen. Er spricht gerne von Experimentalphysik, Chaostheorie, Autopoiesis oder Entropie. Nun ist das Entscheidende nicht die Plausibilität dieser Korrelierbarkeit, sondern die Idee, dass Poesie, durch verschiedene Versuche & Verfahren in Gang gebracht, anfängt, selbst-poietisch zu werden. Entlang der sich wechselseitig konstituierenden Unterscheidungen Chaos/Ordnung, Chaos/Bedeutung, Kontrolle/Nicht-Kontrolle geht es darum, die Entropie autopoietisch in Gang zu bringen. Die Frage: Wie vorhersehbar ist das Unvorhersehbare? wird konstitutiv. Pastior markiert immer ein präzises Verfahren, das die Sprache genau beackert, wird aber dann, wenn das Verfahren zum Selbstläufer geworden ist, überrascht von dem, was das Verfahren alles so kann. Es beginnt mit kontrollierter Präzision & geht dann über in eine nichtkontrollierbare Kreativität der in Gang gebrachten autopoietischen Poesiemaschine.

Dies alles ist wichtig, da Poesie nicht als Ergebnis genialischen oder handwerklichen Dichtens angesehen wird, sondern als in Bewegung gesetzte Autopo(i)etik. Pastior erfindet nicht Sprache, Texte, Poesie, sondern hilft der Sprache beim Poetisch-Sein bzw. Poetisch-Werden. Nicht umsonst schreibt Pastior Sätze wie diese: „wäre dies Rahmengeplänkel nicht auch so ein poetologisch konstitutiver Wuselpunkt in allem was mich schreibt indem ich schreibe, also nicht das übliche Stöhnen über Schwierigkeiten überm weißen Papier.“ Oder: „Lebensmittel sind die Texte wie auch alle Texter die mich sprechen“, oder: „All das nun: wenn und wie ich sprachlich, d. h. wenn und wie Sprache ichlich ’sich’ herstellt – ’mich’ herstelle; ein Beziehungsgeflecht; nicht unbedingt verfügbar: doch verfugt: material sozusagen.“ Oder: „Poesis und Poesie – zum Verwechseln ähnlich“, oder: „Einmal, das es spricht, spricht die Sprache.“ (Mag jemand hier an Heidegger denken wollen?)

Wieso sind nun solche poetologischen Überlegungen wichtig in einem Epitaph? Indem Pastior Sprache & Dichtung in Gang bringt, autopoietisch sich zu reproduzieren & dabei Pastior in Gang zu bringen, gehört die pastiorsche Poesie nicht nur Pastior, sondern allen, die diese Poesie lesen & hören. Indem die autopoietische Poesiemaschine in Fahrt kommt, bekommen wir Lesenden & Hörenden nicht nur die Möglichkeit, da mitzulesen & mitzuhören, sondern wir werden zwangsläufig selbst – wie in einer Möbiusschleife – zu Lesenden & Hörenden, die durch ihr Lesen & Hören die autopoietische Poesiemaschine in Gang bringen, die uns allererst zu Lesenden & Hörenden macht. Pastiors Werk erlaubt es uns, unser Lesen & Hören als konstitutive Momente von Poesie beobachtbar werden zu lassen. „Ich biete Ihnen meine Arbeit Ihres Hörens an.“ „Ich danke Ihnen für die Arbeit am Text.“ „Sie sehen, was diese Texte zusammenhält, ist, daß ich sie Ihnen jetzt vorlese. Sie halten sie zusammen, indem Sie zuhören.“ Indem wir an der Poesie Pastiors Teil haben, sind wir mit ihm zusammen Ereignisse der autopoetischen Poesiemaschine, die uns durch die Möbiusschleife jagt, indem wir sie durch die Möbiusschleife jagen. Wie hat Pastiors Dichterkollege Michael Lentz diesbezüglich so schön formuliert: „Und wenn’s gut geht, fallen Lesen, Hören, Verstehen, Deuten und Hervorbringen in eins.“ Dieser Nachruf auf Oskar Pastior ist auch ein Rufen, ein Rufen an uns Lesende & Hörende Pastiors autopoietische Poesiemaschine weiter am Laufen zu halten. Bei diesem Nachruf hier denke ich nicht nur an Oskar Pastior & sein Werk, sondern auch (oder vor allem) an mein Lesen & Hören. Denn beim Lesen & Hören von Pastior sind wir nicht die passiv aufnehmenden, sondern die Aktiven, die Agilen (Michael Lentz). Pastiors Poesimaschine lässt uns loslesen (wieder Lentz), loshören, losschwingen, mitschwingen.

Und doch, wie kann man an der Poesiemaschine mitlesen & mithören, wenn das eine Moment der Maschine, der Dichter, nicht mehr da ist. Zum Laufen der Poesie-Maschine gehört ja, dass Pastior immer wieder in ganz Deutschland Lesungen hielt & solchermaßen geradezu mit seiner Erscheinung & Stimme die Zündfunken für die Maschine sprühen ließ. Ich weiß es nicht.

Mit Oskar Pastiors Tod ist nicht nur ein herausragender Dichter gestorben, sondern auch die Abende, bei denen man an seinen Lippen, an seiner Stimme, an seinem Tonfall, an seinen Gesten hing. Zur differenziellen Identität des Experimentellen gehörte bei Pastior (und nicht nur bei ihm, ich denke bspw. an Jandl) das Vortragen, das Vorlesen & das Hören & das Sehen. Dabei denke ich nicht an Pastior als Menschen oder als Autor, sondern an seine mediale Präsenz, die in den besten Momenten nicht eine Aura, aber eine Art magischer Medialität spürbar werden ließ. Es geht dabei nicht um die sowieso illusorische Authentizität von Leseabenden, sondern um die Verkörperung medialer Praktiken.

Oskar Pastior ist tot. Wundervolle Abende sind tot. O.k., Gott sei Dank, es gibt Pastior auf CD. Bspw. „ügel beg und ügel tal“ oder als Hommage an G. Stein „Reread Another“ & gerade erscheint eine neue CD „Lektüren“. Jedoch, sosehr man hier mit aller Inbrunst der weichen Stimme Pastiors lauscht, sich mit Kopfhörern in einen Lesesaal hineinzuimaginieren versucht, es klappt (noch) nicht. Zu frisch sind die Bilder, die man von Pastior − doch neulich erst live gesehen, gehört, gefühlt – noch hat.

Was bleibt zu tun? Paradoxerweise nur dies: Hoffen, dass diese Bilder noch solange wie nur möglich in einem nachleuchten & nachbeben & gleichzeitig hoffen, dass diese Bilder schnell verblassen, damit man den Verlustschmerz nicht mehr so deutlich spürt & anfangen kann, seine Bücher zu lesen & seine CDs zu hören, ohne sie immer wieder an den unvergesslichen & jeweils einmaligen Abenden der Lesungen messen zu müssen. Je länger sich diese Paradoxie aufrecht erhalten lässt, desto eher besteht die Hoffnung, die autopoietische Poesiemaschine am Laufen zu halten.

So wie sich die Wirklichkeit den Texten nachliefert, liefert sich auch das Leben den Texten nach. Oskar Pastior, geboren 20. Okt. 1927 in Hermannstadt, Siebenbürgen / Rumänien. Deutsche Minderheit in Rumänien. 1945 als 17 Jähriger in ein ukrainisches Arbeitslager deportiert. Für fünf Jahre. Danach 3 Jahre rumänischer Wehrdienst & währenddessen Abitur. 1955-1960 Germanistikstudium. Rundfunkredakteur („Als Reporter war ich aber schwach“). Erste Gedichtbände in Rumänien. 1968 Wienaufenthalt. Flucht nach München, dann 1969 nach Berlin. Ceauşescu: Adieu! 1969-2006 in (West)Berlin/Charlottenburg, ein mit Büchern & Leitzordnern vollgepacktes Zimmer zur Untermiete. Seit 1969 zahlreiche Gedichtbände. Hörbücher. Seit 2003 Dreibändige Werkausgabe bei Hanser. Viele renommiere Literaturpreise. Zuletzt im Mai 2006 das Highlight: Der Büchner-Preis. Verleihung am 21. Oktober an Oskar Pastior posthum & an uns alle, die an der Poesiemaschine teilnehmen.



Verfasser: mario.grizelj@germanistik.uni-muenchen.de, veröffentlicht am 19.10.2006

       

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