Jacques Derrida / Tod von Jacques Derrida / Nachruf / Dekonstruktion


Oliver Jahraus

Nachruf auf Jacques Derrida



Hätte Jacques Derrida zu seinen Lebzeiten noch seinen eigenen Nachruf geschrieben, sicherlich hätte er zuerst die Frage gestellt, was denn wohl Nachruf überhaupt bedeute. Denn dieses Nach drückt ja wohl in seiner Linie ein Zuspät aus, das angesichts des Todes überhaupt erst seine Berechtigung und im selben Maße auch seine Unzuständigkeit gewinnt, so als ob man eine unhintergehbare Differenz machen müsste zwischen der Art, wie man vor, und der Art, wie man nach dem Tod spricht bzw. schreibt. Das Vor ist die scheiternde Antizipation, das Nach aber die Unwiderbringlichkeit. Und beides zusammengenommen, bedeutet, dass der Tod eine Extemporale ist, aber das haben wir schon immer gewusst, auch wenn man es nie wird begreifen können.

Dessen muss sich ein Nachruf bewusst sein, und bewusst ist er sich dessen, wenn er ruft oder wenigstens so tut, als ob er riefe oder wenn er sich wenigsten so nennt, auch wenn alle anderen medialen Dispositionen dagegen sprechen (sprechen, nicht schreiben), obschon die Nachrufe heutzutage eher geschrieben sind. Das hätte Derrida doch gefallen, und das sei auch der Abschiedsgruß, den die Medienobservationen ihm schicken. Man schreibt einen Nachruf. Der Ruf, der geschrieben wird, die Stimme, die dann eben doch verschriftlicht wird, so als ob man die Priorität der Stimme auch angesichts des Todes, der ja immer auch den Tod der Stimme, des Geistes, des Pneumas bedeutet, anerkennen würde, aber schon im Akt der Anerkenntnis die Stimme und ihre Priorität und diese Anerkenntnis selbst schon wieder schriftlich widerruft. Wie begegnet man dem Tod, stimmlich oder schriftlich?

Derrida hätten solche Spielereien gefallen. Ja, mehr noch, er hätte sie sich, davon bin ich überzeugt, gewünscht. Als jüngst ein Film über ihn, sein Leben und seine Arbeit gedreht wurde („Derrida“, von Kirby Dick und Amy Zierung Kofman, USA 2002, vor kurzem auch in deutschen Kinos zu sehen), war die Interviewerin immer wieder versucht, Derrida aus seiner Reserve zu locken, ihn dazu zu bringen, etwas Persönliches zu sagen. Aber Derrida hat sich nicht locken und nicht ködern lassen. Er hat seine Persönlichkeit geschützt. Der Effekt war alles andere als Enttäuschung, sondern viel eher eine Bewunderung für sein souveränes Spiel. So schlimm, so kann man vermuten, wäre es auch nicht gewesen, etwas Persönliches zu sagen, schlimm wäre wohl eher gewesen, dass das Medium des Films dann auch die Sprache und die Stimme festgehalten hätte, die das Medium des Persönlichen gewesen wäre. Das Problem für Derrida lag wohl weniger darin, dass er etwas von sich verraten hätte, sondern vielmehr, dass Zuschauer und somit auch Hörer seiner Stimme ihn in dem, was er da gesagt hätte, identifikatorisch hätten festnageln können. Wie nichts sagen, wenn man etwas sagt?

Im gleichen Interview wurde Derrida gefragt, wie es denn, wenn er behaupte, dass er ein inniges und herzliches Verhältnis zu seiner Schwester, zu vereinbaren sei, dass er als Kind ihre Wiege in Brand gesteckt habe. Derrida antwortet darauf – und das unnachahmlich ist praktizierte Dekonstruktion, es sei nur einmal passiert und nicht wieder vorgekommen.

Die Angst vor der Identifikation und der Identität hat eine ganze Generation französischer Denker umgetrieben. Und es sei nur an Foucaults Idee erinnert, ein Jahr lang alles Gedruckte ohne Autornamen zu veröffentlichen, oder an seine Weigerung und Ablehnung, ihn zu identifizieren. Identifikation war für ihn ein brutaler Akt, den man bestenfalls im Kontext der Bürokratie und der Personenstandsgesetze sich gefallen lassen musste, der aber niemals jenes Leitprinzip des Denkens sein dürfte. Derrida, der jüngere von beiden, ist ihm darin gefolgt und hat ihn weit überboten. Denn für Foucault stand dann doch eine letzte Identität, die Identität des Standpunktes des Beobachters, systemtheoretisch gesprochen, nie in Frage. Und so konnte er, bei allen stilistischen Raffinessen, doch Sätze äußern, deren Gültigkeit er nicht in Frage gestellt wissen wollte. Derrida hat eingesehen, dass dieses Spiel, die Haltlosigkeit von Positionen aufzudecken – vielleicht hat er überhaupt als erster eingesehen, dass es ein Spiel war – auch vor der eigenen Position Derridas nicht halt machte.

Und vor diesem Hintergrund kann man die Epochen seiner Entwicklung sehen. Hat er in seinen frühen Schriften selbst noch diese Position eingenommen und Sätze formuliert, die identifikatorisch waren, die – überspitzt gesagt – Sinnlosigkeit behaupteten und sich gleichzeitig vom Behaupteten selbst ausnahmen, so war er in seiner mittleren Phase geradezu penetrant darauf bedacht, auch dies zu vermeiden. In seiner späteren Phase hat diese Vorsicht nicht nachgelassen, ja, er hat seinen Stil so weit radikalisiert, häufig im Gestus der Fragestellungen und sich fortzeugenden Fragen, dass er einer Festlegung immer drastischer entging. Aber das war es nicht allein. Die Verweigerung des Arguments und der Aussage und der Wahrheit ging auf paradoxe Weise einher mit dem Bestreben, eben gerade nicht nichts zu sagen, obschon er auch gefragt hatte, wie man denn nicht sprechen könne, sondern auch immer relevantere Themen politischer und sozialer Natur anzusprechen. Auch Umberto Eco hat ihn immer wieder zu locken und zu ködern versucht; er hat gefragt, ob er, Eco, denn auch ein Spiel von unbegrenzter Semiose beginnen könne, wenn Derrida ihm, Eco, einen Brief schreibe und ihn zu einem Kongress einlade. Aber wo beide dasselbe Wissen teilen, kann ein Köder nicht greifen. Derrida hat nicht angebissen, sondern weitergespielt.

Das Problem stellte sich für Derrida ohnehin nicht. Denn seine Ausführungen zur Zeichenstruktur, die in der autoreflexiven Schleife immer auch seine Ausführungen selbst betrafen, waren auf unglaubliche Weise austariert. Das Verhältnis von Behauptung und Zurücknahme, von Aussage und Dementi war immer auf eine so filigrane Art und Weise ausgewogen, dass keine Seite die andere aus den Angeln heben konnte und der Leser – oder noch mehr der Hörer (und Derrida hat viel getan, um vor allem auch immer wieder neue Hörer zu finden und zu erreichen) – sich niemals nur auf eine Seite verlassen konnte.

Dieses Spiel hat Derrida souverän beherrscht – und dass er dieses Spiel nicht fortsetzen wird, macht allein schon traurig. Denn viele seiner Adepten haben sich immer wieder in diesem Spiel versucht – vergeblich. Auch für Derrida gilt, was angesichts des Todes und insbesondere angesichts des Todes eines Philosophen eine furchtbare Einsicht ist und was Wittgenstein so ausgedrückt hat: Es wird vielleicht nur ein Jargon bleiben. Aber immerhin, was angesichts des Todes bleibt, ist ein Eigenwert schon an sich.



Verfasser: oliver.jahraus@gmx.de , veröffentlicht am 22.10.2004

   


    

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