Alexander Schlicker

Laterna Magica: Die filmische Wirklichkeit des Traumes als Projektion des Unbehagens.
Zum Tod von Ingmar Bergman

Eine Hommage zu Ehren des großen Theaterregisseurs und Filmemachers Ingmar Bergman, die sich, neben einigen Anmerkungen zu seiner (Auto)Biografie, vor allem als retrospektive Bestandsaufnahme einiger markanter Stationen seines umfassenden Oeuvres versteht.

Ingmar Bergman starb am 30.7.2007 im Alter von 89 Jahren in seinem Haus auf der schwedischen Ostseeinsel Fårö - auf „seinem“ Fårö, das er seit den Dreharbeiten zu seinem schwierigsten Meisterwerk „Persona“ (1965/6) nie mehr lange verlassen wollte und das er während seines Exils in München bis zu seiner endgültigen Rückkehr Mitte der achtziger Jahre sehr vermissen sollte. Ernst Ingmar Bergman wurde am 14.7.1918 im schwedischen Uppsala als zweites von drei Kindern des lutherischen Pastors Erik Bergman und seiner Frau Karin (geb. Akerblom) geboren. Er drehte über 50 Filme, war unter anderem in Stockholm, London, Salzburg, Paris sowie längere Zeit in München als meist kontrovers diskutierter Theatermacher tätig und schrieb mehrere literarische Texte und Drehbücher. Bereits 1970 wurde Bergman mit einem Ehrenoscar (Irving G. Thalberg Memorial Award) sowie 1961 für seine Rachetragödie „Die Jungfrauenquelle“, 1962 für „Wie in einem Spiegel“ und 1984 für sein Geschwisterdrama „Fanny und Alexander“ mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film des Jahres ausgezeichnet. Er war fünf Mal verheiratet und wurde vielfach Vater. Das unlösbare Problem des Todes beschrieb Bergman in seiner Autobiografie als „Augenblick der Trennung“, in dem ein Jemand mit all seinen Freuden und Leiden in einen „Niemand“ verwandelt wird, der „nicht einmal das Andenken an eine Zusammengehörigkeit“ in sich tragen könne.1 Bergman wurde durch seinen Tod zum größten Niemand der Filmgeschichte, dessen filmische Kompositionen in ihren grandiosesten Momenten so geheimnisvoll erscheinen wie die Vorstellung seiner Schauspieltruppe „Les riens“ in „Der Ritus“: Was wir sehen, verbirgt sich vor uns. Was in uns ist, wird vor uns sichtbar. Scheinbar.

Für ein Leben in der Glitzermetropole Hollywood hat sich der eigenwillige Schwede nie interessiert. Und dennoch reichte sein künstlerischer Einfluss weit über die Grenzen Europas hinaus und inspirierte so unterschiedliche Filmemacher wie François Truffaut, Woody Allen, Thomas Vinterberg oder David Fincher, dessen berühmt berüchtigte Montage eines Penises am Ende seines Films „Fight Club“ (1999) bereits in „Persona“ ihr Vorbild fand.

Wie viele Geschichten und Anekdoten könnte man nun erzählen, um den Menschen hinter dem Künstler zu porträtieren und ihn damit von seinem Werk simplifizierend abzukoppeln, etwa Bergmans erste Begegnungen mit Federico Fellini, Greta Garbo und Victor Sjöström oder seinem Regielehrmeister Torsten Hammarén, seine unzähligen und meist lieblos-chaotischen Frauengeschichten (meist mit seinen Darstellerinnen), die sexuellen Frustrationen während seiner Jugendjahre („Alle vögelten, nur ich nicht. Ich masturbierte, war bleich, schwitzte, hatte schwarze Ringe unter den Augen und Konzentrationsschwierigkeiten(...) In meiner kleinen Bodenkammer schlief ich in meiner Phantasie mit allen. Ich quälte sie und verachtete sie.“2), die öffentliche Demütigung am 30.1.1976, als Steuerfahnder ihn während einer Theaterprobe wie einen Sträfling abführten und Bergman daraufhin mehrere Jahre seine Heimat verließ, die Irritationen mit der schauspielerisch konservativen Ingrid Bergman (nicht zu verwechseln mit seiner gleichnamigen Ehefrau) während der Dreharbeiten zu „Herbstsonate“ (1977/78) oder gar seine gescheiterte Suche nach Gott im protestantisch strengen Hause seiner lieblosen Familie. Bergman selbst beantwortet diese Sinnsuche für sich mit einer Deutlichkeit, wie sie innerhalb seines Werks besonders Erland Josephson in seiner Rolle als Johan in „Szenen einer Ehe“ (1973) sowie in der späten Fortsetzung „Sarabande“ (2002/3) erreicht, wenn er als alter Greis voller Hass auf sein Leben als vergeudete Chance zurückblickt und mit seinem Sohn, dem Musiker Henrik so sehr verfeindet ist, dass er selbst dessen gescheiterten Selbstmordversuch nur mit Sarkasmus kommentieren kann. Bergmans Blick auf Gott ist ein ebensolcher Blick der Verachtung, der sich in den oftmals für seine Figuren ausweglosen Lebenskrisen widerspiegelt und nur selten versöhnlich ist - ein Denk- und Werkprozess, der in seinem wechselhaften Privatleben mit allein 5 Ehen teuer errungen werden musste und Bergmans Vita allumfassend geprägt hat.

Bergman trachtete zeitlebens mit harten Beziehungsdialogen innerhalb seiner Filme danach, sich neben die großen skandinavischen Beziehungssezierer wie Strindberg und Ibsen in den Hades der bürgerlichen Liebeskonzeption zu setzen. Seine filmischen Konfrontationsdramen wie „Von Angesicht zu Angesicht“ (1976) oder „Nach der Probe“ (1983/84), in dem eine alternde Schauspielerin zwischen der Gewalt ihres Ehemannes und dem blanken Hass ihres ehemaligen Geliebten oszilliert, verzichten auf ausladende Effekte und inszenieren mit zumeist einfachsten Mitteln eine dialogische Anatomie der einzelnen, mit sich ringenden Figuren, die bestimmte Phasen ihres Lebens nicht zum Abschluss bringen können. Selbst in einem teilweise fast lasziv komödiantischen Film wie „Das Gesicht“ (1958), in dem Bibi Andersson als verführende Magd den mythisch-mystischen Ernst der Handlung konterkariert, wird Bergman allein an vier „Ehefällen“ die Hybridität von ehelichen Beziehungsmodellen erproben, ehe er sie alle einem vagen, jedoch wenig aussichtsreichen Schicksal überlässt. Die für Bergman insgesamt typisch zu nennende Referenz auf sein Vorbild August Strindberg, der sowohl als Dramatiker wie Refexionsfigur seine Theaterarbeit beeinflussen und ihn dabei in vielen „Inszenierungsversuchen“ des mysteriösen „Traumspiels“ immer wieder an sich und seinem Können zweifeln lassen wird, schlägt eine weitere Brücke zwischen seinen persönlichen Erfahrungen und seinem Werk. So lieblos Bergman die Ehe seiner Eltern als auch überwiegend seine eigenen empfand, loslösen konnte er sich von familiären Themen bis hin zu der letzten Einstellung unter seiner Regie in „Sarabande“ nie. Nicht umsonst ist in diesem Abschluss Liv Ullmann in ihrer Paraderolle als Johans geschiedene „Ehefrau“ Marinne zu sehen, die sie auch schon in „Szenen einer Ehe“ verkörpert und in ihrer Darbietung als vielleicht die weibliche Bergman-Figur schlechthin geprägt hat. Die intensive Berührung zwischen Mutter und Tochter, die für Marianne zum ersten Mal das Gefühl ihrer Verbundenheit markiert und den Schlusspunkt unter Bergmans Schaffen setzt, ist dabei kein singulärer Moment in seinem Oeuvre, sondern vielmehr der Abschluss einer Entwicklung, wie sie Bergman in vielfältiger Weise und auch an zahlreichen anderen Motivkomplexen verfolgt und geradezu durchexerziert hat.

Was bleibt der Nachwelt wirklich von diesem Film- und Theatergenie, das künstlerisch nur als Literat mit überwiegend vergessenen (Jugend)Dramen gescheitert ist und neben Alfred Hitchcock, Lucino Visconti und Stanley Kubrick eine der ebenso zeitumspannenden wie zeitlosen Regielegenden der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlechthin ist? Es sind vor allem, neben seiner Autobiografie „Laterna Magica“ aus dem Jahre 1987, die zahlreichen Filme zwischen 1950 und 1983, die Bergman trotz Zeitmangels intensiv plant. Das Festhalten an einem festen Ensemble, wie es etwa Hitchcock mit „seinen“ Stars James Stewart, Grace Kelly und Cary Grant oder Woody Allen mit Diane Keaton praktizierte, finden wir in gesteigerter Form bei Bergman: Harriet Andersson, Bibi Andersson, Max von Sydow, Ingrid Thulin sowie vor allem Liv Ullmann und Bergmans langjähriger Freund Erland Josephson: Namen, die mit Bergman und seinem Schaffen so eng verbunden sind, dass man sie gerade im Gesamtkontext des Bergmanschen Oeuvres erst in diesem vollkommenen Ensemble begreifen kann. Es ist deshalb weder verwunderlich noch Zufall, dass Bergman parallel zu seiner Ensemblegenese immer wieder auf die gleichen Namen bei der Konzeption seiner Figuren greift, und auch sie einem ambivalenten figurativen Marionettenspiel aussetzt, das zu einer Signatur seiner Filme wird. Egerman(n), Vogler, Anna, Johan, Alma, Karin, Vergérus und noch andere Namen dokumentieren diesen weiteren Charakterzug. Dabei spielt besonders der autoreferenzielle Charakter immer wieder eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn in der kompositorisch variantenreichen Anordnung seiner Figuren zeigte sich der konzeptionell getriebene und mit seinen Visionen ringende Regisseur, der seine Themen und Motive zwar oft zu wandelnden wusste, jedoch die gleichen inneren Szenen in verschiedenen Filmen bearbeitete. Wenn beispielsweise Max von Sydow in „Das Gesicht“ als vermeintlich stummer Mesmerismus-Scharlatan Dr. Vogel auftritt und als Künstler ohne tiefe Überzeugung gegen die normierende Rationalität des Wissenschaftlers Vergérus antreten muss, Liv Ullmann als berühmte Schauspielerin Elisabeth Vogler in „Persona“ nach einer „Elektra“-Aufführung im Schweigen versinkt, Sydow als verheirateter Maler in „Die Stunde des Wolfs“ (1967) von der erotischen Anziehungskraft seiner Geliebten Veronica Vogler zum Verstummen gebracht wird oder sich Erland Josephson als in die Jahre gekommenes Bergman-Alter-Ego Henrik Vogler am Ende von „Nach der Probe“ primär davon irritiert zeigt, nicht mehr die Kirchenglocken hören zu können, so lässt sich bereits erahnen, wie sich Bergmans Filme interpretatorisch konsequent zum Oeuvre zusammenfügen lassen.

Schon in den frühen Werken wird das Ensemble nach seinen Vorstellungen geprägt und zu einer Art Produktionskultur etabliert, denn seit Bergman bereits in jungen Jahren an den verschiedensten Schauspielhäusern Schwedens inszenierte, war er für seine filmische Arbeit an die Spielzeitpausen während des Sommers gebunden. Schon deshalb war es aus produktionstechnischen Gründen wichtig, auch hinter der Kamera ein eingespieltes Team mit langjährigen Weggefährten wie seinem Kameramann Sven Nykvist zu versammeln. Dass sich Bergman diesem schematisch vorgegebenen und eine hohe Arbeitsdisziplin einfordernden Rhythmus nicht nur aus innerem Arbeitstrieb hingab, sondern damit auch seiner oftmals finanziell angespannten Lebenssituation so gut wie möglich begegnen musste (es waren schon bald mehrere Ehefrauen und Kinder zu versorgen), mag als persönliche Ausrede für einige verspielte, ja geradezu naive Frühwerke wie seinem Filmdebüt „Kris“ (1945), „Durst“ (1949) oder „Sehnsucht der Frauen“ (1952) gelten, doch spätestens mit dem nur zeitweise harmonisch zarten Liebesdrama „Die Zeit mit Monika“ (1952/53) entwickelt sich der zunehmend erfahrenere und künstlerisch weitgehend gefestigte Jungstar der schwedischen Kulturszene – trotz zahlreicher, oftmals bösartiger Verrisse seiner ersten Filme durch die Feuilletons – zu dem Filmemacher, der unter anderem als mehrfacher Oscar-Gewinner zur Filmikone aufstieg und als endgültige Krönung Ende der neunziger Jahre von zahlreichen namhaften Regiekollegen in Cannes mit der „Palme der Palmen“ als wichtigster Regisseur des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet wurde.

Der Meister selbst war bei der Übergabe allerdings nicht zugegen und ließ sich durch eine seiner Töchter vertreten. Vielleicht konnte ein Mann wie er, der bis zu seinem letzten großen Film „Sarabande“ an seiner Arbeit hing und bereits als Intendant des Königlichen Schauspielhauses von Schweden harte Entscheidungen gegen unflexibel gewordene Kollegen zu treffen hatte, es nicht genießen, mit goldenem Lorbeer in den „Olymp der Lebenswerkpreisträger“ abgeschoben zu werden. „Wenn ich nicht arbeite, ist mein Leben sinnlos“3, schrieb Bergman einst über seine Beziehung zu seiner Arbeit und gibt mit diesem prägnant kurzen Ausspruch genau die Facette seiner Arbeitsweise wieder, die für ihn und fast alle seine Wegbegleiter zum Markenzeichen eines wahren Bergman wird – das imprägnierend inszenierte Selbstverständnis eines disziplinierten Arbeiters, der seine Kunst gegen jede vereinfachende Erklärung seiner Kritiker zu Felde führt.

Die kulturgeschichtlich schon zum Klischee verkommene Kampf zwischen Künstler und Kritiker spiegelt sich in zahlreichen Bergman-Filmen wider. Ein Beispiel: In der zynisch-schwarzen Komödie „Ach, diese Frauen“ (1964), in der ein intriganter, aber völlig lächerlicher Musikkritiker (Cornelius) einen für ihn unerreichbaren Meistercellisten (Felix) mit pikanten Details zur Aufführung seines eigenen Werkes zwingen will und letztlich ebenso scheitert wie der „gesichtslose“ Meister selbst, der sich - trotz oder aufgrund seiner scheinbaren musikalischen wie amourösen Triumphe - durch den plötzlich eintretenden Tod seinen Frauen und Kritikern entzieht, stellt Bergman vor Beginn der Handlung lakonisch fest: „Jede Ähnlichkeit zwischen diesem Film und der sogenannten realen Welt muss ein Missverständnis sein.“4 Und so, wie sich am Ende dieses Films die Frauen des Cellisten und der Kritiker unweigerlich ein neues Künstleropfer suchen, um sich an ihm wie Parasiten zu weiden und die biografischen Deutungen des Kritikers ungehört bleiben, so wird auch Bergman über all seine Schaffensjahre hinweg eine enigmatische, wenn auch ausweglose Flucht vor seinen Frauen und Kritikern kultivieren.

Bergman driftete jedoch bezüglich des narrativen Aufbaus seiner Filme nie in die orgiastisch experimentelle Richtung eines cineastischen Fantasten wie Jean-Luc Godard, der sich mit Filmen wie „Maria und Joseph“ (1985) oder besonders seiner verstörenden Gewaltorgie „Week End“ (1967) teilweise völlig vom klassischen Erzählkino verabschiedete und speziell unter anderem durch stark politische Inhalte und radikale Figuren (wie beispielsweise die kannibalistische „Befreiungsfront“ in „Week End“) für Aufsehen sorgte. In einer Art umgekehrt zu lesenden Produktionsnotiz zu einer Probe von Shakespeares „König Lear“, bringt Bergman seine partielle Abscheu gegen absurde, und damit an keine nachvollziehbare Erwartungshaltung gebundene Dramatiker auf den Punkt:

„Zuschauer, Regisseur, Schauspieler, Kritiker. Jeder sieht seinen König Lear, für Intuition und Gefühl vage und illusorisch greifbar. Jeder Versuch einer Beschreibung ist fruchtlos, aber fesselnd (...) Ibsen und seine Lügner, Strindbergs Erdbeeren, Molières Raserei, die in trügerischen Alexandrinern daherkommt, Shakespeares Kontinente. Teufel auch. Da lobe ich mir die Absurden, die Modischen, die Einfallsreichen: Alles ist vorhersagbar, leicht zu proben und kitzelnd lusterfüllt, kleine behende Kicks, Fast Food für Ungeduldige.“5

Bergmans Weg ging eben nicht in die Absurdität. Er konzentrierte sich vielmehr, trotz oder gerade aufgrund der allumfassenden symbolischen Ästhetisierung in fast allen seinen Filmen auf die dialogische sowie szenische Aufarbeitung der Schicksale seiner Figuren und darauf, wie er diese beiden Ebenen jeweils in seinen motivischen Oeuvrekomplex integrieren konnte. Kurz gesagt: Bergman inszenierte nicht das Ende des klassischen Erzählkinos, wie Godard für seine Filme verlauten ließ, sondern verfeinerte und förderte es vielmehr durch seine Pointierung sowohl der visuellen wie dialogischen Möglichkeit des Mediums Film. Für ihn, den Autodidakten, der auf seinerzeit „aktuelle“ dramaturgische Theoriemodelle eines Stanislawski oder Meyerhold viel Wert legte, stand der Film nicht allein als Bildmedium im Vordergrund (wie für den Meister der visuellen Filmnarration Alfred Hitchcock). Denn die medialen Entwicklungmöglichkeiten des Films waren für ihn eine Fort- und eben keine Absetzung von seiner Arbeit als Theaterregisseur, die dialogischen Konfrontation von Figuren orientierte. Die intermediale Vereinigung und Vermittlung verschiedenster Narrationsmöglichkeiten und Medieneinsätze, ohne dabei den Zuschauer, trotz aller interpretatorischer Komplexität, aus den Augen zu verlieren.

Bergman gab sein Studium der Literaturwissenschaft zugunsten eines „freien“ Bühnenengagements entnervt auf und litt zeit seines Lebens daran, in der Musik (besonders während seiner Ehe mit der Pianistin Käbi Laretei) beispielsweise bei seiner Verfilmung der„Zauberflöte“ (1974) nicht hinter die letzten kompositorischen Geheimnisse Mozarts gelangen zu können. Seine Bemühungen werden dabei von einer thematischen Stringenz getragen, die sich besonders an Motiven und Künstlern der Romantik (wie Mozart, Chopin oder E.T.A. Hoffmann) orientiert, jedoch diese nur scheinbar eskapistische Tradition durch die Konfrontation mit der harten Realität der Lebensumstände seiner Figuren meist bricht. Von seiner Bearbeitung der „Zauberflöte“ innerhalb seines hochgradig metaphorischen Schauerdramas „Die Stunde des Wolfs“, die ihn einer Gesamtbearbeitung des Mozart-Originals näher brachte, zeigt sich Bergman auch nach Jahren noch überzeugt:

„In meinem Film Die Stunde des Wolfs habe ich später versucht, die Szene zu gestalten, die mich am tiefsten berührte: Tamino ist einsam auf dem Palasthof zurückgelassen worden. Es ist dunkel. Zweifel und Verzweiflung haben ihn ergriffe n (...) Die Musik übersetzt die einfache Frage des Textes in die größte aller Fragen: Lebt die Liebe? Ist die Liebe wirklich? Die Antwort erfolgt bebend, aber voller Hoffnung in einer seltsamen Aufteilung von Panimas Namen: Pa- mi -na lebet noch. Es geht nicht mehr um den Namen einer anziehenden jungen Frau, sondern um das Codewort für die Liebe: Pa- mi -na lebet noch! Es gibt die Liebe. Die Liebe ist in der Welt des Menschen real. In der Stunde des Wolfs verweilt die Kamera lange bei den Dämonen, die durch die Macht der Musik für einige Momente zur Ruhe gekommen sind, und verhält dann auf Liv Ullmanns Gesicht. Eine doppelte Liebeserklärung: zärtlich, aber hoffnungslos.“6

Gleichgültig, ob man in der Selbsteinschätzung Bergmans eine selbstinszenierte Finte oder eine der tragenden Leitlinien seines Schaffens sehen möchte, bringt Bergman darin eine Art Manifest seiner Arbeiten zum Ausdruck, die sich trotz der zuweilen surrealen Verfremdung nur vordergründig von jeglicher Realität abkoppeln. Einer Realität, die manchmal so erdrückend ist, dass sie nur im Traum, im Film oder manchmal auch auf der Bühne als medialer Traum par excellence darstellbar und vor allem erlebbar werden kann.

Dem Begriff der Wiederholung bzw. der Wiederholbarkeit kommt dabei eine besondere Rolle zu. Sie ist im Film durch die Kontinuität der Figuren gegeben, wird jedoch durch die motivische Varianz und die metonymische Verschiebung der Figurenprofile zu einem fruchtbaren Gesamtkonzept instrumentalisiert.

Das Theater muss aufgrund seiner eigenen Dispositionen einen anderen Weg gehen, indem es aus dem unmittelbaren Akt der Wiederholung selbst seine „magischen Momente“ kreiert. Doch hinter all dem steht der Inszenator Bergman, der seine Rolle gerade durch den Oeuvrecharakter seines Schaffens stark in den Vordergrund stellt: „Da ich einen ewigen Tumult in mir herumtrage, den ich aber unter Aufsicht halten muß, habe ich Angst vor dem Unberechenbaren. Meine berufliche Arbeit wird so zu einer pedantischen Vermittlung des Unaussprechlichen. Ich vermittle, organisiere, ritualisiere. Es gibt Regisseure, die ihr eigenes Chaos auf die Bühne bringen, und aus diesem Chaos erschaffen sie im besten Fall eine Vorstellung. Ich verabscheue dieses Amateurtheater. Ich nehme nie am Drama teil, ich übersetze, konkretisiere. Am wichtigsten: Für meine eigenen Komplikationen ist kein Raum, es sei denn, sie liefern einen Schlüssel zu den Geheimnissen des Textes oder kontrollierte Impulse für die Kreativität des Schauspielers(...) Eine Probe ist eine ordentliche Arbeit, keine Privattherapie für Regisseur und Schauspieler(...) Nur so können wir uns der Grenzenlosigkeit nähern. Nur so lösen wir die Rätsel und lernen die Mechanismen der Wiederholung. Die Wiederholung, die lebendige, pulsierende Wiederholung. Jeden Abend die gleiche Vorstellung, die gleiche Vorstellung, aber dennoch neugeboren.“7

Die Kontrolle über sich und sein Werk, und doch gleichzeitig die Überwindung von dichotomischen Festschreibungen von Bewusstsein und Unbewusstem: das ist eines der cineastischen Ziele, die sich bereits der junge Bergman in seinem kafkaesken Traumfilm „Wilde Erdbeeren“ (1957) setzt und konsequent weiterverfolgt. Die intellektuelle Distanz zu einem rein genialisch-gebildeten Künstlerbegriff, der schon längst zum Klischee verkommen, aber dennoch besonders während der sechziger Jahre wieder eine popkulturelle Renaissance erfährt, wird er bis zu seinem Lebensende kultivieren. So verneint Bergman für sich nahezu apodiktisch den Begriff der Inspiration und sieht in diesem Begriff nur eine romantische Idee.

Fleiß spielt folglich eine besonders exzeptionelle Rolle, da er sowohl den Schreiber und Filmproduzenten Bergman antreibt als auch eine wichtige Differenz zwischen ihm und vieler seiner Figuren markiert. Wie ist nun das Verhältnis von Fleiß und der Traumarbeit angelegt, wie sie Bergman in seinen Filmen vollzieht?

Einige Aussagen Bergmans während einer Interviewreihe mit Olivier Assayas und Stig Björkman könnten nicht als einhellige Charakterisierung des Malers Johan Borg aus „Die Stunde des Wolfs“, einem weiteren Exemplar des Bergmanschen Seelenkabinetts, nachhaltig Relevanz gewinnen, doch beschreiben sie in ihrem abstrahierten Gehalt durchaus das Grundproblem dieser exemplarischen Figur, die aus der persönlichen Ununterscheidbarkeit von ehelicher Realität und der sexuellen Attraktion seiner fantastisch eingehüllten Geliebten nicht mehr herausfindet und sich in der unheimlichen und konsequent negativen Umkehrung von Goethes Turmgesellschaft aus dem Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ völlig verliert:

„Ihr Unbewußtes arbeitet in der Nacht, wenn Sie träumen...Das hat nichts mit Fleiß zu tun. Hier passiert etwas anderes. Die Inspiration dagegen ist etwas, was von außen kommt, während das, was ich mache, von innen kommt. Es kann sich um Überlegungen handeln, die vom Leben ausgelöst werden oder von Dingen, die einem passieren, die einem Leute erzählen, diese ganz außerordentliche Dimension der Wirklichkeit...Also keine Inspiration! Nur Fleiß!“8

Abgesehen davon, dass Bergman neben der erneuten Absage an einen metaphysischen Rückbezug hier durchaus eine figurale Problemkonstellation formuliert, wie sie im Bereich der Literatur beispielsweise paradigmatisch auf E.T.A. Hoffmanns romantische Künstlerfigur Johannes Kreisler abgebildet werden kann, die er in einigen Filmen wie in „Die Stunde des Wolfs“ oder „Schande“ von 1967/68 sogar explizit zitiert, so liegt der besondere Wert dieser Passage in der Fokussierung auf das bereits angesprochene Wechselverhältnis zwischen der unbewussten Traumarbeit und der Kollision seiner Figuren mit ihren (Alp)Träumen und der Realität. In Bergmans Gesellschaftsporträts, die zumeist aufgrund des kompakten Figurenarsenals nur rudimentär ausdifferenziert werden, bieten kulturelle Muster nur bedingt bzw. temporär einen sublimierenden Schutz vor menschlichen Katastrophen, die sich in den Privaträumen seiner Figuren ereignen. Bei Bergman ist letztlich der Zuschauer oft der einzige Zeuge der Ereignisse und kann sich nicht hinter einer beobachtenden Identifikationsfigur verstecken. Die motivische Erweiterung dieses Themenkomplexes durch Themen wie Inzest („Wie in einem Spiegel“ oder „Das Schweigen“), Perversion („Schreie und Flüstern“ von 1972) oder Gewalt („Schande“) ließ Bergman-Filme zu Dramen werden, die oft genug kontroverse Diskussionen in der Öffentlichkeit nach sich zogen.

In seinen kammerspielartig inszenierten Filmen spiegeln sich Gegenstände wie Personen, fliegen Raben und andere Vögel durch mystisch stilisierte Landschaften, tauchen Gesichter in düsteren Nahaufnahmen aus der Dunkelheit auf, suchen traumatisierte Einsiedler nach Gottes Erlösung und finden doch nur den Tod für eine Schachpartie („Das siebente Siegel“ von 1956), werden Szenen oftmals ohne viele Schnitte in hermetischen, isolierten Räumen gespielt und förmlich durchlitten, monologisieren die Darsteller, ohne einen Abschluss finden zu können (besonders drastisch unter anderem in der letzten Szene von „Schande“), werden Menschen zu manipulierbaren Marionetten ihrer Triebe oder schöne und reine Figuren treffen auf hilflose und in sich zerrüttete. Geht man durch einige Stationen seines Oeuvres, begibt man sich auf die Suche nach dem verlorenen Paradies, das es nie gegeben hat (und in das wir auch nicht durch eine Art Hintereingang, wie etwa Kleist ihn imaginiert hat, wieder hineinkommen können).

Wer speziell Bergmans Filme zwischen „Wie in einem Spiegel“ und „Schreie und Flüstern“ auf ihren fantastischen, eskapistischen Gehalt reduziert, verfehlt ihren spiegelbildlichen Charakter sowohl auf der figurativen wie inszenatorischen Ebene. Der Traum konstituiert die erfahrene Wirklichkeit der Figuren und umgekehrt, die der Zuschauer in oft genug in ebenso traumartig cinastischen Bildern verfolgen kann. In einer der letzten Szenen aus „Persona“ wird dieser mediale Zusammenhang besonders deutlich, wenn während der „Auflösung“ dieses Doppelgängerspiels um die Schauspielerin Elisabeth und ihre Pflegerin Alma plötzlich die Filmkamera inklusive Regisseur erscheint. An dem Punkt, an dem die Wirklichkeit durch das abrupte und unerklärliche Verschwinden Elisabeths endgültig suspendiert wird, gibt sich der Film als Film zu erkennen.

Wo das Theater als realistischeres Medium vor der Tür zum menschlichen Bewusstsein stehen bleiben muss, kann der Film diese mediale Schwelle überschreiten und damit zu dem werden, was Bergman enthusiastisch mit dem Film verband: Der Film wird zum Traum. Der Film ist (Bergmans)Traum. Das filmische Bewusstsein für das Medium Film zu schärfen, ohne die Tradition des Theaters zu vernachlässigen, ist vielleicht sein wichtigstes Vermächtnis.


Fußnoten

Ingmar Bergman: Laterna Magica. Mein Leben. Aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass. Berlin: Alexander Verlag 2003, S. 358. [zurück]

Ebd., S. 153 - 154. [zurück]

Ebd., S. 138. [zurück]

Filmografische Angaben zur DVD-Fassung aus der „Ingmar Bergman Edition“ bei Arthaus: Ach, diese Frauen (1964): Schweden; Regie: Ingmar Bergman; Drehbuch: Ingmar Bergman und Erland Josephson; Darsteller: Bibi Andersson, Harriet Andersson, Eva Dahlbeck u.a.; Svensk Filmindustri, Kapitel 1, 0:00:05 – 0:00:11. Anmerkung: Aus Verständnisgründen werden die deutschen Übersetzungen von Bergmans in schwedischer Sprache produzierten Filmen angegeben. Manche seiner Filme, wie etwa „Aus dem Leben der Marionetten“ von 1980, wurden in Deutschland und deshalb auch auf Deutsch produziert. Die Jahresangaben zu den einzelnen Filmen beziehen sich sowohl auf den Erscheinungstermin der Filme in Schweden als auch eventuell den Entstehungszeitraum (soweit bekannt). Zahlreiche Filme Bergmans liefen im Ausland erst Jahre nach ihrer Produktion. [zurück]

Ebd., S. 351 - 352. [zurück]

Ebd., S. 294 - 295. [zurück]

Ebd., S. 47 - 48. [zurück]

Ebd., S. 83. [zurück]

 


Kontakt: Alexander Schlicker Veröffentlicht am 06.11.2007

   
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