Matrix / mediales Dispositiv / Macht / Deleuze / Kontrollgesellschaft


Thomas Heilmann

The Matrix - Die Aporie eines Freiheitskampfes


Abstract

Der Kampf gegen die Scheinwelt der "Matrix", der im Film The Matrix thematisiert wird, muss immer scheitern: Zum einen fordern die dispositiven Machtstrukturen der technischen Geräte im Film, auch wenn sie für den Widerstandskampf eingesetzt werden, Gesten der Unterwerfung. Zum anderen ist vor dem Hintergrund von Deleuze' Konzept der Kontrollgesellschaft der Freiheitskampf selbst auch nur ein Teil der Matrix, der das System mit konstituiert und teilweise sogar festigt, anstatt es zu zerstören. In Form des Konsums macht er dabei die Kontrolle, die von ihm ausgeht, unsichtbar.



1. Fade In

Welcome to the real world

Das Ende von The Matrix ist mehr als kryptisch: Neo spricht innerhalb der Scheinwelt der "Matrix" zu den Maschinen als hätte er Macht über sie – doch seine "körperliche Hälfte" muss immer noch gefesselt auf dem Schiff der Widerstandskämpfer sitzen, mit einem Metallstab im Nacken. Kann der Freiheitskampf also überhaupt erfolgreich gewesen sein? Welche Waffen oder Mittel haben die Widerstandskämpfer, wenn sie innerhalb des dispositiven Rahmens, in den sie von den eingesetzten Geräten gezwungen werden, gegen die Matrix kämpfen? Warum führt Neos Souveränität innerhalb der Matrix plötzlich zu einer mythisch-religiösen Hoffnung auf Erlösung, obwohl sich an der "realen" Situation (noch?) nichts geändert hat?

Diese Untersuchung der Machtstrukturen, die im Film dargestellt werden, wird zeigen, dass der Kampf gegen die "Matrix" immer scheitern muss. Der Grund dafür sind zum einen die dispositiven Machtstrukturen der Geräte, die diesem "Gefängnis für den Verstand"[1] zugrunde liegen, und zum anderen die kontrollgesellschaftlichen Strukturen, innerhalb derer der Freiheitskampf auch nur ein Teil der Matrix sein kann, der das System mit konstituiert und teilweise sogar festigt, anstatt es zu zerstören.



2. Der Apparat und das Dispositiv

How is he?
Ten hours straight. He's a machine
.

Für die Analyse der Machstrukturen in The Matrix werde ich zunächst die Funktionsweise zentraler technischer Geräte im Film untersuchen, denen eine im weitesten Sinne mediale Funktion zukommt. Den Blick möchte ich dabei natürlich vor allem auf die machttechnischen Implikationen lenken, die sich im medialen Dispositiv der Geräte manifestieren.

Ausgangspunkt für meinen Dispositivbegriff wird die Definition von Foucault sein, die ich als bekannt voraussetze.[2] Vor dem Hintergrund der Ausweitung (und Modifizierung) des Dispositivbegriffs auf die Medien, wie sie unter anderem von Baudry vorgenommen wurde[3], werde ich mich speziell auf disziplinierende Faktoren innerhalb von Mediendispositiven konzentrieren.

2.1 Das Telefon

Shit, that's my phone.
That's my best phone
.


Das Telefon nimmt eine zentrale Rolle in The Matrix ein. In Form von Festnetztelefonen dient es nicht nur als Portal zwischen Matrix und Realität. Vor allem Mobiltelefone stellen auch ein wichtiges Kommunikationsmittel zwischen den beiden Welten dar.

Eine der markantesten Stellen im Film für die Untersuchung der beherrschenden Kraft des Telefons ist die Szene, in der Neo das erste Mal Kontakt mit den Agenten hat, nämlich im Büro (ab 0:11:30).

Die Apathie des Filmhelden wird durchbrochen, als ein Kurier ein Päckchen bringt. Neo entnimmt ein Handy, das sofort zu klingeln beginnt. Neo befindet sich also von Anfang an in einer passiven Situation; der Reaktionszwang, den einem ein klingelndes Telefon immer auferlegt[4], wird in dieser Situation sogar noch gesteigert: Bei seinem Bürotelefon hätte es sich zumindest um eine bekannte Kommunikationsstruktur gehandelt. Die Fremdbestimmung wird hier aber durch das fremde Handy potenziert.

Außerdem bleibt das "Problem der Mechanisierung des Sprechens"[5] hier auf seltsame Weise ungelöst: "Die Stimme, die [die] Wörter ausspricht, ist nicht nur eine menschliche Stimme, sondern auch für den Hörer individuell erkennbar. Er kann also bei seiner Antwort ‚Du' sagen, aber gleichwohl gibt es dabei eine spezifische Telefonqualität, die nicht vom anderen, sondern vom Telefon rührt. Man muß sich bemühen, das Medium mit dem anderen zu identifizieren (so wie man seinen Brustkorb mit ihm identifiziert), damit aus dem Dialog am Telefon eine intersubjektive Beziehung wird."[6] Genau diese Identifizierung mit einem Menschen am anderen Ende der Leitung gestaltet sich aber als Problem: Zwar erkennt Neo, dass es sich beim Anrufer um Morpheus handeln muss. Morpheus aber ist für Neo nur eine virtuelle Person, die er aus dem Internet kennt. Genau das ist der Grund, weshalb man behaupten kann, dass nicht der Mensch Morpheus, sondern das Gerät (und wenn nicht das Handy, dann der Internet-Computer) zu Neo spricht. Im Film ist die Virtualität, die die Person Morpheus zu diesem Zeitpunkt für Neo und den Zuschauer hat, dadurch realisiert, dass Morpheus als Akteur bis zu diesem Zeitpunkt nie zu sehen, sondern lediglich (verzerrt durch das Telefon) zu hören war. Auch für den Zuschauer also spricht das Handy, nicht Morpheus, weil eine Identifikationsmöglichkeit mit dem Bild einer Person fehlt.

Das Telefon kontrolliert Neo nicht nur in Form der konventionellen Gesten und Sprechweisen des Telefonierens (z.B. das einleitende "Hello."), sondern diktiert ihm auch bestimmte Handlungsweisen. Die Voraussetzung dafür ist ein Beobachtetwerden, das evident wird, sobald Neo das Handy aus dem Päckchen nimmt, und es genau in diesem Augenblick zu klingeln beginnt. Zwar führt das Handy immer sicher an den Agenten vorbei und eröffnet sogar einen Fluchtweg für Neo. Doch der Preis für die Führung ist die Aufgabe der Selbstbestimmung, die fremde Hilfe macht Neo abhängig. Deutlich wird das dann vor allem, als Neo sich an der Außenwand des Hochhauses entlangschiebt: Den einzigen Halt findet er in dem Mobiltelefon, sobald es ihm heruntergefallen ist, verlässt ihn der Mut; kurz darauf wird gezeigt, wie Neo von den Agenten abgeführt wird.


Die zweite Steigerung der regulären Telefonsituation kann man an der Funktion der Telefonzellen festmachen (z.B. 0:05:15 oder 1:48:25; -> Ausschnitt 1). Jeder, "der in einer Telefonzelle telefoniert, steht in einer eigentümlichen Verschachtelung von Realitäten: leiblich befindet er sich im Hier der allgemeinen Präsenz [...]. [Aber] ein Teil des Wahrnehmungsraums ist nur ihm zugänglich – und damit zumindest von der Möglichkeit her auch der Kontrolle und der Absicherung durch die anderen entzogen."[7] In der Matrix wird die Kontrolle über diesen Teil des Wahrnehmungsraumes (Wulff bezeichnet ihn als Kommunikationsraum) zu einer Kontrolle über den kompletten Wahrnehmungsraum: Die Telefonzellen dienen als Ausgang aus der illusionären Wahrnehmungssituation der Matrix. Bezeichnenderweise verliert durch diese Ausweitung der Kommunikationsraum aber seine ursprüngliche Bedeutung, das Verlassen der Matrix durch eine Telefonzelle findet komplett ohne akustische Kommunikation statt. Allein die Geste, den Telefonhörer abzuheben und sich ans Ohr zu halten, ermöglicht den Wechsel zwischen den Realitäten. Das Telekommunikationsmedium wird also nicht mehr zur Telekommunikation verwendet, mächtig macht es, wenn man sich inhaltslos den konventionellen Handlungsmustern unterwirft, die der Apparat diktiert. Diese Verschiebung in der Verwendung der Telekommunikationsmedien ist ein weiteres deutliches Beispiel für die Macht der Geräte, also auch der Geräte, die von den Widerstandskämpfern benutzt werden – und führt gleichzeitig eine Variation von McLuhans Medium vor, das die Botschaft ist.[8]

Im übrigen bleibt die Macht der Telefone selbst bestehen, als Neo schon "The One" ist, der die Matrix scheinbar komplett kontrollieren kann: Um die Matrix zu verlassen, bleibt ihm wieder nichts anderes übrig, als an das klingelnde Telefon zu gehen und sich also seiner Macht zu unterwerfen.



2.2 Das Konstrukt und der Matrix-Hack

Right now we're
inside a computer program?

Mit Hilfe des sogenannten "Konstrukts" können sich die Widerstandskämpfer um Morpheus in einer virtuellen Umgebung bewegen, die der der Matrix gleicht, aber unabhängig von ihr zu Trainingszwecken verwendet werden kann. Die gleichen Apparate kommen auch bei dem Log-In in die Matrix zum Einsatz: Der jeweiligen Person wird ein Metallstab in einen metallenen Anschluss am Nacken gesteckt, um die reale Wahrnehmung durch eine vom Computer generierte Welt zu ersetzen. Einmal an das System angeschlossen können nicht nur beliebige Wahrnehmungen eingespeist werden; es ist auch möglich, der angeschlossenen Person bestimmte "Programme" einzuspielen: So kann man beispielsweise innerhalb von Sekunden Kampfsportarten "erlernen".

Schon im Einführen des unangenehm langen Metallstabs in den Nacken wird die dispositive Macht dieser Konstrukt-Geräte deutlich. Der Körper Neos spannt sich an und unterliegt nicht mehr der Kontrolle Neos, sondern der Kontrolle des Apparates (0:37:20; -> Ausschnitt 2). Nicht umsonst ruft Neo nach dem ersten "Besuch" des Konstrukts, bevor er sich völlig desorientiert übergeben muss: "Take this thing off me" (0:42:00; -> Ausschnitt 3). Während er sich im Laufe seines Trainings an die Geräte gewöhnt, internalisiert er natürlich ihre Funktionsweise und unterwirft sich so der starken Disziplinierung, die das Gerät bedingt.


Eine beinahe noch drastischere Disziplinierung stellen allerdings die Programme dar, die den Personen im Konstrukt oder in der Matrix eingespielt werden können. Während Neo in der physischen Realität des Schiffes zuckend, also sich selbst nicht mehr unter Kontrolle habend, an das Konstrukt-System angeschlossen ist, werden ihm Bewegungs- und Handlungsmuster nach programmierten Vorlagen eingespeist (0:45:57; -> Ausschnitt 4a und Ausschnitt 4b; 1:42:48; -> Ausschnitt 5). So beherrscht er dann innerhalb von kürzester Zeit diverse Kampfsportarten; die Bewegungsabläufe, die er beim Kampf vollführt, sind allerdings (wie schon angedeutet) vorprogrammiert, genau kalkuliert und Teil einer umfassenden Disziplinierung, die seine Bewegungen nach definierten Schemata mechanisiert. Diese Verwandlung zu einem Maschinenmenschen oder zu einem Cyborg, die schon durch die physische Verbindung mit den Geräten deutlich wird, findet also auch innerhalb der Matrix statt. Sogar innerhalb des Films wird diese Verbindung erkannt, Tank antwortet auf die Frage von Morpheus, wie es dem trainierenden Neo denn gehe: "Ten hours straight. He's a machine."

Foucault schreibt: "Gelehrig ist ein Körper, der unterworfen werden kann, der ausgenutzt werden kann, der umgeformt und vervollkommnet werden kann."[9] Das zielt in eine ähnliche Richtung: Neos Körper ist gelehrig und wird unterworfen. Genau diese Gelehrsamkeit, diese Fähigkeit, sich mechanisieren zu lassen, also die Anpassung an die Geräte zu maximieren, ist es, die Neo als Auserwählten auszeichnet. Es ist demzufolge nicht die Freiheit von dem Einfluss der Geräte, die "Neo" zu "The One" umformt, sondern im Gegenteil die komplette Internalisierung der Funktionsweise der Geräte. Schließlich kommt Neo auch aus dem Hackermilieu, vor dem Hintergrund von Donna Haraways Terminologie[10] wäre er also schon vor seiner Befreiung innerhalb der Matrix ein Cyborg, indem er zwar nicht physisch, aber sozial und psychisch mit der Maschine verkoppelt ist; der Mann, der ihn das erste Mal "savior" nennt, sagt zu ihm: "Hey, it just sounds to me like you need to unplug, man" (0:07:45; -> Ausschnitt 6a und Ausschnitt 6b). Das Metaphsyische, das in der Erlöser-Figur Neo mittransportiert wird, liegt also nicht in einem Außen oder in einer Loslösung von der Technik begründet, sondern gerade in der direkten Verbindung mit ihr.

Wenn Neo am Ende als "Auserwählter" die "Macht" oder Kontrolle über die Matrix zu haben scheint (wenn er also die von der Matrix erzeugte Realität manipulieren kann), dann ist auch das nicht etwa ein Zeichen von Freiheit: Im Gegenteil, Neo unterwirft sich nur direkter als alle anderen den Strukturen, die das Medium diktiert. Wie die bloße inhaltslose Geste des Telefonierens den Wechsel zwischen den Realitäten ermöglicht, gleichzeitig aber alle Inhalte, die nicht dem Gerät immer schon innewohnen, völlig ausklammert, so verhält es sich auch mit Neos "Macht" über die Matrix: Er agiert nicht mehr im "Inhalt", der durch das Medium vermittelt wird, sondern nur noch in den Strukturen des Mediums selbst. Symbolisiert wird das im Film durch sein Erkennen der "echten" Matrix – die eben noch real wirkenden Bilder verwandeln sich in den grünen Matrix-Code (2:00:23; -> Ausschnitt 7). Dadurch erlangt Neo zwar Souveränität gegenüber den Inhalten des Mediums Matrix, keineswegs aber Souveränität gegenüber dem Medium selbst. Er bleibt weiterhin physisch an das System angeschlossen (dispositive Macht des Mediums) und denkt nur noch direkter in den vorgegebenen Strukturen (symbolische Macht des Mediums). Innerhalb der Matrix erhält er also ein Maximum an Kontrolle – von einer Zerstörung der Matrix ist dabei aber keineswegs die Rede. Diese paradoxe Konstellation, dass nämlich derjenige, der von der Matrix erlösen soll, gleichzeitig die Strukturen der Matrix am meisten internalisiert hat, ist also ein Grund, weshalb der Freiheitskampf in Aporie enden muss – und zwar ohne dass das innerhalb des Films wahrgenommen werden könnte.



3. Die Matrix und die Kontrollgesellschaft

The Matrix is a computer
generated dream world built
to keep us under control
[...].

Die Matrix ist ein System, das die Menschen daran hindern soll, ihre reale Situation zu erkennen, um sie den Maschinen als Energiequelle zu bewahren. Sie wirkt also wie ein Kontrollmechanismus für den Verstand, der überkommene Disziplinierungen nicht mehr nötig macht. Aufgrund zahlreicher Analogien werde ich im folgenden The Matrix in Zusammenhang mit dem Paradigma der Kontrollgesellschaft nach Deleuze bringen.



3.1 Merkmale gesellschaftlicher Kontrollmechanismen

You're in control of your
own life, remember?


Deleuze greift in seinem "Postskriptum über die Kontrollgesellschaften" Foucaults, Burroughs´ und Virilios Gedanken zu Disziplinierungs- und Kontrollstrukturen in der Gesellschaft auf und führt sie weiter. Die scheinbaren Freiheiten, die durch die Auflösung der Einschließungsmilieus (Gefängnis, Krankenhaus etc.) entstanden sind, wurden demnach "Bestandteil neuer Kontrollmechanismen, die den härtesten Einschließungen in nichts nachstehen."[11] In The Matrix nun werden Elemente der Kontroll-, der Disziplinar- und sogar der Souveränitätsgesellschaften miteinander vermischt. Während schon die Disziplinargesellschaften nicht mehr nach dem Prinzip der Abschöpfung, sondern der Organisation und Verwaltung von Produktion und Leben funktionierten[12], also im weitesten Sinne durch Machtstrukturen auch eine Produktivitätssteigerung möglich wurde, werden die Menschen in der Matrix durch die Illusion lediglich sediert, um keinen Widerstand aufkommen zu lassen. Ihre Energie wird einfach "abgeschöpft", ohne dass Produktivitätsgewinne erzielt werden könnten.

Die Einschließung dagegen, die Abschließung in einzelne Zellen, zunächst ein Merkmal der panoptischen Disziplinargesellschaft, findet tatsächlich statt – allerdings ist die Einschließung den Eingeschlossenen völlig unbewusst und vor allem nicht verknüpft mit einem Bewusstsein für das eigene Beobachtetwerden, weshalb sie im disziplinerenden Panoptismus nicht mehr funktionabel ist. Wenn das Beobachtetwerden im Film bewusst wird, funktioniert sie nicht mehr: Schließlich ist es ja vor allem der Rückfall in das panoptische Bewusstsein für die eigene Sichtbarkeit, der Neo aus dem reibungslosen Gefüge der Illusionsmaschinerie treibt. Die Warnung "They're watching you, Neo.", die Trinity bei dem ersten Treffen mit Neo ausspricht (0:09:40), bestätigt sich in der weiter oben erwähnten Szene an Neos Arbeitsplatz (0:12:20; -> Ausschnitt 8): Schon bei der Unterredung mit seinem Chef nehmen die Scheibenputzer das Beobachtetwerden von einem Außerhalb vorweg; gleichzeitig macht das ständige Quietschen, das an den Scheiben entsteht, die Sichtbarkeit unangenehm und gegenständlich. Das in Boxen eingeteilte Großraumbüro, in das Neo anschließend geht, ermöglicht dank der Offenheit ebenfalls Beobachtung und setzt andererseits die Isolierung der Einzelsubjekte in ihren Boxen um – beides Eigenschaften des Panopticon.[13]

Vor allem das Bewusstsein für das Beobachtetwerden fehlt auf der Ebene der Matrix dagegen völlig. Foucault nennt "die Hauptwirkung des Panopticon: die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen".[14] Statt also innerhalb des panoptischen Modells lokalisiert zu werden, könnte die unbewusste Einschließung, der die "unfreien" Menschen in ihren Kapseln ausgeliefert sind, als Verbildlichung der unbewussten Ohnmacht in der Kontrollgesellschaft angesehen werden, in der die Kontrolle sich selbst unsichtbar macht.

Diese Interpretation findet Bestätigung in der mangelnden Kontrollmöglichkeit von außen, also durch die Maschinen. Allein durch die schiere Komplexität des Matrix-Systems ist es den Maschinen nicht mehr möglich, direkt Einfluss zu nehmen. Nur in Form der Agenten, die selbst innerhalb der Matrix operieren müssen, kann das durch seine Eigendynamik zu einem autarken Machtsystem verwandelte Illusionssystem noch ansatzweise gesteuert werden – und entspricht so den Machtstrukturen in der Kontrollgesellschaft, in der nicht mehr von Einzelpunkten zielgerichtet Macht ausgeübt wird wie noch in der Souveränitätsgesellschaft oder, in sublimierter Form, in der Disziplinargesellschaft. Die Macht in der Kontrollgesellschaft ist eine amorphe, eigendynamische Entität, die nur einen Inhalt hat, nämlich sich selbst.

So kann auch ein herkömmlicher Kampf gegen die Matrix innerhalb der Matrix, egal wie subversiv, nicht erfolgreich sein; zwar lassen sich die internen Machtstrukturen (Agenten – Neo etc.) modifizieren, zwar kann man sogar ein Bewusstsein für die Simulation schaffen, aber das übegreifende Machtsystem Matrix bleibt trotzdem bestehen. Ein Grund sind die dispositiven Disziplinierungen der Apparate innerhalb und außerhalb der Matrix, die ich im zweiten Teil dieser Arbeit beschrieben habe. Eine andere Stütze des Systems, die mit den kontrollgesellschaftlichen Strukturen, die ich in diesem Abschnitt beschreibe, zusammenhängt, ist das offensichtlich sehr erhebende Gefühl, das die Widerstandskämpfer dank ihrer Sonnenbrillen und vielleicht auch dank des Soundtracks innerhalb der Matrix genießen können (1:36:58; -> Ausschnitt 9; 2:03:25; 0:48:18). Das ist das Prinzip der Kontrollgesellschaft: Die Macht transportiert sich im Konsum, der Genuss ist gleichsam die Kontrolle, die man sich selbst auferlegt, auf die man nicht verzichten will. Und gerade die Kampfszenen, die durch ihre choreographische Ästhetisierung "genießbar" werden[15], zeigen sehr deutlich, dass der Kampf gegen die Matrix von den Widerstandskämpfern konsumiert wird. Die Matrix wird dadurch für sie unverzichtbar.



3.2 Die Agenten als Matrix-Gegner

You are a plague, and we
are the cure.


Das Kontrollsystem wird vor allem von einer Kraft gestört, die auf den ersten Blick als strikter Bewahrer der Matrix inszeniert wird, nämlich von den Agenten: Sie nutzen nicht die weitaus effektivere Macht einer subtilen Kontrolle (z.B. durch Konsum), sondern greifen stattdessen auf offensichtliche Disziplinierungen (z.B. Folter, 0:19:15; -> Ausschnitt 10a und Ausschnitt 10b) zurück. So wird es für Neo wohl erst durch die martialischen Methoden der Agenten plausibel und attraktiv, die für ihn bis dahin noch reale Scheinwelt für eine angebliche "echte" Realität aufzugeben. "Eine wirklich intelligente KI hätte Neo keine Agenten auf den Hals gehetzt, sondern ihn befördert und ihm ne nette Freundin spendiert."[16]

Aber nicht nur durch ihre alles andere als subtilen Methoden stören die Agenten das Machtkonstrukt Matrix, sie bedrohen auch direkt das System. Speziell der Monolog von Agent Smith zeigt, dass die Agenten selbst eine Gefahr für die Matrix sind: Sie versuchen, an die geheimen Codes der Stadt Zion zu kommen, um sich selbst zu befreien (1:35:30). Überhaupt sind die Agenten die einzigen, die nicht in die normativen Strukturen der Matrix passen. Die Widerstandskämpfer nutzen zwar die Möglichkeiten der Matrix aus, aber dafür müssen sie sich ihren Strukturen noch viel elementarer unterwerfen als die "Unwissenden". Die Agenten dagegen sind unabhängige Computerprogramme, die, genauso wie die Matrix, ein Eigenleben entwickelt haben. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt sich der Sieg über die Matrix, den Neo mit der Zerstörung der Agenten scheinbar erreicht hat, völlig anders dar: Im Grunde hat er nur einen wesentlichen Störfaktor eliminiert und die Macht und Autarkie der Matrix (vor allem auch gegenüber den Maschinen) weiter gestärkt.



3.3 Keine neuen Waffen / Fade Out

Guns. Lots of guns.


Gerade nach seiner Verwandlung in die Heilandsfigur The One[17] besteht für Neo kein Anlass, die Matrix aufzugeben – wo sonst kann er solche Kleidung tragen, zu solcher Musik aus einer Telefonzelle treten und – fliegen? Die "übernatürlichen" Fähigkeiten, derer sich Neo, Widerstandskämpfer und Agenten bedienen, führen im übrigen keineswegs dazu, dass die sedierten Menschen wachgerüttelt werden. Denn obwohl solche Phänomene in der Matrix-Welt wohl eigentlich nicht vorgesehen sind, können sie von dem funktionierenden System leicht absorbiert werden. Das zeigt sich an der Gleichgültigkeit, mit welcher die Menschen Neos besondere Fähigkeiten wahrnehmen, oder auch am verblüfften aber folgenlosen Staunen der Polizisten, als Trinity und Agent Smith über eine viel zu breite Häuserschlucht springen. Besonders deutlich offenbart sich die integrierende Macht des etablierten Systems der Matrix in einer frühen Drehbuchfassung, die im Internet kursiert:[18]

He steps out of the phone booth and starts walking, wearing a long black coat and dark glasses. He passes a mother dragging her little BOY, who cranes his neck as --

Neo takes off, flying up into the air.

BOY
Mommy! Mommy!

MOMMY
What?

BOY
That man! That man flies!

MOMMY
Don't be silly, honey. Men don't fly.

There is a RUSH of AIR as the Boy stares up as Neo shoots overhead. His coat billowing like a black leather cape as he soars up, up, and away.

FADE OUT.


Egal, ob Neo fliegt oder Trinity über eine Häuserschlucht springt: Die Welt der Matrix ändert sich dadurch nicht; das "Übernatürliche" wird Teil des Systems – oder ist es sogar schon von vornherein, nämlich z.B. in Form von Comic-Helden (Superman) oder religiösen Figuren (Jesus), die im simulierten System existieren, und an die Neo sich anlehnt. Selbst die Möglichkeit des Verlassens der Matrix ist im System der Matrix schon in Form von Geschichten angelegt.[19] So kann der Kampf, den die Widerstandkämpfer gegen die Matrix führen, nie erfolgreich sein. Besonders in der Szene, in der Neo sich vom Operator "Guns. Lots of guns." bestellt, um Morpheus zu befreien (1:34:41; -> Ausschnitt 11), zeigt sich, dass der Kampf gegen die Matrix ein Kampf mit den üblichen Waffen ist. Mit den Waffen, die als normierende Apparate Teil der Disziplinierung[20] und als Konsumobjekte Teil des Kontrollsystems sind. Doch selbst nachdem Neo die Waffen nicht mehr benötigt, weil er zu The One geworden ist, werden seine Fähigkeiten derart ästhetisiert inszeniert (1:59:50; -> Ausschnitt 12), dass man immer noch von Genuss und Konsum sprechen kann – Genuss und Konsum, den Neo eben nur in der Matrix haben kann.

Mit einem recht lakonischen Kommentar von Deleuze zu den neuen Machtformen der Kontrollgesellschaft kann man drei elementare Probleme in The Matrix freilegen: "Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen."[21] Die anfängliche Furcht vor den Agenten und der Matrix (also vor der Kontrollgesellschaft) wird sublimiert in mythischer Hoffnung in den Auserwählten (der ein Produkt der Kontrollgesellschaft ist); zu beidem besteht kein Grund, aber beides hindert die Widerstandskämpfer daran, "neue Waffen zu suchen" – der Freiheitskampf bleibt also ein Spiel (innerhalb) der Matrix, die sowohl den dispositiven Rahmen als auch den symbolischen Raum innerhalb des Mediums definiert.

[1] so nennt eine der Hauptpersonen, Morpheus, die Matrix

[2] Michel Foucault: Dispositive der Macht , S. 119f.; vgl. auch Hickethier, Film- und Fernsehanalyse S. 18f.

[3]vgl. Baudry: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks , in: Kursbuch Medienkultur , S. 381; Hickethier, Film- und Fernsehanalyse , S. 19ff.; interessant an Baudrys Text ist es in Zusammenhang mit The Matrix, dass er bei seiner metapsychologischen Untersuchung dem kinematographischen Dispositiv viele Eigenschaften zuschreibt, die im hier untersuchten Film der Matrix zukommen. Eine entscheidende These ist, "daß das kinematographische Dispositiv einen künstlichen Regressionszustand determiniert" (Baudry, a.a.O., S. 399); die Analogie von Simulation Kino und Simulation Matrix liegt also nahe (allein auch schon wegen des Filmtitels: wenn im Kino-Trailer Morpheus sagt, dass man die Matrix nicht beschreiben sondern nur erleben kann (vgl. den Trailer für The Matrix unter http://www.whatisthematrix.com), ist damit sowohl der Film als auch die Matrix innerhalb des Films gemeint). Ein umfassender Vergleich von Kino und Matrix soll aber nicht Thema dieser Arbeit sein.

[4]Vilém Flusser beschreibt metaphernreich das klingelnde Telefon als einen "plärrenden Wildfang, dem man auf der Stelle seinen Willen lassen muss", und stellt einen Zusammenhang zu Machtverhältnissen her (vgl. Flusser, Die Geste des Telefonierens, in: Kursbuch Medienkultur, S.185

[5]ebenda, S. 189

[6]ebenda

[7]Wulff: Telefon im Film / Filmtelefonate, in: Telefon und Kultur / Das Telefon im Spielfilm, S. 62

[8]McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 21ff.

[9]Foucault: Überwachen und Strafen, S. 175

[10]vgl. Haraway: Ein Manifest für Cyborgs, in: Kursbuch Medienkultur, S. 464ff.

[11]Deleuze: Unterhandlungen 1972-1990, S. 255f.

[12]ebenda, S. 254

[13]Foucault: Überwachen und Strafen, S. 251ff.

[14]ebenda, S.258

[15]Speziell im Filmbeispiel 9 lässt sich diese Ästhetisierung ablesen: In dunkler Kleidung durchschreitet Neo mit unerschütterlicher Lässigkeit und selbstbewussten Auftreten die Kontrolle, zeigt ungeniert sein Waffenarsenal (nicht mit martialischer, sondern äußerst "smarter" Gestik) und führt nach der mühelosen Tötung einiger Wachleute einen choreographisch ausgefeilten Tanz zu mitreißender Musik vor - zusammen mit Trinity, die den weiblichen Part des Tanzpaares (das am Schluss des Films natürlich dank der Liebe und nicht der Gewalt siegt) übernimmt. Die Erschießung der Wachleute findet blutlos und meist in Zeitlupe statt, so dass eine Faszination an den Bewegungen, an den in der Bewegung getöteten und tötenden Menschen, provoziert wird. Früher im Film wird eine ähnliche Choreographie inszeniert, hier allerdings ist sie schon innerhalb des Films als Konsum und Schauspiel dargestellt: Die Crew kommt begeistert zusammen, um Morpheus und Neo beim Kampf zuzusehen (0:48:15).

[16]gHack in einem Telepolis Thread

[17]Dass Neo eine Heilandsfigur ist, zeigt sich schon an seinem Namen: "Neo gr. ‚der Neue' – Jesus wird als der ‚neue Mensch' oder ‚zweite Adam' (vgl. 1.Kor 15,45-47) bezeichnet" (Görnitz-Rückert, Ordnung braucht der Mensch), zugleich ist "Neo" ein Anagramm von "The One". Außerdem wird Neo mehrfach als Auserwählter, sogar als Erlöser oder "My own personal Jesus Christ" (vgl. Filmbeispiel 8) bezeichnet. Nähere Analysen zu den religiösen Anspielung in The Matrix finden sich bei Görnitz-Rückert

[18]Auch wenn die Authentizität dieser Drehbuchfassung angezweifelt werden kann, ist sie allein aufgrund des Verbreitungsgerades als Bestandteil des Matrix-Textes aufzufassen.

[19]Die beiden deutlichsten Beispiele sind Alice's Adventures In Wonderland (Morpheus spricht diese Geschichte explizit und mehrmals an, auch das weiße Kaninchen am Anfang des Films verweist darauf) und The Wonderful Wizard Of Oz, worauf sich Cypher bezieht, wenn er Neos erstes Verlassen der Matrix mit "Buckle your seatbelt, Dorothy, cause Kansas is going bye-bye" kommentiert

[20]Die normierende Disziplinierung zeigt sich zum Beispiel am automatisierten Bewegungsablauf, mit dem Trinity während ihrer Flucht vor dem Agenten am Anfang des Films die Waffe zieht.

[21]Deleuze: Unterhandlungen 1972-1990, S.256



Ausführlichere Angaben zum Thema über e-mail beim Verfasser des Artikels: Thomas Heilmann

   


    

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