Matthias N. Lorenz

DOGMA 95 als Genre


In letzter Zeit ist es erstaunlich ruhig um DOGMA 95 geworden – jene Bewegung, die kurzfristig zu einer der wichtigsten Erneuerungsbestrebungen des europäischen Films avanciert war. Anfang des Jahres 2003 erschien im Spiegel ein großer Artikel, in dem Urs Jenny einen Abgesang auf DOGMA 95 anstimmte (1). Susanne Biers Film Open Hearts (2002) wurde zur gleichen Zeit vor allem deshalb wahrgenommen, weil der Film als vermeintlich letzter DOGMA-Film promotet wurde. Die Gründungsregisseure Lars von Trier und Thomas Vinterberg arbeiten längst an neuen Projekten, die mit dem "Schwur der Keuschheit" kaum noch etwas zu tun haben: Von Trier drehte mit Björk das Musical Dancer in the Dark (2000) und arbeitet nun für seinen neuen Film Dogville mit Hollywood-Ikone Nicole Kidman zusammen; Vinterberg hat gerade mit It's all about Love (2002) einen ästhetizistischen Science-Fiction-Film vorgestellt (2). Bereits im Sommer 2002 haben die beteiligten dänischen Produktionsfirmen ihr "DOGMA-Sekretariat" geschlossen (3). Als Grund wurde, neben den Kosten, die Herausbildung eines DOGMA-Genres genannt. Die dominante Rolle der DOGMA-Brüder bei der Interpretation der Regeln sei daran mitschuldig und solle durch ihr Verstummen aufgegeben werden (4).

Bei dieser Begründung möchte ich ansetzen: Die 8. Regel, "Genre-Filme werden nicht akzeptiert", ist das kürzeste aller DOGMA-Gebote und eine der wenigen inhaltlichen Vorgaben des Manifestes (5). Ich untersuche im folgenden (1) Intentionen, (2) Umsetzungen und (3) Wirkungen der von den Unterzeichnern des Manifestes aufgeworfenen Genrefrage. Meine These ist, dass zwar die Regisseure, die sich dem "Vow of Chastity" unterworfen haben, unter anderem auch an dieser Regel bei ihrem Versuch, die "Wahrheit" einzufangen, gescheitert sind, aber dass sich die gesamte Genreproblematik auch als produktiv für die Verbreitung des DOGMA-Gedankens herausgestellt hat. Die Betrachtung von DOGMA 95 als Genre zeigt, dass nicht nur der DOGMA-Film – entgegen der postulierten Ziele und Intentionen –, sondern auch der Typus des DOGMA-Manifestes jeweils zu eigenen Genres oder zumindest Genreversatzstücken ihrer medialen Gattung (Film/Text) wurden.

1. Die Genre-Regel knüpft vordergründig an die Idee eines forcierten Alltagsbezuges an, die sich in fast allen Regeln äußert. Jegliche "Vorhersehbarkeit" soll nach Möglichkeit vermieden werden. Daher der Wunsch, dem Zufall einen Platz im filmischen Prozess einzuräumen, der Verzicht auf die gängigen Verfahren zur Glättung der Bilder und Bildübergänge sowie die Verbannung optischer und inhaltlicher Illusionen oder Verfremdungen der Wirklichkeit. Aus den Regeln des Manifestes und den Intentionen, für die sie stehen, ist der Versuch herauszulesen, mehr Lebensnähe in den Film zu tragen, mehr Spontaneität und weniger Perfektion zuzulassen. Der Wahrheitsbegriff von DOGMA 95 orientiert sich dabei stark an der Wirklichkeit: Das Einfangen von Abbildern soll Vorrang haben vor aufwändigen Inszenierungen. Um diese Intentionen umzusetzen, werden die Regisseure in einen Käfig sie beschränkender Regeln gezwängt, sie sollen "die Kontrolle aufgeben" (6).

Von einem DOGMA-Film wäre also zu erwarten gewesen, dass er seine Geschichte an keinerlei tradierte Vorbilder anlehnt, weder ein bestimmtes Genre bedient, noch es modifiziert. Statt dessen wird der Regisseur in die Pflicht genommen, etwas Eigenes, Originäres zu schaffen. Hierbei ist jedoch Skepsis gegenüber den DOGMA-Brüdern ratsam, denn der Wortlaut des Manifestes ist keineswegs deckungsgleich mit den Intentionen seiner Verfasser. Sie lancierten ihr Manifest zwar augenzwinkernd als Reinigungskonzept für ein korruptes Kino, aber von Anfang an stand etwas ganz anderes dahinter: Die Befreiung des Regisseurs von Zwängen und fremden Einflüssen. Der Wegfall der technischen und finanziellen Zwänge einer herkömmlichen Produktion wiegt die selbstauferlegte Beschränkung von DOGMA 95 allemal auf. Thomas Vinterberg, lange Zeit Sprachrohr der Bewegung, gab zu Protokoll, dass die DOGMA-Brüder das Drehen nach dem Manifest vor allen Dingen als Stimulation Ihrer Kreativität verstanden. Er nennt als Antrieb die "Angst eines jeden Künstlers, mittelmäßig zu sein, sich zu wiederholen." (7) Auf der Homepage des DOGMA-Sekretariats heißt es weiter: "[...] the manifesto was originally thought of as a break, a welcome shift in focus for professionals [sic!] who, through Dogme, could forget the heavy load of the modern film production machinery for a while and instead develop and exercise their creativity." (http://www.tvropa.com/tvropa1.2/film/dogme95/menu/menuset.htm 24.03.2003)

2. Die Wirklichkeit sieht also nicht ganz so puristisch und wahrheitsgetreu (in o.g. Sinne) aus, wie das Manifest glauben machen will – was bei einer derart vermessenen Regel wie der Regel Nr. 8 auch nicht überrascht. Zunächst ist der Begriff des Genres – allgemein ein System kultureller Konventionen – in Bezug auf den Spielfilm nicht eindeutig fassbar. Er fungiert als Gattungsbegriff und definiert sich über inhaltliche und formale Spezifika (8). Torben Grodal führt aus:

[...] genre-categories can be _constituted_ in many different ways: they can be based on time ('historical films'); time and place (Westerns); types of action and themes (detective fiction, war films, love-stories); addresser-intention (avant-garde films, art films); and they can be constructed with a large time-horizon (claiming to map all films or all types of fiction), or a small one ('screwball comedy') (9).

Im Kino gibt es nach groben Schätzungen mehrere hundert Genres und Genreableger (10). In Zeiten des postmodernen Kinos, in dem Filme Anleihen bei verschiedensten Genres machen und somit offene oder Multi-Genres begründen, scheint es unmöglich, sich einer derart feingliedrigen Einteilung entziehen zu können. In der Praxis scheint die Herausbildung eines neuen Filmgenres ein äußerst langwieriger Prozess zu sein, da die Konventionen, die ein bestimmtes Genre auszeichnen, in einem wechselseitigen Prozess zwischen Produzenten und Rezipienten festgelegt werden. Es wird wohl kaum einem Film gelingen, jegliche Konstellationen, Motive oder Symbole bereits bekannter Genres zu vermeiden. Doch genau dies ist gemeint, wenn im DOGMA-Manifest lapidar von "Genre" die Rede ist: Die Dänen wollten, an eine avantgardistische Tradition anknüpfend, die Reduktion ihrer Disziplin zu einem Nullpunkt erreichen, um anschließend Neuland zu betreten. (11)

Ein Blick auf die Umsetzung der Genre-Regel zeigt, wie wenig sich die genannten Regisseure von den bestehenden Konventionen gelöst haben. Einige Beispiele: Das Fest (1998) folgt einer geradezu klassischen Dramaturgie, dem Dramenmodell eines Fünfakters. Der Plot ist eng an zwei Stoffe der Weltliteratur, Shakespeares Hamlet und Ibsens Gespenster, angelehnt und kann somit inhaltlich kaum als innovativ gelten (12). Jean Marc Barrs Lovers (1999) wirkt dagegen wie ein verspäteter Beitrag zur Nouvelle Vague. Und Søren Kragh-Jacobsens Mifune (1999) ist in seiner ganzen Dramaturgie ein herkömmliches Melodram, dem man allenfalls nebenbei – anhand einiger weniger Technikmängel – seine DOGMA-Zugehörigkeit ansieht. Was aber ist mit Lars von Triers Idioten (1998) – negiert dieser eigenartige Film nicht tatsächlich jegliche Genrezugehörigkeit?

Zumindest ist Idioten die direkteste Umsetzung des Manifestes. Unschwer lässt sich der Inhalt des Films als Parabel seiner Form lesen: Sowohl die Idiotengruppe als auch die DOGMA-Bruderschaft sucht nach etwas Authentischem; beide Gruppen versuchen, die Kontrolle aufzugeben; beide sehen in Einfachheit und Naivität einen Schlüssel zur Erkenntnis; beide setzen sich selbst Spielregeln; die Beschränkung resultiert aus der lähmenden Erfahrung des Überflusses; Spaß und Provokation sind ein wichtiger Teil des Spiels; und beide Experimente scheitern letztlich daran, dass es eben nicht gelingt, die Kontrolle aufzugeben. Doch gerade diese umfassenden Bezüge zwischen Regelwerk und Inhaltsebene machen Idioten zum selbstbezüglichen Experiment des Regisseurs, ja geradezu zu seinem Statement.

Damit aber erschöpft sich die Intention, die "Wahrheit" ins Kino zu tragen, in der Konstruktion einer mehr oder minder lebensnahen "Wirklichkeit" auf der Ebene von Figurenmerkmalen, Schauplätzen und Handlungsverläufen. Aus diesen jedoch eine inhaltliche "Wahrheit" zu pressen, die über "Glaubwürdigkeit" hinausginge, wird zur Floskel, wenn von Trier die Konflikte seiner Idiotengruppe entlang eines selbstironischen Kommentars zu seinem DOGMA-Projekt inszeniert und sie somit nachrangig behandelt. Im Übrigen knüpft auch von Trier an diverse Vorläufer an: Richard Combs und Raymond Durgnat weisen darauf hin, dass Idioten in der Tradition von Robert Rossens Lilith (1964) stehe; Georg Seeßlen sieht den Film als "Übermalung zugleich von Godards La Chinoise und Bergmans Der Ritus"; Peter Schepelern zählt gleich eine ganze Reihe von Filmen der Nouvelle Vague auf, in denen es ebenfalls um "eine anarchische Bande von Tagedieben, die spielen und schauspielern", gehe (13).

Die DOGMA-Filme können also nicht für sich in Anspruch nehmen, keinerlei Anklänge an bestehende Formen zu beinhalten: Sie reproduzieren unbefangen althergebrachte Stoffe, knüpfen an Genres wie das Melodram und "Filmschulen" wie die Nouvelle Vague an. Legt man das Manifest ganz starr aus, ohne die dahinterstehenden Intentionen seiner Macher zu beachten, dann haben die DOGMA-Filme die Genre-Regel nicht erfüllen können: Sie sind beim Versuch gescheitert, mehr Lebensnähe durch die Abkehr von tradierten Filmgenres zu produzieren.

Im Falle von DOGMA 95 ist das Genreproblem jedoch komplizierter gelagert. Die DOGMA-Brüder postulieren das Paradoxon, einerseits keine Genrefilme machen zu wollen, schreiben aber andererseits: "we must put our films into uniform" (14). Das Korsett der zehn Regeln bewirkt, dass sich vor allem in formaler Hinsicht eine Ähnlichkeit der DOGMA-Filme untereinander gar nicht vermeiden lässt. Verblüffenderweise haben sich neben den erwartbaren technisch bedingten Gemeinsamkeiten dieses Genres aber auch inhaltliche Konstanten herausgebildet, die zumindest die prominenteren dänischen sowie die frühen ausländischen DOGMA-Filme verbinden (15).

Alle diese Filme betrachten die Entwicklung einer Gruppe von mindestens zwei, maximal einem guten Dutzend Personen, die sich jedes Mal auflöst (16). Dieser Gruppenprozess vollzieht sich in den genannten Filme nur an einem Ort, zumeist sogar nur in einem einzigen Haus (Ausnahme: Italienisch für Anfänger – 2001). Der spannungserzeugende Motor der Geschichte, der zur Auflösung führt, ist jeweils ein verschwiegenes Geheimnis, das ans Tageslicht kommt (17). Auffallend viele dieser Filme stellen die Frage nach den Grenzen der vermeintlichen geistigen Gesundheit und bieten das "Unnormale" als Alternative an (18). Einige der Geschichten erzählen in diesem Zusammenhang von Regression: So entziehen sich die Idioten in ein kindähnliches Dasein, das nicht von Verantwortung und Rationalität beschwert ist, Mifune preist den Rückzug zum einfachen Landleben, dessen Prototyp der geistig behinderte und überaus sympathische Rud ist. Gemäß der Programmatik der Auflösung wird Sexualität, landläufig verstanden als ein Aufeinanderzugehen, überwiegend in ihrer hässlichen Form vorgeführt, romantische Liebesakte bekommt der Zuschauer – außer ansatzweise in der Liebesgeschichte Lovers – nicht zu sehen.

Im Verlauf der praktischen Umsetzung des DOGMA-Dekalogs haben sich noch einige inoffizielle Zusatzregeln herausgebildet: Zum Prozedere der Zertifizierung gehört die "Beichte" des Regisseurs, in der er seine Verstöße gegen das Manifest benennt und die Bruderschaft um Vergebung bittet. Außerdem wurde die Modifikation der Kamera-Regel – Digitales Video statt 35mm – von vielen weiteren Filmen nachgeahmt und dadurch zu einem markanten Merkmal des Genres. Es fällt weiterhin auf, dass die Regisseure der hier betrachteten Filme allesamt ihre Drehbücher selbst entwickelt haben. Es gibt jedoch nicht nur eine Erweiterung des Regelwerkes, sondern auch eine des engeren Personenkreises, der sich mit DOGMA 95 befasst: Mogens Rukov hat bei den drei ersten DOGMA-Filmen als Script-Doctor mitgewirkt, und Anthony Dod Mantle führte die Kamera bei Das Fest, Mifune und Julien Donkey-Boy (1999). Beide hatten somit maßgeblichen Anteil an der frühen Richtungsbestimmung von DOGMA. Darüber hinaus ist zu beobachten, das DOGMA 95 sich quasi selbst zitiert, wenn immer die gleichen Schauspieler "wiederverwertet" werden. Am Extremsten verfährt hier wohl Åke Sandgren in Ein richtiger Mensch (2001): Thomas Vinterberg spielt hier ebenso mit wie Protagonisten aus Das Fest, Idioten und Mifune. Die Schauspieler Paprika Steen und Nicolaij Lie Kaas treten in nahezu allen dänischen DOGMA-Filmen auf, ihre Gesichter sind dadurch zu Erkennungsmerkmalen des Genres geworden.

Torben Grodal hat dargelegt, dass Vertrautheit die wichtigste Komponente bei der Konstituierung eines Filmgenres ist (19). Im Falle von DOGMA 95 ist der unausgesprochene Vertrag zwischen Produzenten und Rezipienten, der der Herausbildung jedes Genres zugrunde liegt, erstaunlich schnell zustande gekommen. Schon 1999 wusste jeder ambitionierte Kinogänger, dass ihn in einem DOGMA-Film nicht nur unscharfe und wacklige Bilder oder an der Tonspur orientierte (und damit scheinbar willkürliche) Schnitte erwarteten: Er war auch darauf gefasst, dass er mit einer zumeist deprimierenden Geschichte, mit der exzessiven Darstellung von Spannungen innerhalb einer familienähnlichen Gruppe, mit vergleichsweise hässlichen Körpern und schwer erträglichen seelischen Entblößungen konfrontiert werden würde. Selbst der letzte in Dänemark gedrehte Film, der noch vom DOGMA-Sekretariat zertifiziert wurde, Susanne Biers Open Hearts, erfüllte alle diese Genremerkmale prototypisch.

DOGMA 95 hat sich als ein Genre etabliert und dadurch sowohl die textimmanente Intention des Manifestes – die Abkehr von geläufigen Formaten – als auch die Intention der vier DOGMA-Brüder – sich zu originären Plots zu zwingen – unterlaufen. Wenn DOGMA-Filme nicht nur identische Entstehungsbedingungen und den gleichen Look haben, sondern auch noch inhaltlich ein eigenes Genre oder Subgenre begründen, dann ist der Versuch, die eigene Kreativität durch den Zwang zur Originalität anzukurbeln, gescheitert. Stattdessen ist etwas anderes geschehen: DOGMA hat sich als Markenname erwiesen, dessen Wert in seiner Produktdifferenzierungsstrategie begründet ist. DOGMA-Filme brauchen das vermeintlich geglättet-unaufrichtige Hollywoodkino als Negativfolie, vor der sie sich als Alternative inszenieren können (20). Von der Zugehörigkeit zu dieser Marke haben alle DOGMA-Filme profitiert. Auch eher marginale Filme wie Ein richtiger Mensch wurden wahrgenommen, weil sie das DOGMA-Siegel vorweisen konnten. Die Etablierung der Marke DOGMA als Genre erfüllt damit exakt die gleiche Funktion wie im so gern gescholtenen Hollywoodkino: Sie gewährt den Absatz eines einmal akzeptierten Formates (21). Zu diesem Zweck variieren Genrefilme nie allzu sehr das vorgegebene Gerüst formaler und inhaltlicher Genrespezifika – was auch auf die hier angeführten DOGMA-Filme zutrifft.

3. Ich habe darauf hingewiesen, dass DOGMA zwei Motivationsstränge zugrunde liegen: Der erste Strang ist die textimmanente Intention des DOGMA-Manifestes, nämlich durch Einfachheit der Realität näher zu kommen, die Beschränkung und Enthüllung der Apparate und das Zulassen von Nonperfektion als Mittel der Authentisierung. Der zweite Strang ist das, was sich die Unterzeichner des Manifestes von Ihrer Aktion erhofft haben: Aus der Abkehr von eingefahrenen Abläufen Impulse für die eigene kreative Arbeit zu gewinnen. Beide Motivationsstränge haben innerhalb und außerhalb der Filmbranche zahlreiche Nachahmer gefunden.

Von vornherein war DOGMA 95 als Bewegung konzipiert, an der sich weitere Filmemacher beteiligen sollten. Lars von Trier hat indirekt jedoch auch zur Nachahmung des DOGMA-Gedankens in anderen Bereichen aufgerufen, indem er ein "DOGMA-Manifest des Dokumentarfilms" schrieb und auch hierfür eine Bruderschaft ins Leben rief, der außer ihm Jørgen Leth, Tøger Seidenfaden und Børge Høst angehören. Jeder von ihnen verfasste ein eigenes Manifest, zusammen wurden diese Texte am 6. Mai 2000 in einer Kopenhagener Zeitung veröffentlicht. Sie beinhalten allerdings keine konkreten Anweisungen, sondern sind vier sehr kurze Essays, mit denen die Autoren Stellung nehmen (22). Die "DOGMA-Manifeste des Dokumentarfilms" haben bisher allerdings kaum Beachtung gefunden.

Dies mag, neben der mittlerweile nicht mehr neuen Idee, vor allem darauf zurückzuführen sein, dass sie keine plakativen Regeln beinhalten. Dass es Lars von Trier immer auch um die öffentliche Wirksamkeit seiner Aktionen geht, wird daran deutlich, dass er am 31. Oktober 2002 die neun Regeln des "Dogumentary" veröffentlichte (23). Der Regeltext ist bereits im Mai 2001 von Lars von Trier unterzeichnet worden. Vermutlich schob von Trier ihn nun nach, um über die Publicity um seine Person Aufmerksamkeit für seinen neuen Film zu gewinnen. Laut "Dogumentary" müssen alle Drehorte im Film genannt werden; zu Beginn des Films muss das Ziel des Regisseurs offenbart werden; am Ende des Films erhalten mögliche "Opfer" zwei Minuten freie Redezeit zu ihrer Verteidigung; Schnitte müssen durch Dunkelphasen hervorgehoben werden; wie bei DOGMA 95 sind Nachvertonung, Bildbearbeitung, Filter und künstliche Beleuchtung verboten; so genannte "Docufiction", also das Nachspielen tatsächlicher Geschehnisse, ist untersagt; versteckte Kameras dürfen nicht benutzt werden; das gleiche gilt für Archivbilder.

Es ist wohl nicht zu erwarten, dass von Trier selbst nach diesen Geboten drehen wird. Allerdings sollen bereits mehrere "Dogumentary"-Filme bei seiner Produktionsfirma "Zentropa" in Arbeit sein (24). Die neun Regeln sind ein Denkanstoß vor allem gegen Fernsehsendungen, in denen reißerische Stories durch die Montage von Archivmaterial kreiert werden und Schauspieler jene Szenen nachspielen, bei denen in der Realität keine Kameras zugegen waren. Die Ausrichtung des "Dogumentary" verrät die Handschrift des Spielfilmregisseurs Lars von Trier, der so auf Kritik an der künstlich hergestellten Authentizität der DOGMA-Filme reagiert: Zum einen verweist er auf die mangelnde Objektivität auch des Dokumentarfilms, zum anderen treibt er den DOGMA-Gedanken konsequent weiter.

Die gesellschaftliche Relevanz des Films soll zum Beispiel durch folgende Vorgabe befördert werden, die im Begleittext des Regelwerkes steht: "Zielsetzung und Inhalt aller Dogumentary-Projekte müssen durch die Unterschrift von mindestens sieben Personen, Gesellschaften oder Organisationen, die in diesem Zusammenhang wichtig und relevant sind, unterstützt werden." Die Konzentration auf das Hier und Jetzt wird gewährleistet durch das Verbot, Archivmaterial zu benutzen, und den Zwang, jeden Drehort auszuweisen. Dem Umstand, dass ein Film – auch ein Dokumentarfilm – immer nur einen Ausschnitt der Welt zeigt und allein deshalb bereits andere Sichtweisen unterdrückt, wird dadurch Rechnung getragen, dass dem "Opfer" zwei Minuten Zeit zur Gegendarstellung eingeräumt werden. Hierdurch und durch den Zwang, andere Personen oder Gruppen an der Konzeption des Films zu beteiligen, wird der künstlerische Status beziehungsweise die gestalterische Freiheit des Regisseurs tatsächlich eingeschränkt – ernsthafter als durch den Verzicht auf persönlichen Geschmack oder die Nennung des eigenen Namens.

Peter Schepelern, Thomas Vinterberg und Mogens Rukov haben übereinstimmend darauf hingewiesen, dass in Dänemark die Bezeichnung DOGMA inzwischen auch für Architektur, Theater, Werbung, Malerei und Literatur gebraucht wird (25). Doch es gibt auch direkte Nachahmer der Regelsetzung des DOGMA 95-Manifestes.

Eine frühe Adaption war das "Hamburger Dogma" der Literatur, das Lou Probsthayn Ende 1999 initiierte. Zitat: "Wie kann, wie soll man zum Anbruch eines neuen Jahrtausends schreiben? [...] Ziel ist es, die Erzählstruktur der Literatur zu erneuern. Der Leser erhält einen Maßstab, mit dem er die Arbeit der Autoren überprüfen kann." (http://www.hamburger-dogma.de/1188.html 25.09.2002). Es folgen acht Regeln, die den weitgehenden Verzicht auf Adjektive, Metaphern, Vergangenheitsformen, lange Sätze, erzählerische Allwissenheit und Perspektivwechsel beinhalten. Außerdem sollen Gefühle nicht benannt, sondern dargestellt werden. In diesem "Vertrag der Autoren" finden sich viele textimmanente Intentionen des DOGMA 95-Manifestes wieder: Die Selbstbeschränkung des Künstlers; seine Rolle als Beobachter; der Verzicht auf Ausschmückung oder Verfremdung des Kunstwerkes; die Aufforderung, etwas Eigenes zu erschaffen, anstatt vorhandene Formen nachzuahmen; und das Zurücktreten des Künstlers hinter das "Ganze". Auch das Timing war ähnlich berechnend: Pünktlich zum Jahrtausendwechsel wurde das "Hamburger Dogma" vorgestellt. Und die Motive der Unterzeichner sind, wie beim dänischen Vorbild, weniger am Bedürfnis des Publikums ausgerichtet, sondern an dem der Autoren. Der Mitinitiator Gunter Gerlach offenbarte dies, indem er wie folgt dafür warb: "Wer einmal nach dem Hamburger Dogma schreibt, macht bestimmt eine tolle Erfahrung [...]. Er wird feststellen, dass es ihm hilft." (26)

Die Ironie von DOGMA 95, die dem "Hamburger Dogma" abgeht, hat der Schauspieler und Kurzfilmer Ari Gold aufgenommen und in Spott verwandelt. Sein "Dogma 99" hat zehn kurze, unkommentierte Regeln: Der Film soll eine Minute lang sein und darf keine Schnitte, keine Kamerabewegungen und keine Dialoge beinhalten; Ari Gold muss in jedem "Dogma 99"-Film mitspielen, die Zahl Drei darf nicht auftauchen, nur die Primärfarben sowie Schwarz und Weiß sind erlaubt; Proben für den Film darf es nicht gegeben haben, und seine Nachvertonung ist auch verboten (http://www.arigoldfilms.com/Culture.html 25.09.2002). Ari Golds praktische Umsetzung dieser Regeln ist der Kurzfilm Culture (1999), in dem Gold in der Manier eines "Cowboy-und-Indianer-Spiels" seine eigene Hinrichtung bei einer Schießerei spielt – inklusive Zeitlupe, Geräusche und Musik (http://www.arigoldfilms.com/movies/CultureByAriGoldFilms.mov 24.03.2003). Gold gibt offen zu, sein "Dogma 99" erst nach der Fertigstellung des Films niedergeschrieben zu haben. Die Parodie der DOGMA 95-Bewegung wird auf die Spitze getrieben durch seine Selbststilisierung als Ari von Gold. Trotz der offensichtlichen Parodie gibt aber auch er an, dass er einmal aus der langwierigen und mühsamen Arbeit des Spielfilm-Regisseurs ausbrechen wollte: "I made Culture because I wanted to finish something in one afternoon. A 60-second movie with no cuts and no camera movement seemed ideal." (27)

Eine weitere, recht freie Adaption des DOGMA-Gedankens im Filmbereich ist das Projekt "InDigEnt", das 1999 von dem New Yorker Regisseur und Produzenten Gary Winick ins Leben gerufen wurde. Winick gründete unter dem Dach der bestehenden "Independent Film Channel Productions" (IFC) eine als Kollektiv geleitete Produktionsfirma, die sich als Inspirationsquelle ausdrücklich auf Vinterbergs Das Fest und auf einen Vorreiter des Cinema Verité, John Cassavetes, beruft (www.indigent.net 24.03.2003). Bei "InDigEnt", was für "Independent Digital Entertainment" steht, gibt es kein formales Regelwerk, vielmehr nimmt die Gruppe den Low-Budget-Gedanken und die Etablierung der digitalen Videotechnik auf – vielleicht die beiden für das Filmsystem wirkungsvollsten Impulse, die letztendlich von DOGMA 95 ausgingen, obwohl beide nicht von den Dänen intendiert waren. Auch bei "InDigEnt" soll der kreative Impuls aus der Beschränkung heraus entstehen. IFC hat mit "InDigEnt" einen Vertrag geschlossen, der besagt, dass innerhalb eines Jahres zehn Filme mit einem Budget von jeweils maximal 150.000 US-$ gedreht werden sollen. Jedes Crew-Mitglied verdient am Tag egalisierende 100 US-$, die Drehzeit soll zwei Wochen nicht überschreiten. Was dabei wie verfilmt wird, bleibt offen: Außer der digitalen Videotechnik gibt es keinerlei Vorgaben, auch Charakter und Dauer der Postproduction-Phase sind nicht geregelt.

Ähnlich humorvoll wie Ari Golds "Dogma 99" ist auch das "Dogma 2000", das im Internet zu finden ist und sich an private Betreiber von Homepages wendet. Fünf kurze Regeln kreisen um eine einzige Intention, die da lautet: "Orthographic rules are not made for the net. This is the DOGMA 2000. There is no need for proofreading! It takes only time, it's senseless. The only one who'll profit from proofreading is the onlineindustry." (http://www.dogma2000.tk 24.03.2003). Wem diese Philosophie zusagt, der kann sich auf der "Dogma 2000"-Homepage auch eine Graphik herunterladen und damit seine eigene Internetseite als "Dogma 2000"-konform kennzeichnen.

Ernest Adams hat mit seinem "Dogma 2001" einen Dekalog von Vorschriften für die Designer von Computerspielen aufgestellt. Diese haben unter anderem zu verzichten auf 3D-Grafiken, aufwändige Bedienkonsolen, Ritter, Elfen, Zwerge und Drachen, Filmsequenzen, unnötige Gewalt und eine simplifizierende Schwarz-Weiß-Malerei zwischen Gut und Böse (28). Auch hier sind die Bezüge zu DOGMA 95 evident: Der Verzicht auf abgenutzte Genres, "vordergründige" Gewalt, überflüssige technische Spielereien und so weiter. Interessanter ist jedoch der Umstand, dass die Forderungen des "Dogma 2001" sich nicht gegen die dominierende Industrie wenden – so wie DOGMA 95 gegen Hollywood antrat –, sondern gegen die Einfallslosigkeit der Spieledesigner.

Das Manifest wurde auf einer Internetseite der Computerspiel-Industrie veröffentlicht. Diese Industrie macht sich eine Erneuerungs-Bewegung zunutze, um einen Weg aus der Einfallslosigkeit von Actionspielen zu finden. Das "Dogma 2001" dient als Denkanstoß für die Zulieferer eines Geschäftsbereiches, der an seiner Selbstreferentialität krankt – eine bemerkenswerte Entwicklung. Das Motiv dieser Regeln ist die Innovation des Spielesektors, nicht seine Reduktion auf Lebensnähe, sein Streben nach einer wie auch immer gearteten "Wahrheit" oder die Befreiung des Künstlers. Adams geht von Designern aus, die sich zwar als "Indies" (im Sinne von "independent") verstehen, gleichzeitig aber schwören: "As a Game Designer I promise for the good of my game, my industry [sic!], and my own creative soul to design according to the following [...] rules".

Eine weitere Adaption von DOGMA 95 mit dem Namen "WebDogme 01" ist wiederum auf das Internet bezogen. Dieses Regelwerk wurde von seinem Erfinder, Matt Jones, mit dem gleichen pseudoreligiösen Gestus wie das Original niedergeschrieben, ist jedoch keineswegs als Persiflage zu verstehen. Jones fordert technischen Purismus und die Identität von Urheber und Programmierer; die URL einer Homepage hat klar und einfach zu sein, ebenso ihr Design; Grafiken dürfen keine Texte ersetzen und diese dürfen wiederum nicht in die Irre führen; der Designer der Seite soll nicht genannt werden und muss stets bedenken, dass sein Werk Teil eines globalen Netzes ist und ein Angebot zur Kommunikation sein soll (29). Der abschließende Schwur ist nahezu identisch mit dem der DOGMA-Brüder. Der von Søren Kragh-Jacobsen angeführte Gedanke, durch DOGMA das eigene Können "unplugged" (30) zu zeigen, ist sicher die Motivation der ersten Regeln dieses Manifestes. Das Streben nach gesellschaftlicher Relevanz anstelle von eitler Selbstreferentialität und vordergründigen Effekten findet sich ebenfalls wieder. Vielleicht ist aber das "WebDogme 01" auch das erste DOGMA-Manifest, das ernsthaft versucht, den Interessen der Nutzer entgegenzukommen. Nicht umsonst taucht wiederholt die Formulierung "It's the user's to control" auf.

Auch in der Rockmusik gibt es eine Nachahmung von DOGMA 95: Die dänische Band "Ravenettes" will sich auf Lieder von maximal drei Minuten mit nur drei Akkorden beschränken – was eigentlich keine große Veränderung des Mainstreams bedeutet ...
Das jüngste Manifest, dass von DOGMA 95 inspiriert wurde, stammt interessanterweise aus der Automobilindustrie. Die Firma MCC Smart hat ein neues Modell entworfen, den "Smart Roadster". Für einen Sportwagen wirkt sein Motor mit 3 Zylindern und 60 PS geradezu lächerlich, noch dazu wird der Wagen überwiegend aus billigem Kunststoff gefertigt. Die Marketingabteilung von Smart verkauft die Eigenschaften des Autos jedoch als gewollten Verzicht und kleidet diese Botschaft in ein Manifest mit acht schlagwortartigen Sätzen wie "Fahrspaß hat nichts mit PS zu tun", "Halbes Gewicht verdoppelt die Performance" und dergleichen mehr (www.smart.com 24.03.2003). Allein der hohle Werbejargon macht klar, dass hier Selbstbeschränkung und "Echtheit der Gefühle" nur als Trend aufgegriffen wurden, um ein Produkt in einer Nische zu platzieren und an die entsprechende Käuferschicht abzusetzen. Das Smart-Manifest ist somit ein sinnentleertes Zitat von DOGMA 95. Daran lässt sich allerdings ablesen, wie sehr sich diese Idee etabliert hat.

Die Dogmen, die seit 1999 entstanden sind, zeigen, für welch eine Bandbreite von Intentionen sich ein an DOGMA 95 angelehntes Manifest einsetzen lässt. Ob die Befreiung des Künstlers, des Nutzers oder der eigenen Zunft als Ganzes das Ziel ist oder ein Manifest nur als Anlass für eine ironische Stellungnahme dient, ist jeweils unterschiedlich. Die Attraktivität, die eigene Arbeit aus der Beschränkung heraus weiterzuentwickeln, scheint jedoch interdisziplinär zu sein. DOGMA-Manifeste selbst sind so zu einem Subgenre der Textgattung "Künstlermanifest" geworden (31).

Das, was die DOGMA-Idee dem Kino geben kann, scheint schon durch die ersten sechs Filme ausgereizt worden zu sein (32): Bereits DOGMA Nr. 3 (Mifune) musste durch die Bestätigung der von den ersten beiden Filmen vorgegebenen Genremerkmale bei gleichzeitig völlig unaufregender Ästhetik enttäuschen. Trotzdem sind nach dem DOGMA-Konzept einige sehr bemerkenswerte Filme gedreht worden. Dass diese nicht aufrichtiger sind, als manch anderer Film, schmälert nicht ihre Qualität (33). Bedeutender ist der Umstand, dass die DOGMA-Bewegung über die Etablierung veränderter Sehgewohnheiten tatsächlich in bildästhetischer Hinsicht den Weg für die Demokratisierung des Mediums bereitet hat. Inzwischen bedienen sich nicht nur Musikvideos, sondern auch konventionelle Spielfilme der DOGMA-Ästhetik (34). Bilder, die mit einer digitalen Video-Kamera aus dem Amateurbereich aufgenommen wurden, können mittlerweile im Fernsehen und im Kino gezeigt werden – sofern die Attraktion der Umsetzung und des Inhalts die mangelnde Perfektion des Bildes kompensieren kann. Dass dies möglich ist, haben die dänischen DOGMA-Regisseure und ihre Adepten weltweit demonstriert.




 

Fußnoten

(1)   Jenny, Urs: "Spiel ohne Schiedsrichter". In: Der Spiegel 57, 2003, H. 2, S. 134ff. zurück

(2)   Es scheint, als habe der noch am Beginn seiner Karriere stehende Thomas Vinterberg in seinem Nachfolgeprojekt den DOGMA-Pfad der Tugend gänzlich verlassen, um nun das andere Extrem für sich zu probieren. Lars von Trier dagegen, aus dessen Gesamtwerk sich auch Idioten herleitet (zum Beispiel über Epidemic von 1987 und Breaking the Waves von 1995), hat für seine weiteren Filme einige mehr oder weniger direkte Anregungen aus dem DOGMA-Projekt gezogen. So ließe sich die Multiperspektivität der 100 Videokameras in Dancer in the Dark als eine Weiterentwicklung der alle(s) umkreisenden Handkamera interpretieren, die ebenfalls einen Zufallsaspekt in sich birgt. Das reduktionistische Element von DOGMA wird durch von Trier in Dogville auf die Spitze getrieben, wo Kulissen zugunsten von Kreidestrichen auf einem anonymen Hallenfußboden aufgegeben werden. Gleichwohl bedeutet in beiden Post-DOGMA-Filmen von Triers die Weiterentwicklung von DOGMA eine Abkehr vom Spiel des Keuschheitsgelübdes mit filmischer Authentizität. In beiden Filmen werden Bruchstücke der DOGMA-Techniken zurückgebunden an Ausdrucksmittel des klassisch-traditionellen Kinos beziehungsweise Theaters. Im an dramatischen Modellen geschulten Dogville und in seinem Musical Dancer in the Dark ordnet sich eine auch von dogmatischen Stilmitteln geprägte Ästhetik allein der Erzeugung von Ästhetik, Illusion oder Verfremdung unter. Das, was von Trier von DOGMA übernommen hat, dient ihm in diesen Filmen zur Verstärkung seiner Fiktionalisierungen, nicht mehr zur Enttarnung filmischer Illusion und der Etablierung einer vermeintlich authentischen Lebensnähe des Films. zurück

(3)   Die Firmen "Zentropa" und "Nimbus" betrieben zusammen das DOGMA-Sekretariat unter www.dogme95.dk. zurück

(4)   Als "DOGMA"-Bruderschaft bezeichneten sich die Regisseure Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Søren Kragh-Jacobsen und Kristian Levring. zurück

(5)   Vgl.: Trier, Lars v. und Thomas Vinterberg: "DOGME 95". In: Matthias N. Lorenz (Hg.): DOGMA 95 im Kontext. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Authentisierungsbestrebung im dänischen Film der 90er Jahre. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2003, S. 219f. zurück

(6)   Vgl.: Knudsen, Peter Ovig: "Die Kontrolle aufgeben. Lars von Trier im Gespräch". In: Jana Hallberg und Andreas Wewerka (Hg.): DOGMA 95. Zwischen Kontrolle und Chaos. Berlin: Alexander-Verlag 2001, S. 159-168, hier: S. 159. zurück

(7)   Zit. n.: Hallberg, Jana und Ulf Peter Hallberg: "Die verkehrte Ästhetik. Thomas Vinterberg im Gespräch". In: Ebd., S. 95-103, hier: S. 99. zurück

(8)   "The word 'genre' generally just means a category or a set of categories used to describe some general features in works of fiction. Works of fiction are complex phenomena, that can be analysed, and therefore categorized, in many different ways." (Grodal, Torben: Moving Pictures. A New Theory of Film Genres, Feelings, and Cognition. Oxford, New York: Oxford University Press 1999, S. 162.). zurück

(9)   Ebd. zurück

(10)   Vgl.: Müller, Eggo: "Genre". In: Rainer Rother (Hg.): Sachlexikon Film. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 141f. - Müller zählt 775 Filmgenres, eine seriöse Schätzung der Anzahl bestehender Filmgenres erscheint allerdings kaum möglich. zurück

(11)   Vgl. hierzu: Götsch, Dietmar: "Auf der Suche nach der verlorenen Unmittelbarkeit. Zum Wechselspiel von grenzüberschreitender Liebe, Wahrheitssuche und Ironie in den dänischen DOGMA-Filmen". In: Lorenz (Hg.): DOGMA 95 im Kontext, S. 17-55, hier: S. 28. zurück

(12)   Die Figurenkonstellation ist nahezu direkt von Shakespeare übernommen worden: Die Rolle Hamlets nimmt Christian ein; statt des Geistes des ermordeten Vaters ruft die tote Schwester, Linda; Claudius ist Helge und Getrude ist Else. Die inhaltlichen Bezüge sind evident: Der Rächer soll im Auftrag einer Leiche ein Verbrechen aufdecken; diese erscheint als Geist; der Rächer hat Schwierigkeiten, das Verbrechen zu beweisen und die Rache durchzuführen; er erscheint zum Teil als geistesgestört; seine Mutter trägt eine Mitschuld; eine öffentliche Demonstration soll die Wahrheit publik machen; etc. Auch die Parallelen zu Henrik Ibsens Schauspiel Gespenster sind deutlich: Die unterdrückte Lebenslüge der Mutter, die die Wahrheit kennt; die ausschweifende Sexualität des Vaters; die schrittweise Aufdeckung der Wahrheit im Gespräch; der aus Frankreich heimgekehrte Sohn; das verlockende und doch verbotene Verhältnis zwischen den (Halb-)Geschwistern; etc. zurück

(13)   Vgl.: Combs, Richard und Raymond Durgnat: "DOGMA 95 – A closer look at the credo of von Trier & Co.". In: Film Comment 36, 2000, H. 5, S. 28-32, hier: S. 30. / Seeßlen, Georg: "Aufbruch in die Sackgasse. Die dänischen Dogma-Filme: Radikaldilettantismus oder Utopieverrat? Eine Zwischenbilanz". In: Die Zeit 54, 1999, H. 28. / Schepelern, Peter: "Film und DOGMA. Spielregeln, Hindernisse und Befreiungen". In: Hallberg/Wewerka (Hg.): Zwischen Kontrolle und Chaos, S. 350-368, hier: S. 359f. zurück

(14)   DOGMA-Manifest. In: Lorenz (Hg.): DOGMA 95 im Kontext, S. 219. zurück

(15)   Auf die inhaltlichen Genremerkmale der DOGMA-Filme hat zuerst Georg Seeßlen hingewiesen, vgl.: "Aufbruch in die Sackgasse". Wertvolle Anregungen hierzu habe ich auch von meinen Kollegen Andreas Sudmann, Göttingen, und Jörn Glasenapp, Lüneburg, erhalten. / Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf die Filme der vier DOGMA-Brüder, Das Fest, Idioten, Mifune, The King is Alive (2000), den sehr erfolgreichen Italienisch für Anfänger (2001), der erste DOGMA-Film einer Frau, und auf Lovers und Julien Donkey-Boy (1999) als frühe ausländische Adaptionen. zurück

(16)   Die Familie in Das Fest, die Idioten-Gruppe und Karens Familie, Krestens komfortable Ehe mit der Tochter seines Chefs in Mifune, die sich zerstreitende und dann wegsterbende Busreisegruppe in The King is Alive, die Beziehungen der beiden Schwestern zu ihren verstorbenen Elternteilen in Italienisch für Anfänger, die Liebesbeziehung zwischen Jeanne und Dragan in Lovers. In Julien Donkey-Boy droht nach der Enthüllung des Inzestverhältnisses zwischen Julien und seiner Schwester – mit dem der Film endet – das Auseinanderbrechen der Familie, womöglich gar die Einweisung Juliens. Nur in den optimistischeren Filmen bilden sich zum Ausgleich neue Gruppen, die jeweils Familiengründungen gleichkommen (Italienisch für Anfänger, Mifune). zurück

(17)   Der Kindesmissbrauch in Das Fest, der Verlust von Karens Baby in Idioten, die bäuerliche Herkunft Krestens und Livas Rotlichtvergangenheit in Mifune, die Schwesternschaft der beiden als Kinder getrennten Frauen in Italienisch für Anfänger, der Inzest zwischen Julien und seiner Schwester in Julien Donkey-Boy, der illegale Aufenthalt Dragans in Frankreich in Lovers. zurück

(18)   Das Thema ist in Idioten evident: "Normale" spielen aus Spaß und Gründen der Bewusstseinserweiterung geistig Behinderte; die weibliche Hauptfigur, Karen, trägt Anzeichen einer echten seelischen Gefährdung. Ebenso Julien Donkey-Boy: Julien ist schizophren, doch auch die Mitglieder seiner Familie verhalten sich kaum normaler als er. Auch in Mifune kommt ein geistig behinderter Protagonist vor: Krestens Bruder Rud. In Das Fest wird darauf angespielt, dass die Hauptfigur Christian psychisch labil ist und schon einmal in einer Nervenheilanstalt behandelt wurde. In Italienisch für Anfänger erfahren wir, dass eine der beiden Schwestern im Mutterleib durch den Alkohol- und Zigarettenkonsum ihrer Mutter geschädigt wurde und daher motorisch zurückgeblieben ist. Die Thematik des Normalen bzw. Unnormalen wird auch in den späten dänischen DOGMA-Filmen Open Hearts (2002), Ein richtiger Mensch (2001) und Kira (2001) fortgeführt. zurück

(19)   "[...] feelings of familiarity-unfamiliarity play an important role. A given set of elements of fiction will therefore have an affective value for the viewer connected with the number of times the viewer has been exposed to a set of features [...]. People who have seen many Westerns have positive feeling of familiarity with western iconology (certain landscapes like Monument Valley, certain objects like horses, guns, and wagons) and with the narrative formulas of the Western. People who have seen many films featuring Ernest Borgnine have a feeling of familiarity connected with him. People living in France have feelings of familiarity connected with certain types of faces, houses, or language types. People who have seen many avant-garde films have a positive feeling of familiarity with certain types of heterogeneity." (Grodal: Moving Pictures, S. 163.). / Einen ähnlichen Stellenwert räumt auch Barry Keith Grant dem Faktor Vertrautheit ein, vgl.: Ders. (Hg.): Film Genre Reader. Austin: University of Texas Press 19903, S. XI. zurück

(20)   Vgl. hierzu: Glasenapp, Jörn: "Oasen und Müllkippen. Überlegungen zur Produktion medialer Aufrichtigkeit". In: Lorenz (Hg.): DOGMA 95 im Kontext, S. 97-109. zurück

(21)   Vgl.: Grant (Hg.): Film Genre Reader, S. XI. zurück

(22)   Jørgen Leth beschreibt ein "Gefühl" für "den magischen Moment", den es einzufangen gilt, ohne dass man ihn herbeizwingen könnte. Vielmehr verweist er auf "die endlosen Gaben des Zufalls". Lars von Trier will mit seinem Text "Defokus" die "Story" aus dem Dokumentarfilm verbannen – Zitat: "Wenn man eine Story [...] erfindet oder sucht, dann verschweigt man etwas [...], weil man ein einfaches Modell, wahr oder unwahr, hervorhebt, die Welt als Fixierbild vermittelt, mit Lösungen, die schon im voraus festgelegt sind." Tøger Seidenfaden bemängelt, dass die journalistischen Erzähltechniken der schreibenden Zunft auf den Film übertragen worden seien und diesen deshalb lähmen würden. Schließlich verlangt Børge Høst in seinem Manifest "Respekt vor dem Publikum". Anstatt die Themen "ernst" zu nehmen und sich "tiefer" mit ihnen filmisch auseinander zu setzen, nähmen die Produzenten bislang falsche Rücksicht auf das, "was die Zuschauer sehen wollen" und angeblich "verstehen können". (Zit. n.: Hallberg/Wewerka (Hg.): Zwischen Kontrolle und Chaos, S. 251-255.). zurück

(23)   von Trier, Lars: The documentarist code for "Dogumentarism" [May 2001]. In: http://www.sidf.co.uk/programme/2002/dogumentary.pdf (05.11.2002). zurück

(24)   Der "Nordic Film & TV Fund" berichtet in seinem Newsletter (nftf.net): "Outside the Nordic countries, American, English, French and Dutch directors have committed themselves to produce documentaries following the nine rules of the May 2001 manifesto [...]. The Scandinavian contingency includes Bente Milton, Klaus Birch, Michael Klint, Sami Saif [...], Norway's Margreth Olin [...] and Sweden's Pål Hollender." (http://www.nftf.net/Newsletter/NL-021029.html#Anchor-HOT-47857 (05.11.2002).). zurück

(25)   Vgl.: Schepelern, Peter: Lars von Triers film. Tvang og befrielse. Kopenhagen: Rosinante Forlag 2000, S. 227. / Thomas Vinterberg, zit. n. Kelly, Richard: The Name of this Book is Dogme 95. New York: Faber and Faber 2000, S. 112. / Rukov, Mogens: quot;Notizen über Dogmen und Sinnlichkeit". In: Hallberg/Wewerka (Hg.): Zwischen Kontrolle und Chaos, S. 260-263, hier: S. 260. (Rukov berichtet darüber hinaus: "Ich habe gehört, dass im Europaparlament vorgeschlagen wurde, einige DOGMA-Regeln für die Arbeit des Parlamentes aufzustellen."). zurück

(26)   Zit. n.: Bausch, Mechthild: "Metaphern verboten. Dänisches Vorbild: Der Keuschheitsschwur des Hamburger Literatur-'Dogma'". In: Die Tageszeitung [Hamburger Ausgabe] 03.01.2000, S. 24. zurück

(27)   Ari Gold, zit. n.: Gore, Chris: "Good as Gold. An Ari Gold Interview" [10.10.2001]. In: http://www.filmthreat.com/Interviews.asp?File=InterviewsOne.inc&Id=237 (25.09.2002). zurück

(28)   Vgl.: Adams, Ernest: "Dogma 2001. A Challenge to Game Designers". In: Gamasutra [02.02.2001], zit. n.: http://www.gamasutra.com/features/20010129/adams_pfv.htm (24.03.2003). zurück

(29)   Vgl.: Jones, Matt: "Web Dogme". In: CreateOnline Magazine 09/2001, zit. n.: http://www.blackbeltjones.com/dogme.html (24.03.2003). zurück

(30)   Zit. n.: Hallberg, Jana und Ulf Peter Hallberg: "Zu den Wurzeln zurückkehren. Søren Kragh-Jacobsen im Gespräch". In: Hallberg/Wewerka (Hg.): Zwischen Kontrolle und Chaos, S. 187-196, hier: S. 187. zurück

(31)   Ich knüpfe hier an Wolfgang Asholt und Walter Fähnders an, die den Aktions- und Texttypus eines avantgardistischen Manifestes als "Genre" betrachten. - Vgl.: Dies. (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. XVf./XXVI. zurück

(32)   Andreas Sudmann bemerkt zutreffend: "[...] Dogma 95 hat einer bestimmten Filmästhetik auf lange Zeit seinen Stempel aufgedrückt. [...] Nicht nur für etablierte Filmemacher dürfte es wenig interessant sein, den hundertfünfzigsten Dogma-Film gedreht zu haben." (Ders.: Dogma 95. Die Abkehr vom Zwang des Möglichen. Hannover: Offizin-Verlag 2001, S. 150.). zurück

(33)   Jörn Glasenapp hat gezeigt, wie vor allem in der vergangenen Dekade in verschiedenen Künsten Aufrichtigkeit als Strategie eingesetzt wurde, um das knappe mediale Gut Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der Verweis auf das Strategische dieses Ansinnens entlarvt bereits seine Künstlichkeit. Ein Restwert an Authentizität bestimmter Handlungen, Dialoge oder Ausstattungen eines Films mag bestehen bleiben, doch DOGMA bildet keine Ausnahme von der Regel, dass bei diesen Bestrebungen Aufrichtigkeit inszeniert wird. (Vgl. Glasenapp: "Oasen und Müllkippen". In: Lorenz (Hg.): DOGMA 95 im Kontext, S. 97-109.) zurück

(34)   Gerade im deutschen Film hat der "DOGMA-Look" einige Nachahmer gefunden. Prominentester Vertreter einer fast dokumentarischen Erzählweise mittels digitaler Video-Handkamera ist Andreas Dresen, der mit Halbe Treppe den Überraschungserfolg des Kinojahres 2002 vorgelegt hat. Dresen hat als weiteres Authentisierungsmittel auch die Interviewsequenzen aus Lars von Triers Idioten imitiert. Dass DOGMA mittlerweile auch in Hollywood angekommen ist, hat Andreas Sudmann anhand von Steven Soderberghs Traffic (2000) und Joel Schumachers Tigerland (2000) gezeigt. (Vgl.: Ders.: "Julien Donkey-Boy, Tigerland, Traffic – Was macht das amerikanische Kino mit DOGMA 95?", in: Lorenz (Hg.): DOGMA 95 im Kontext, S. 141-156.) zurück



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