MetroCinevision / Kino / Technik


Michael Häußler

MetroCinevision - Kino in der U-Bahn



Die Idee

Als die Brüder Lumière im Jahre 1895 in Paris auf einer Leinwand zeigten, wie ein Zug in den Bahnhof einfährt, da kroch das Publikum - jedenfalls lautet so das Gerücht - vor lauter Schrecken unter die Sitze, aus Angst, überrollt zu werden. Seitdem hat das Kino nicht aufgehört, bei seinen Zuschauern starke Gefühle auszulösen: mit Sex und Gewalt, mit hemmungsloser Rührseligkeit, mit witzigen Gags und Helden, die stets größer sind als im "wirklichen" Leben. Alte Emotionen wurden im Laufe der Jahre in immer neue, mehr oder weniger lukrative Storys gepackt. Die rasant fortschreitende Technik ließ bald nicht mehr nur schwarz-weiße, sondern auch bunte Bilder auf den Leinwänden dieser Welt erscheinen. Doch all den technischen Neuerungen zum Trotz: Das Grundschema des Films ist über all die Jahre das gleiche geblieben: Die Bilder bewegen sich, der Betrachter sitzt und sieht.

Von der Zeit der chinesischen Schattenspiele im 12. Jahrhundert bis hin zum digitalen Fernsehen war die Bewegungskorrelation zwischen Bild und Betrachter stets gleich: das Bild bewegt sich, der Betrachter bleibt statisch. 103 Jahre nach der Erfindung des Films wird nun die Dynamik des Betrachters zur treibenden Kraft der Kinematografie.

Berlin im Oktober 1998: Rund ein Jahrhundert, nachdem die Bilder laufen lernten, stellt ein neues Medium das alte Kinoprinzip auf den Kopf, denn ein Filmverrückter macht sich auf, die Bewegungskorrelation zwischen Bild und Betrachter umzukehren: Die Bilder sollen fortan stillstehen, während die Dynamik des Sehenden zur treibenden Kraft dieser Kinematografie wird. Der bewegte Mann als Pendant zum stehenden Bild? Die U-Bahn bietet neben idealen Lichtverhältnissen und ausreichendem Tempo diesen wunderbaren Vorzug: Man wird bewegt.

MetroCinevision nennt der Berliner Filmemacher und Tüftler Jörg Moser-Metius sein neues Medium, das der Tristesse unterirdischer Bahnlinien den Kampf ansagt. Wo bisher die gute alte Zeitung oder andere Printerzeugnisse im Inneren des Zuges der Wahrung großstädtischer Anonymität dienten, soll nun der Blick nach draußen, aus dem Fenster lohnen. Die U-Bahn-Fahrt als Event, als grandioses Seh-Erlebnis ? Ganze 30 Sekunden lang verwandelt sich der Wagen zum Kinosaal, die graue Tunnelwand wird zur Leinwand. Wo bisher verläßlich das Nichts lag, kommt nun bei voller Fahrt Charlie Chaplin aus der Finsternis gewatschelt: Kino pur und doch nicht nur Kino.


Die Technik

Zwischen den Berliner U-Bahnstationen Zoologischer Garten und Hansaplatz fährt der Fahrgast an Einzelbildern vorbei, die stroboskopisch auf eine "Leinwand" an der Tunnelwand projiziert werden, und sieht Filme in Kinoqualität. Die Filmspots haben eine Länge von 30 Sekunden, nach jeder Zugdurchfahrt wechselt der Film. Die 18 Filme eines Programms werden aus Werbespots und künstlerischen, kulturellen oder informativen Beiträgen unterhaltsam gemischt. "Diese Verbindung aus wirtschaftlicher Nutzung und gehaltvollem Rahmenprogramm sichert die Attraktivität des Mediums und die Akzeptanz bei den Fahrgästen. MetroCinevision betreibt ein breitgefächertes Marketing, um dieses neue Medium zum virulenten Bestandteil der Stadtkommunikation mit hohem Imagewert und internationaler Abstrahlung weiter zu entwickeln." (Zitat, Infomappe der MetroCinevision)

Wenn die U-Bahn auf der verkehrsreichsten Linie Berlins 270mal am Tag den Bahnhof Zoo verläßt und mit rund 75 Stundenkilometern durch den Tunnel fährt, setzt ein computergesteuerter Prozeß ein: Auf der 545 Meter langen Strecke sind 900 Projektoren installiert, pro Sekunde entstehen vor jedem Fenster des fahrenden Zuges 30 Einzelbilder in 15 cm Entfernung auf der Tunnelwand. Jeder Flash dauert nur eine 20millionstel Sekunde. Durch die Bewegung der Bahn und die Trägheit der Netzhaut verschmelzen die 900 Einzelbilder (ein Bild pro Projektor). Im Auge des Betrachters ergibt das einen durchlaufenden Kurzfilm - gegen die Langeweile unter Tage.

Der Computer kennt alle Wagentypen, weiß, in welchem Abstand die Fenster liegen und paßt die Projektion an das Zugtempo an, damit weder Zeitraffer noch Zeitlupe entstehen. Das Programm von 18 unterschiedlichen Filmen wird alle zwei Monate aktualisiert. Die Werbespots (u.a. für Nike, Deutsche Telekom, Swatch ...) können auf Kundenwunsch und -anforderung zeitlich relativ genau über den Tag disponiert werden. Werbekunden zeigen berechtigtes Interesse, schließlich erreicht ein einziger U-Bahn-Spot bis zu 3780 Zuschauer pro Tag.


Die Zukunft

Kaum ein Jahr existiert die momentan abgeschaltete Anlage, da gehört sie schon zum alten Eisen. Die gefeierte Weltneuheit von einst mußte aufgrund diverser Kinderkrankheiten und kleinerer Planungsfehler abgeschaltet werden.
Der 4,5 Mio. Mark teure Prototyp hat sich dennoch bezahlt gemacht. Weiterentwickelte, ungleich günstigere Anlagen erregen weltweites Interesse, 120 U-Bahnnetze stehen als potentielle Abnehmer zur Verfügung. Das nächste Untergrundkino wird bereits in Paris im Netz der SNCF installiert. Das Sahnehäubchen der Erfolgsgeschichte: Metro-Cinevision wird auch ein Ausstellungsstück der Expo 2000 sein.



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