Stanley Kubrick, A Clockwork Orange,


Christoph Laskowski

Stanley Kubricks Motive

Abstract: Der folgende Beitrag untersucht einige grundlegende visuelle Motive und Strategien, die insbesondere in dem Film „A Clockwork Orange“ von Stanley Kubrick zu beobachten sind, aber dessen filmisches Werk insgesamt charakterisieren und auszeichnen, z.B. das Motiv des Blicks, der Maskierung, das Doppelgänger-Motiv und die Darstellung von Bürokratie.

 

Einleitung

`A Clockwork Orange’ ist eine bizarre und surreale Geschichte, die ihre Faszination lediglich aus der merkwürdigen Komposition von Sex, brutaler Gewalt und klassischer Musik erlangt.

Oberflächlich betrachtet ist dieser erste Eindruck, den so manch ein Zuschauer von diesem Film gewinnt oder gewonnen hat, verständlich. Denn ohne ein gewisses Hintergrundwissen ist es geradezu unmöglich, der skurrilen Geschichte von Alex DeLarge einen tieferen Sinn zu entnehmen. Stellt man sich aber die Frage, warum dieser Film entstanden ist und wodurch die zweifellos existente Faszination an `A Clockwork Orange’ hervorgerufen wird, muss man sich nicht nur detaillierter mit diesem Film auseinander setzen.

Die Antwort findet der aufmerksame Zuschauer eigentlich schon nach 33 Sekunden. Es ist der Moment, in dem sich der blutrote Bildschirm in ein dunkles Blau verfärbt und in großen weißen Lettern `A Stanley Kubrick Production’ geschrieben steht. Der Effekt, den Kubrick beim Zuschauer mit diesem Film erzielt, ist nur zu erklären, wenn man sich das Werk des Regisseurs im Gesamten betrachtet. Nur ein solcher Überblick über das Gesamtwerk vermag es, die zahlreichen Anspielungen, Symbole, Zeichen und Aussagen im Kontext zu entschlüsseln, die Kubrick in seine Filme einbaut, um so wieder einen Anschluss an ein anderes Werk herzustellen oder auf ein solches hinzuweisen.

Kubricks Filme bilden eine Einheit und sind meist eine Fortsetzung oder Erweiterung des vorherigen Projekts. An Hand von vier ausgewählten Szenen von `A Clockwork Orange’ sollen wesentliche Merkmale und Thesen des Films erschlossen werden. Mit Hilfe dieser `Strecke’ soll zudem gezeigt werden, dass Kubrick seine Ansichten, Vorlieben und bestimmte Symbole auch wiederholt in anderen Filmen auftauchen lässt.


`A Clockwork orange’ - der Film beginnt

Zur Anfangsszene soll auf den Titel, die Verbindung zu `2001: A Space Odyssee’ und das Motiv des Blicks eingegangen werden. Die zu untersuchende Szene umfasst den Vorspann, die erste Kamera-Einblendung des Films bis hin zum Aufeinandertreffen mit dem Obdachlosen.

Was als erstes an dem Film Kubricks neugierig macht, ist der ungewöhnliche Titel, auf den man im Vorspann blickt: `A Clockwork Orange’ heißt das Werk im Original und ist die Verfilmung des gleichnamigen Buches von Anthony Burgess. Der Autor nahm dabei die Redewendung `queer as a clockwork orange’ (zu Deutsch: verrückt wie eine mechanisierte Orange) auf.

„Übertragen auf die Hauptfigur Alex deLarge: körperlich gesund, innerlich aber reduziert auf nicht kontrollierbare Reflexmechanismen.“ (Schulz, S. 14). Auch Alex ist ein organisches Wesen, allerdings ist sein Uhrwerk gestört. Warum die Hauptfigur zu einem gewalttätigen und sexuellen Triebtäter wird, bleibt im Unklaren. Es wird lediglich offen gelegt, dass er bei seinen Taten unter Drogeneinwirkung steht. Wodurch sein Handeln ausgelöst wurde, ob Langeweile oder ein bestimmtes Erlebnis ausschlaggebend waren, wird nicht aufgeklärt.

Alex’ Uhrwerk soll mit Hilfe der Ludovico-Technik repariert, sein brutales Verhalten unterdrückt werden. Letzteres Ziel erreicht der ausführende Arzt Dr. Brodsky zwar, jedoch mit verheerenden Nebenwirkungen: „The result of the conditioning process ist the destruction of the clockwork altogether. […] In its ignorance of the psychic symbiosis of good and evil, the state has murdered Alex.” (Tilton, S. 39). Alex ist danach mehr Maschine als Mensch.

Bei Kubrick steht die Beziehung, respektive die Angleichung, zwischen Mensch und Maschine immer wieder im Mittelpunkt. Alex wird durch eine mechanische Anwendung entmenschlicht. Er reagiert auf Sex und Gewalt mit Übelkeit, so wie eine programmierte Maschine. Der Computer HAL in `2001: Odyssee im Weltraum’ hingegen versucht, menschliche Züge zu entwickeln, und Kubrick schafft es, dem Zuschauer das Gefühl von Mitleid für HAL zu entlocken. Dank der gekonnten Inszenierung des Regisseurs erzeugt HALs Tod auch ein Gefühl der Trauer.

Auch in Kubricks Kriegsfilmen beobachtet der Zuschauer eine Annäherung zwischen dem Mensch und der Maschine. Die Soldaten - als bestes Beispiel eignet sich Private Pyle in `Full Metal Jacket’- werden in ihrem Verhalten mechanisiert und sind letztlich mehr Maschine als Mensch. „Aber diese Maschine weist sie auch wieder ab, sie bedarf ihrer nicht. Wenn die Menschen indes wieder auf sich selbst zurückgeworfen sind, […] dann sind sie wieder barbarische Körper.“ (Seesslen/Jung, S. 51).

Und das ist gleichzeitig der Konflikt bei Kubrick: Der Mensch entwickelt sich zwar durch die Erfindung der Maschinen weiter, jedoch beginnen diese in seinen Filmen ein Eigenleben zu entwickeln. „Das Werkzeug, das der Mensch geschaffen hat, um die Welt zu beherrschen, beherrscht nun ihn selber und wird dabei so bedrohlich und geheimnisvoll wie die Natur war.“ (ebd., S. 52).

So wie bei den meisten seiner Filme verlinkt Kubrick seine Werke durch Schluss- und Anfangsszene. Ein sehr häufig von ihm verwendetes Motiv ist der Blick. Kubrick benutzt ihn in diesem Fall, um `A Clockwork Orange’ so direkt wie möglich mit `2001 - A Space Odyssee’ und `A Clockwork Orange’ zu verbinden.

So entsteht das erste Bild des Films: Man schaut in das blitzende Auge von Alex, das rechte mit langen Wimpern verziert, um noch mehr Aufmerksamkeit auf den Blick zu lenken.

(Quelle: http://www.clockworkorange.com/graphics/Alex_02.jpg)

„The face looks floodlit, as if caught by one of those automatic machines in a bus station“ (Canby, http://www.nytimes.com/library/film/122071kubrick-orange.html). Diese erste Sequenz bildet gleichzeitig einen „Rückblick“ auf `2001 - A Space Odyssee’. Der Kultfilm aus den Sechziger Jahren endet mit einem durchs All schwebenden Embryo, das den Zuschauer mit seinem Blick förmlich durchbohrt.

(Quelle: Jansen/Hummel, S. 130)

Ein weiterer Beweis, dass Kubrick seine Filme durch diese Verkettung als Ganzes darzustellen versucht. „[J]eder Film musste immer wieder die Quintessenz der eigenen Arbeit enthalten und ein Schritt in ein noch nicht erreichtes visuelles Stadium sein“ (Seesslen/Jung, S. 24).

Und noch eine Anspielung baut Kubrick nach etwa zwei Minuten ein: Der Obdachlose, den Alex und seine Droogs verprügeln, erzählt ihnen, dass sie ihn ruhig umbringen können. Ihm sei das gleichgültig in einer Zeit, in der Menschen zum Mond fliegen, obwohl sie nicht mal auf ihrem eigenen Planeten für Ordnung sorgen können. Auch hier `erinnert’ Kubrick den Zuschauer noch mal an das Weltraumepos.

Traurig und nachdenklich wirkt dieses Auge in `2001’ zum Schluss - im Gegensatz zu dem von Alex. „Diesen Blick kennen wir aus anderen Kubrick-Filmen: Immer als Beginn einer mörderischen Tat“ (Pulfrich, http://www.medienstudent.de/studi/clockwork.htm). Nicht nur Alex’, sondern auch HALs Gewalttaten sind eng mit dem Blick verbunden. Das rote Auge der Maschine wird von Kubrick bei der Ermordung der eingeschläferten Crewmitglieder immer wieder Unheil bringend eingeblendet. Und es gibt zahlreiche weitere Beispiele: Es ist der Blick von General Ripper in `Dr. Strangelove’, als er Mandrick seinen apokalyptischen Plan verrät, der von Jack Torrance in `The Shining’, bevor er beginnt, seine Familie auslöschen zu wollen, und der von Private Pyle bei seinem Mord an seinem Ausbilder Hartman. Wiederholt leitet Kubrick mit Großaufnahmen des Blickes Gewalt- und Mordszenen ein. Auch in `Clockwork Orange’ erscheint dieser Blick später noch einmal, als Mr. Alexander seinen früheren Peiniger wiedererkennt und Alex in den Selbstmord treibt.

„Wenn 2001 das Versprechen einer Hoffnung war […], ist A Clockwork Orange nur noch deren Denunziation“ (Hummel/Jansen, S. 150). Aus der Anfangssequenz mit dem langen Monolog von Alex und dem gesamten Aufbau der Startszene geht hervor, dass `A Clockwork Orange’ hinsichtlich des Plots nicht viel mit `2001’ gemeinsam hat. In der sterilen Welt des Science-Fiction-Films gibt es nur wenige Dialoge - der Film ist ein visuelles Erlebnis. Auch das ist typisch für Kubrick. Immer wieder begibt sich der Regisseur auf Neuland, sucht neue Themen. „Uhrwerk Orange wird […] zur Antithese von 2001, eine dialektische Bewegung, auf der die vorübergehende Stufe verneint wird“ (Ciment, S. 59). Das Apollonische in `2001’ wird zum Dionysischen in `A Clockwork Orange’, wo die Gewalt als lustvoll und erhebend dargestellt wird. In `2001’ wenden nur die Affen beim Kampf um die Wasserstelle vergleichbar brutale Gewalt an. Der stille Tod der Crew ist absolut gewaltlos - man sieht lediglich auf einem Monitor, wie HAL das Lebenserhaltungssystem abschaltet, bis letztlich `Life functions terminated’ auf dem Bildschirm erscheint. Ein sanfter Tod, den man eher zur Kenntnis nimmt, als ihn zu bedauern. So wird auch mit dem Schlüsselthema der Gewalt in den beiden Filmen vollkommen unterschiedlich verfahren.


Die Einbruch-Szene bei Mister Alexander

Beim ersten Überfall ins Haus der Alexanders soll das Mittel der Maskierung dargestellt werden. Die Szene offenbart zudem ein weiteres Motiv des Regisseurs. Kubrick genoss es, die Ironie des Schicksals mit verqueren Liedern zu unterstreichen und erreichte damit einen auf den Zuschauer entrückend und verwirrend wirkenden Effekt. Schließlich wird auf das Phallus-Symbol und die dadurch dargestellte Sexualität eingegangen.

Nachdem Alex sich unter einem Vorwand in das Haus von Mister Alexander und dessen Frau Zugang verschafft hat, erschließt sich dem Beobachter ein weiteres, häufiges Motiv - die Maskierung. Alex trägt eine Maske, die von `Droog’ Dim ähnelt der von Johnny Clay in `The Killing’ bei dessen Überfall.

(Quelle: Seesslen/Jung, S. 56)

In `Barry Lyndon’ sind die Gesichter der Gestalten durch Puder und Schminke maskiert, auf dem Ball in `Eyes wide shut’ sind die Personen wieder durch Masken vermummt. Es sind die handelnden Personen, die sich in Kubricks Filmen vermummen. „Die Maske anlegen […] bedeutet zur Tat zu schreiten, zum radikalen Sender zu werden und zur Verweigerung des Empfangs“ (Seesslen/Jung 1999, S. 57). In der Einbruch-Szene kommt dies zum Ausdruck: Alex schreitet zur Tat, er organisiert den Einbruch und schlägt auf Mr. Alexander ein. Die Vergewaltigung von dessen Frau ist die radikale Tat. Seine Empfangsverweigerung spiegelt sich in der Knebelung beider Opfer wieder.

Zu dem Rhythmus des heiteren `I’m singing in the rain’ schlägt und tritt Alex auf das Ehepaar ein. Kubrick hatte den Schauspieler Malcolm Macdowell aufgefordert, irgendeinen Song zu trällern, und dem fiel nichts anderes ein als der Gene-Kelly-Klassiker. Dem Zuschauer bietet sich somit eine groteske Szenerie. Das Lied eröffnet „nicht nur den Zynismus, sondern durchaus auch die Möglichkeit, dass diese Grausamkeit tatsächlich auch in aller Unschuld geschehen möge“ (Seesslen/Jung, S. 66).

Am stärksten ausgeprägt ist das Verhältnis der Musik als ironische Unterlage zum tatsächlichen Geschehen in `Doktor Strangelove’. Im Bomber hören die Piloten unter der Führung von Major Kong das Lied `When Johnny comes marching home’, „a music image, that ultimately contradicts itself. No one comes marching home from this battle.“ (Kolker, S. 92). Zu den Bildern des Weltuntergangs durch die atomaren Sprengungen am Ende des Films hört man ein sentimentales Liebeslied mit dem Text: `We shall meet again, I don’t know where, I don’t know when, under the sun’. Es fällt auf, dass diese romantischen Balladen stets in Verbindung mit dem Tod stehen. Mrs. Alexander stirbt in `Clockwork Orange’ genauso wie die Crew und letztlich alle Menschen in `Dr. Strangelove’. In `Full Metal Jacket’ singen die Soldaten die Hymne des Mickey-Mouse-Clubs, nachdem sie die Scharfschützin getötet haben. Die Abschlussszene des Kriegsfilms ist „die Rückkehr in eine Kindheit, des Menschen wie der Gesellschaft, in der noch einmal die Unschuld des Blicks rekonstruiert wird“ (Seesslen/Jung, S. 62). Ein ähnliche Rückführung zur Unschuld des Menschen und zum Neuanfang erzeugt Kubrick durch das Lied am Ende von `Dr. Strangelove’ oder auch bei `2001’ mit dem unschuldigen Embryoblick als Abschlussbild.

In den Blickfang des Beobachters gerät bei dem Einbruch auch die phallusartige Maske von Alex - ein Motiv, das Kubrick ebenfalls häufig einsetzt. Beim nächsten Überfall, diesmal auf die `Cat-Lady’, tritt der Phallus erneut in Erscheinung. Alex erschlägt die einsame Dame mit einer riesigen Penisfigur und begeht so seinen zweiten Mord.

(Quelle: Sesslen/Jung, S. 196)

In dieser Szene ist „einmal mehr die destruktive und zerstörerische Kraft der Sexualität hervorgehoben“ (Schulz, S. 55). Der Phallus steht für Sexualität - und Sexualität steht nach Kubrick für Zerstörung. Weitere Beispiele eröffnen sich dem Zuschauer in `Dr. Strangelove’. Die erste Szene zeigt zwei Flugzeuge beim Tanken in der Luft. Das Einführen des Tankrüssels eröffnet dem Beobachter ein Bild, als würden die beiden Bomber sich sexuell vereinigen. Später wird eins dieser Kriegs-Flugzeuge die Menschheit zerstören.

Am Ende des Films reitet Major Kong wild schreiend auf einer phallusförmigen Nuklear-Bombe dem Weltuntergang entgegen. Und schließlich stammt der gesamte Plan ja vom an Potenzschwierigkeiten leidenden General Jack D. Ripper, der Angst um seine Körpersäfte hat und stets mit einem weiteren Phallussymbol, einer dicken Zigarre, in Kontakt steht.

Auch die Sexualität in `Lolita’ bringt letzten Endes nur Zerstörung und Tod. Humbert wird wegen seiner Begierde fast wahnsinnig und tötet Quilty aus Eifersucht, weil er seine Lolita ent- und verführte. Weder in `2001’ noch in `Full Metal Jacket’ findet sich eine Szene, in der Liebe und Sexualität etwas Positives auslösen. „Liebe und Sexualität sind weder heilende noch natürliche Kräfte, sie sind konstruiert als anderes und gleiches der Gewalt“ (Seesslen/Jung, S. 76).

Wie emotionslos Kubrick mit Sex umgeht - in `Clockwork Orange’ nennt Alex den Geschlechtsvorgang `Ye old in-and-out game’ - kommt auch in den letzten Worten seines letzten Films `Eyes wide shut’ zum Ausdruck: `Let’s have a good fuck’ haucht Schauspielerin Nicole Kidman ihrem Mann Tom Cruise nach dessen sexueller Höllenfahrt ins Ohr. „Eros kollabiert auf der Oberfläche der Sichtbarkeit, die der Film ausbreitet, zu nicht mehr und nicht weniger als banalem Sex. Das ist ein banales Ende, kein anderes wäre möglich.“ (Knörer, Ekkehard: www.jump-cut.de/druck-eyeswideshut.html).


Alex und seine „Heimkehr“

Als die `Droogs’ Mister Alexander den ersten Besuch abstatten, steht ein Schild an der Auffahrt, auf dem `Home’ geschrieben steht. Durch die im Gefängnis durchlebte Ludovico-Kur ist Alex nun geläutert, kehrt aber nach einer Verkettung unglücklicher Umstände `nach Hause’ zurück. Diese Szene eignet sich, Kubricks Vorlieben für das Doppelgängermotiv, für das 18. Jahrhundert und für Spiele zu untersuchen.

Bereits während seiner Jugend als Fotograph für die Zeitschrift `Look’ war Kubrick begeistert vom Doppelgängermotiv. Sowohl in einer Fotoserie als auch in seinem ersten Film `Day of the fight’ geht es um ein Zwillingspaar, die Gebrüder Cartier. Die beiden bereiten sich gemeinsam auf einen Boxkampf vor. Kubrick bemüht sich stets, Disharmonien zu kreieren. Ist der eine Zwilling wach, schläft der andere. Steht der eine Zwilling im Licht, steht der andere im Schatten. Das Doppelgängermotiv ist zum einen „Ausdruck jenes `primären Narzissmus’, der im Blick nicht das andere, sondern stets nur sich selbst sehen kann [oder] auch Hinweis auf die Gegenwart des Todes.“ (Seesslen/Jung, S. 40) Die Figuren bei Kubrick streben zum Teil danach, sich zu spiegeln, um sich zu vervollständigen. Bowman in `2001’ hat seinen Doppelgänger in seinem Astronautenkollegen Poole gefunden, und beide erlangen durch ihre jeweiligen Abbilder Vervollkommnung - so wie die `Droogs’ sich ähneln und gegenseitig ergänzen. Der Narziss ist nicht mehr allein, er hat sein Spiegelbild gefunden. Durch den Mord HALs an Poole ist aber auch die Verbindung zur Gegenwart des Todes hergestellt.

Auch bei `Lolita’ ist der Zwang zur Verdopplung erkennbar. Der Name Humbert Humbert ist schon an sich ein Duplizismus, sein Double ist Quilty. Der Mord Humberts an dessen Doppelgänger stellt wieder die Gegenwart des Todes in den Vordergrund.

So wie bei `Lolita’ findet man bei Kubrick häufig den „gewalttätigen Narziss, der […] entweder sein Spiegelbild verloren hat oder die Welt selber zu einem solchen Spiegelbild machen will“ (ebd., S. 41).

Alex typisiert diesen Charakter. In `Clockwork Orange’ findet er beim zweiten Aufeinandertreffen - wie man schon an den Namen der Figuren erkennen kann - seinen Doppelgänger in Mister Alexander. Und obwohl die beiden äußerlich keine Ähnlichkeiten aufweisen, handeln sie doch analog. Alex macht seinen Doppelgänger beim ersten Einbruch in das Haus zum Krüppel. Der seit dieser Begegnung an den Rollstuhl gefesselte Mann will Alex zerstören, indem er versucht, ihn in den Selbstmord zu treiben. Letztlich landet Alex mit zahlreichen Knochenbrüchen im Krankenhaus. Sie gehen beide „einen spiegelverkehrten Weg von der Opposition in die Korruption“ (ebd., S. 41). Auch hier wird wieder die Relation zum Tode in Zusammenhang mit dem Doppelgänger hergestellt. Und es findet sich noch ein Doppelgängermotiv. Da Alex auf die Neunte Symphonie von Ludwig van Beethoven seit der Ludovico-Kur panisch reagiert, sperrt ihn Mister Alexander in einen Raum und lässt die Melodie in unüberhörbarer Lautstärke abspielen, für Alex eine „musikalische Fiktion als Folter“ (Umbach, Klaus: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,174701,00.html). Alex wird so wieder von einem Doppelgängerpaar gerichtet. Denn die Ähnlichkeit zwischen Mister Alexander und Beethoven ist nicht von der Hand zu weisen.


(Quelle: Sesslen/Jung, S. 189)

(Quelle: Ciment, S. 84)

Dass Kubrick ein Liebhaber des 18. Jahrhunderts war, wird bei Alex’ Heimkehr an der musikalischen Untermalung der Szene erkennbar. Die Klingel gibt als Glockenton den bekannten Akkord der fünften Symphonie Ludwig van Beethovens (1770- 1827) wieder, zudem spielt wie bereits oben dargelegt auch dessen `Neunte’ eine wesentliche Rolle in dieser Szene. Hinweise auf Kubricks Passion für diese Epoche finden sich in `Clockwork Orange’ ferner bei der Schlägerei mit der Bande Billyboys, die sich vor einem Schäferfresko abspielt, oder Alex’ Auftritt im Plattenladen. Sein Rüschenhemd ist beinahe mit dem von `Barry Lyndon’ – der Film spielt im 18. Jahrhundert – identisch und der Anzug gibt dem Zuschauer zudem einen versteckten Hinweis auf Kubricks nächstes Projekt.

Für Kubrick ist das 18. Jahrhundert „ein zutiefst zerrüttetes Zeitalter, in dem hinter einer Fassade aus Festen, Luxus und Vergnügen Tod und Zerstörung lauern“ (Ciment, S. 66). Diese Beschreibung des Zeitalters lässt sich auf das Verhalten der Hauptfigur projizieren. Alex lebt seine wilden und brutalen Fantasien aus und hinterlässt eine Spur von Verwüstung und Leid.

Auch in `2001’ findet sich ein Hinweis auf das 18. Jahrhundert. Bowman beendet seine intergalaktische Zeitreise in einem Raum, der im Louis-XVI.- Stil eingerichtet ist und in dem zahlreiche Gemälde aus dessen Zeit hängen. An diesem klassisch-festlichen Ort findet der Astronaut sein Ende. Der Bezug zwischen Luxus und Tod wird von Kubrick in dieser Szene erneut in den Vordergrund gestellt.

Während Alex mit Hilfe von Beethovens Neunter Symphonie in einem verriegelten Zimmer malträtiert wird, sitzen Mister Alexander und dessen Freunde in einem Salon. Der Blickfang während dieser Szene, in der die Kamera nicht bewegt wird, ist der Billardtisch. Geradezu hypnotisch wirkt das Einlochen der Kugeln auf den Zuschauer und verursacht - unterstützt durch die Musik und das Schreien von Alex - erneut eine groteske Stimmung.

Es ist typisch für Kubrick, dass in seinen Filmen immer wieder Spiele auftauchen. In `Killer’s kiss’ ist es das Boxen, in `Spartacus’ und `Barry Lyndon’ die Duelle, Kartenspiele in `The killing’ oder auch das Tischtennis-Spiel in `Lolita’.
Den meisten Raum in seinen Filmen nimmt jedoch das Schachspiel ein. Es taucht in `The killing’, `Lolita’ und `2001’ auf. Kubrick, selbst ein begeisterter Schachspieler, ließ sich von der Denkweise des Schachs auch während der Dreharbeiten zu `Clockwork Orange’ beeinflussen.

„Schachmeister verbringen manchmal die Hälfte der gesamten Spielzeit über einem Zug. Sie wissen, wenn diese Figur falsch gesetzt wird, ist das ganze Spiel verloren. Genauso geht es mir bei den entscheidenden Wendepunkten meiner Filme. Die Vergewaltigungsszene mit `Singing in the Rain’ war ein solcher Moment.“ Stanley Kubrick (Quelle: Seesslen/Jung, S. 79f.)

Auch bei Alex’ `Heimkehr’“ findet sich ein Hinweis auf das Schachspiel. Der Boden vor der Eingangstür, auf den Alex entkräftet niedersinkt, hat das Muster eines Schachbretts.

Ende und Beginn

In der letzten Sequenz des Films liegt Alex schwer verletzt im Krankenhaus und wird dort von Innenminister Friedrich besucht. Die Abschlussszene soll genutzt werden, um Kubricks Kritik am Staatsapparat und die Struktur seiner Filme zu untersuchen. Abschließend soll kurz aufgezeigt werden, wie Kubrick den Übergang zum nächsten Film `Barry Lyndon’ herstellt.

Durch den Fall von Alex ist das Ludovico-Programm öffentlich in die Kritik geraten - und damit auch die Regierung. Innenminister Friedrich, der Alex im wahrsten Sinne des Wortes `anfüttert’ (da Alex eingegipst ist, muss Friedrich den Verletzten füttern), personifiziert den Staat. Er ist „the devious law-and-order-politician, who first uses Alex to show how he can get crime off the streets and then uses him to get it back on the streets when it is politically advantageous to do so“ (Kolker, S. 121). So bietet der Innenminister Alex einen guten Job mit einem anständigen Gehalt an, wenn Alex mit der Regierung kooperiert und das schlechte Bild, das in der Öffentlichkeit entstanden ist, zurecht rückt. Sein Ziel ist es, Alex für seine Zwecke zu manipulieren.

So wie Friedrich ist auch Dr. Brodsky, der die Ludovico-Kur durchführt, ein Vertreter des Staates. „Die Staatsmacht ist […] jenes Über-Ich, das den Gestalten Kubricks […] untersagt, ein freies Leben zu führen, ihren persönlichen Neigungen zu folgen.“ (Ciment, S. 86). Er manipuliert Alex’ Gedanken und schränkt seine gedankliche Freiheit ein.

Neben Colonel Dax in `Wege zum Ruhm’ ist auch Dr. Strangelove einer dieser Staatsvertreter, deren Verhalten Kubrick aufs Schärfste kritisiert. Dr. Strangelove will den Präsidenten dazu bringen, die politischen Führer und sonstige Eliten in Sicherheit zu bringen und mit dieser `perfekten Gesellschaft’ eine neue Zivilisation zu bilden. Mit der Durchführung dieses Vorschlags wären die Anwesenden im `War Room’ gerettet, jedoch impliziert die Idee von Dr. Strangelove ferner die Vernichtung aller anderen Menschen. Auch in diesem Film nimmt der Staat die Rolle des Manipulators und Verführers ein.

Durch die letzte Szene mit Friedrich schließt Kubrick den Kreislauf seines Films. „Rondohaft ist […] die Handlung des Films mit wiederkehrenden Plätzen, Personen, Aktionen aufgebaut, wobei die Kreisform konsequent wie durch einen prismatischen Spiegel gebrochen erscheint“ (Hummel/Jansen, S. 149).

(Quelle: Hummel/Jansen, S. 149)

Alex kehrt immer wieder an dieselben Orte zurück, durchlebt das Selbe oder trifft auf die selben Menschen, so dass sich eine, wenn auch zeitlich nicht stringente, Kreisbewegung ergibt. Es ist typisch für die Struktur von Kubrick-Filmen, dass nur wenige Handlungsorte existieren. „Er erzählt seine Geschichten, die nach Beschleunigung zu verlangen scheinen, in wenigen Szenen, und in scheinbar klaren Aktaufteilungen“ (Seesslen/Jung, S. 74). Sowohl `2001’ als auch `The Shining’ liefern für diese These Beispiele (vgl. ebd., S. 73).

Das Motiv des Kreises taucht auch als Form wiederholt auf und wird von Kubrick bewusst in den Vordergrund gestellt. Die runde Form der Brüste von Mrs. Alexander und der Frau, die Alex nach seiner Kur nicht berühren kann, werden durch spezifische Kameraeinstellungen hervorgehoben. Dass es sich beim Rundgang im Gefängnis wieder um eine Kreisbewegung handelt, wird durch den Kreidekreis am Boden betont.

Die Affinität zur runden Form wird besonders in `2001’ erkennbar. Neben den Planeten sind Raumschiffe und Raumstationen kreisförmig. Im Inneren der `Orion’ akzentuiert Kubrick den Kreis ebenfalls. Die mit einem runden Helm geschmückte Servierdame läuft losgelöst von der Schwerkraft einmal rund um den kreisförmigen Eingangsbereich.

(Quelle: Hummel/Janssen, S. 114)

Eine weitere Hervorhebung des Kreises findet sich in `Dr. Strangelove’. Kubrick legte bei den Dreharbeiten besonderen Wert darauf, dass der Verhandlungstisch und die darüber liegende Lichterkette im `War Room’ eine runde Form aufweist.

Mit der allerletzten Szene gelingt es Kubrick, auf sein nächstes Projekt zu verweisen. Alex verfällt, wie schon an einigen Filmstellen vor der `Ludovico-Kur’, in eine seiner Gewaltphantasien. Damit gibt der Regisseur dem Zuschauer eindeutig zu verstehen, dass Alex `geheilt’ ist.

In seinem Tagtraum vergewaltigt er ein Mädchen vor einer großen Zuschauermenge, deren Mitglieder in klassischen Gewändern des 18. Jahrhunderts auftreten. Durch die „viktorianisch gewandete gute Gesellschaft, die Alex’ Sexphantasien applaudiert, [wird] eine Erinnerungslücke […] zwischen den beiden Filmen geschlossen: die Leserschaft Thackerays und der Phantasien seines Helden applaudieren ihrer zukünftigen Realisierung“ (Seesslen/Jung, S. 72).

(Quelle: Hummel/Jansen, S. 148)

Mit der Schlussszene öffnet Kubrick die Kette. Das nächste Glied `Barry Lyndon’ kann angehängt werden.


Schlussbemerkung

Einen Film von Stanley Kubrick anzusehen, ist sicherlich ein besonderes Erlebnis, sei es ein visuelles wie in `2001’ oder ein thematisches wie in `Dr. Strangelove’ oder `A Clockwork Orange’. Hat man jedoch einen Überblick über das Gesamtwerk von Stanley Kubrick gewonnen, ist man fähig, jeden seiner Filme noch intensiver wahrzunehmen. Die zahlreichen versteckten Hinweise in `A Clockwork Orange’, aber auch in anderen Filmen, sind ohne die Kenntnis der Filmographie freilich weder begreifbar noch entschlüsselbar.

Kubrick wollte seine Zuschauer unterhalten und faszinieren, doch zweifelsohne wollte er auch erreichen, dass der Mensch sich durch seine Werke selbst intensiver erlebt und über seine Rolle als Individuum nachdenkt - über seine Unwichtigkeit oder seine absurde Position im riesigen Kosmos, seine Rolle in der Gesellschaft oder seine Position während Zeiten des Krieges.

Beeindruckend ist die Vielfältigkeit der Themen, denen Kubrick sich gewidmet hat. Er war kein Regisseur, der sich auf ein Genre spezialisierte, sondern suchte immer wieder neue Projekte und Aufgaben, um sich auf intellektuellem, aber auch technischem Wege zu fordern.

Mit Sicherheit ist es stets eine Erleichterung, die Filmographie und Biographie eines Regisseurs zu kennen, um – wenn man es so nennen will – den tieferen Sinn dieser Filme transparenter werden zu lassen. Um Kubrick-Filme nicht nur auf einer oberflächlichen Ebene wahrzunehmen und zu genießen, sondern auf einer grundsätzlichen Ebene verstehen und begreifen zu können, ist diese Kenntnis jedoch unerlässlich.

Literatur

  • Canby, Vincent: `A Clockwork Orange’ Dazzles the Senses and Mind. http://www.nytimes.com/library/film/122071kubrick-orange.html <20.12.1971>

  • Ciment, Michel: Kubrick. München: Bahia-Verlag 1982.

  • Hummel, Christoph/Jansen, Peter W.: Stanley Kubrick. München: Carl Hanser Verlag 1984 (= Reihe Film 18).

  • Kolker, Robert Phillip: A cinema of loneliness. Penn, Kubrick, Coppola, Scorsese, Altman. New York: Oxford University Press 1980.

  • Knörer, Ekkehard: Eyes wide shut. www.jump-cut.de/druck-eyeswideshut.html.

  • Pulfrich, Christian: Clockwork Orange. www.medienstudent.de/studi/clockwork.htm.

  • Schulz, Christine. Stanley Kubrick, Visionen vom Untergang und den Zerstörungen des Menschen. Erlangen 2000.

  • Seesslen, Georg/Jung, Fernand: Stanley Kubrick und seine Filme. 2. Auflage. Marburg: Schüren1999.

  • Tilton, John: Cosmic Satire in the Contemporary Novel. London: Associated University Press 1977.

  • Umbach, Klaus: Der göttliche Gassenhauer. http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,174701,00.html <29.12.2001>.



Verfasser: Christoph Laskowski , veröffentlicht am 28.07.2005

 

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