Matrix / Neo / Morpheus / Trinity / Verfremdung / Ordnung / Konstruktivismus / Jeo / Erlösung / Religion


Sebastian Görnitz-Rückert

Ordnung braucht der Mensch!
- Überlegungen zum Konstruktionsprinzip von Matrix (1. Teil)
und der Notwendigkeit von Religion (2. Teil)



Folgende Überlegungen beschäftigen sich mit dem Kinohit "Matrix", der von vielen als den besten Film des letzten Jahres, von einigen in aller Bescheidenheit gar als DER Film des nächsten Jahrtausend verkündet wurde. Einer näheren Untersuchung ist "Matrix" schon deswegen würdig, weil es ihm gelungen ist, so unterschiedliche Zielgruppen wie z.B. 16-jährige Actionfans und promovierte AkademikerInnen anzusprechen, obgleich ihm ein Weltbild zugrunde liegt, das nüchtern betrachtet reichlich unglaubwürdig erscheint: Eine Erlöserfigur soll die ahnungslose Menschheit aus ihrem durch intelligente Maschinen versklavten Dasein retten. Wie gelingt es dem Film, diese Vorstellung glaubhaft zu machen, und warum wird dabei so hartnäckig auf eine Vielzahl religiöser Vorstellungen zurückgegriffen?

[Anmerkung: Der Autor hat sich bemüht, den Essay sprachlich möglichst einfach zu halten, was zu einem Ausschluss systemtheoretischer Überlegungen geführt hat (- hier hat der Autor also zur blauen Kapsel gegriffen). Der Essay bietet eine leicht verständliche Kurzeinführung in die Theorie des Konstruktivismus. Aus Gründen des Umfangs sowie möglicher unterschiedlicher Leseinteressen ist der Aufsatz zweigeteilt.]


"Matrix" ist ein Film, der einen beim ersten Sehen in den Bann zieht. Und nicht nur das. Er schafft es zugleich, glaubhaft ein unglaubliches Weltbild zu entwerfen: Die heutige Menschheit wird von intelligenten Maschinen als Energiespender benutzt, kann dies allerdings nicht wahrnehmen, da sie sich durch softwarebasierte Simulationen des Nervensystems in einer Scheinrealität glaubt. Alle Wahrnehmungen, alle Empfindungen werden von Computern in den Gehirnen der Menschen erzeugt, die diese Bilder für wahr halten. Angenommen, man würde dies gegenüber jemandem, der weder alte Vorgänger dieser Vorstellung (wie das Comic "Hardboiled") kennt noch Wissen über neuere Wahrnehmungstheorien besitzt, mit Nachdruck für die Wirklichkeit ausgegeben - mitleidiges Kopfschütteln wäre noch die harmloseste Folge. - Wie also gelingt es Matrix, diese Welt glaubhaft zu machen?

Die These ist: Der dramatische Effekt und das Fürwahrhalten der gezeigten Welt beruht letztlich auf einem grundlegendem menschlichen Bedürfnis: Dem Wunsch nach bzw. die menschliche Notwendigkeit von Orientierung. Dies soll kurz erläutert und durch eine Strukturskizze veranschaulicht werden. Hieran werden sich allgemeinere Überlegungen zur menschlichen Wahrnehmung anschließen.

1. Das Konstruktionsprinzip von "Matrix"

Das eben beschriebene Weltbild wird vor allem deshalb glaubhaft, weil in "Matrix" erst eine Welt erzeugt wird, die uns zunächst überaus bekannt vorkommt, aber - und das ist entscheidend - unsere Wahrnehmung durch einige Begebenheiten irritiert wird: Amerikanische Polizisten im Einsatz, Blaulicht auf regenverwaschener Straße kennt man schon aus dutzenden Kino- und Fernsehfilmanfängen, die nunmal zur Welt gehören, in der wir leben. Doch kurz darauf enthält diese Welt in "Matrix" Elemente, die uns völlig unbegreifbar, geradezu fremd erscheinen. Eine Frau läuft die Wände aufwärts oder springt über Häuserschluchten. Ein Unbekannter (den ja alle Kerle für einen Mann halten) kommuniziert mit dem Besitzer eines PCs und kann Ereignisse voraussagen, die unmittelbar eintreten ("Knock, knock, Neo." [7:30]). Mit anderen Worten: die gewohnten physikalischen und kommunikativen Gesetzmäßigkeiten werden außer Kraft gesetzt. Und das ist es, was den Zuschauer verwirrt und desorientiert. Denn der Rest der gezeigten Welt vermittelt ihm: "Eigentlich müsste ich mich hier auskennen!"

Diese Desorientierung teilt der Protagonist Neo wie auch Nebendarsteller (eben z.B. die Polizisten), was dem Zuschauer zudem das Gefühl gibt, dass seine Verwirrung zurecht besteht. Verwirrtheit ist nun aber für jeden Menschen ein unangenehmer Zustand, den er loswerden will.
Um dieses Gefühl loszuwerden, denkt, assoziiert der Zuschauer während der ersten halben Stunde des Films unablässig mit dem Ziel, eine Welt zu konstruieren, die diese Unbegreiflichkeiten erklären könnte. Es ist dies seine Frage, die ihm keine Ruhe lässt! (1) Denn nicht nur diese "Verfremdungen" treiben ihn zu seinen Konstruktionsleistungen. Noch schlimmer dürfte sein, dass einige Menschen mit diesen Begebenheiten keinerlei Probleme zu haben scheinen. Die Herren in den grauen Anzügen (die Agenten also) können im Gegenteil zutreffende Voraussagen machen ("Ihre Männer sind längst tot!"[2:43]), die auf der Kenntnis dieser unmöglichen Möglichkeiten basieren. Und Trinity scheint über das Wissen zu verfügen, das alles erklären könnte: "Alles, was ich dir [Neo] zur Zeit sagen kann, ist ..." [10:19] - Menschen, die nicht an derselben Verwirrung leiden, desorientieren noch mehr. Sie fördern Unbehagen gegenüber der eigenen Wahrnehmung. Folge sind die besagten Anstrengungen. Die Informationen freilich, die der Zuschauer erhält, sind so spärlich, dass er beim ersten Filmkontakt schwerlich zu einer Lösung für sein Problem kommen wird. Er schafft es in den ersten 30 Minuten nicht, eine sinnvolle Welt zu entwerfen, die diese Elemente integrieren könnte. Nur einmal wähnt er sich am Ziel: Nach der Szene mit den Agenten sieht es so aus, als könne alles, was Neo dort erlebt hat, nur ein Traum gewesen sein, so wie vielleicht auch die Laptop- und Club-Szene ein Traum war. Doch dieses Erklärungsangebot wird sofort durch das Auffinden der elektronischen Wanze wieder zunichte gemacht und steigert dadurch die Verzweiflung des Zuschauers. Es macht ihn noch aufnahmebereiter für einen Lösungsvorschlag, für ein Weltbild also, das ihm wieder Orientierung gibt. Eine solche Welt wird nun endlich zwischen der 30. und 40. Filmminute von "Matrix" angeboten - eine Welt, die alle vorherigen Unverständlichkeiten erklären kann. Wer könnte da widerstehen, dieses Erklärungsangebot anzunehmen - auch wenn es letztlich keine sichere Grundlage gibt, diese Welt als "die wirkliche Welt" (Morpheus) anzuerkennen? Auch sie könnte ja z.B. ein Effekt der Matrix sein (worauf eigentlich auch Morpheus Name verweisen müsste - vgl. 2. Teil).
Folgende Strukturskizze veranschaulicht, systematisiert und ergänzt das Gesagte:



2. Matrix und Wahrnehmungstheorie

Diese Überlegungen können nun verallgemeinert werden, indem man sie auf eine allgemeine Theorie von menschlicher Wahrnehmung bezieht. Hierfür bietet sich aus mindestens zwei Gründen der Ansatz des Konstruktivismus an. Dieser stellt einerseits unzweifelhaft die Bezugsgröße der in "Matrix" selbst angedeuteten Theorie von menschlicher Wahrnehmung dar: "Matrix" ist angewendeter Konstruktivismus auf Unterhaltungsniveau (- wobei Konstruktivismus schon immer auch unterhaltsam war (2)). Zugleich scheint auch die Machart des Films mit diesem Denkgebäude konform zu gehen: Der hinter "Matrix" stehende Konstruktivismus benötigt einen Zuschauer, der nach konstruktivistischen Axiomen funktioniert.

a) Was ist Konstruktivismus?
[Die folgenden Ausführungen können von kundigen LeserInnen problemlos übersprungen werden.]

Unter dem Begriff Konstruktivismus werden verschiedene Ansätze aus dem Bereich der Gehirnforschung (Neurophysiologie), der Biologie, der Psychologie, der Soziologie, der Philosophie und der Kommunikations- und Literaturwissenschaft zusammengefasst. Er stellt eine der großen, gegenwärtigen Theorien dar, die erklären wollen, wie der Mensch etwas erkennen, begreifen, verstehen kann. Er ist also eine Theorie von menschlicher Erkenntnis.
Um diesen Ansatz zu verstehen, muss man das alte, klassische Modell von Verständigung, also Kommunikation, kennen, weil sich der Konstruktivismus in all seinen Spielarten dagegen wendet. Dies ist das sog. Sender-Empfänger-Modell: Ein Sender (z.B. der Freund) sendet eine Botschaft aus (eine Frage oder Antwort), die vom Empfänger (der Freundin) aufgenommen wird. Alle Aktivität liegt hierbei beim Sender, der Empfänger ist rein passiv. Nach dieser Vorstellung empfängt er genau die Botschaft, die der Sender verschickt hat.

In der weiteren Entwicklung ist dieses Modell überarbeitet und grundlegend verändert worden. Schon aufgrund eigener Erfahrung weiß jeder, dass ein anderer sehr leicht etwas miss- oder auch gar nicht verstehen kann (also z.B. ein Freund eine Frage, eine Freundin eine Antwort), so dass auch dem Empfänger eine andere, nämlich aktivere Rolle zugesprochen werden muss. Auch er kann und wird meist am Sinn einer Botschaft mitschaffen. Dabei wird also an der Vorstellung festgehalten, dass es einen eigentlichen Sinn einer Botschaft gibt, den man verstehen könnte, wenn man aufmerksam genug zuhört, sich in den anderen hineinversetzt und natürlich die allgemeine Bedeutung der Worte und Sätze kennt. Aktivität ist somit einerseits damit gegeben, dass man das Gesagte/Gesendete genau rekonstruieren muss. Zum andern ist einsichtig, dass nie alles mit einer Aussage gesagt werden kann oder dass Aussagen auch bewusst so getätigt werden, dass sie unvollständig sind. Hier muss der Empfänger das Nicht-Gesagte konstruieren, er muss die "Leerstellen" (Iser) einer Aussage selbst füllen.

Der Konstruktivismus führt nun einen Aspekt dieser Gedanken in radikaler Weise fort. Er stellt sich nicht nur gegen den Grundgedanken des ersten Modells, dass die Aktivität des Senders entscheidend sei, so dass eine Botschaft einfach nur "übermittelt" zu werden braucht. Er lehnt auch die überlegung ab, dass es überhaupt einen eigentlichen Sinn gäbe, den man etwas anderem "entnehmen" kann. Vielmehr sei es so, dass grundsätzlich jeder Hörer oder Leser selbst einer Botschaft ihren Sinn gibt. Dies liegt an den Bedingungen menschlicher Wahrnehmung:
Der Konstruktivismus ist zuerst in der Biologie und Neurophysiologie entwickelt worden. Seine Grundlage bildet somit ein bestimmtes naturwissenschaftlich fundiertes Weltbild, was ihn von vielen anderen geisteswissenschaftlichen Theorien unterscheidet. Entscheidend ist nun die Erkenntnis, dass jedes Nervensystem - und zu diesem gehört das Gehirn - ein in sich abgeschlossenes System (oder Netzwerk) ist. Eine Wahrnehmung eines äußeren Reizes kann von daher nur nach den Beschaffenheiten dieses Systems erfolgen. Somit sagt eine bestimmte Reaktion weniger über die Beschaffenheit des Außenreizes aus, als über die Ver- oder Bearbeitungsmöglichkeiten des Systems. Der Empfänger ist also eigentlich ein Konstrukteur, der das, was in einer Botschaft "steht", gar nicht genau wissen oder erkennen kann. Gleichwohl kann er aber das Bild oder den Inhalt, also das, was in seinem Kopf entsteht, für die tatsächliche Botschaft halten. Da das im Kopf eines Menschen erzeugte Bild von der Außenwelt lebenslang mit neuen Umweltreizen - Reaktionen von anderen - abgeglichen wird, kann der Mensch im Laufe seines Lebens lernen, sich nämlich so zu verhalten, dass die anderen seine Deutungen akzeptieren (und ihn nicht für verrückt erklären). Menschen behalten in der Regel solche Deutungen bei, die sich als "lebensfähig" erweisen.

Dies bedeutet, dass man sich eigentlich gar nicht richtig verstehen kann. Im alltäglichen Leben muss dies aber kein Problem darstellen: Jeder denkt, der andere hat es so verstanden, wie es gemeint war, bzw. meint, dass es so gemeint war, wie er es verstanden hat. (Sicherlich könnten eine Anzahl von Partnerstreitigkeiten damit erklärt werden.) Die meisten Konstruktionen fallen also nicht als solche auf und bei vielen Konstruktionen macht es auch gar keinen Sinn, noch in einem weniger strengen Sinn von Konstruktionen zu sprechen, weil hier soziale Verhaltensmuster kaum Spielräume lassen. Probleme entstehen dann, wenn die Reaktion eines der Partner zu einem Ergebnis führt, dass man nicht akzeptieren möchte oder das umgekehrt nicht mehr so gedeutet werden kann, dass die eigene Vorstellung von der Situation noch Sinn macht (z.B. wenn eine Freundin plötzlich weinend aus dem Zimmer läuft, wenn ihr Freund ihr Blumen mitbringt). Im zweiten Fall benötigt man eine neue Interpretation einer Situation, die das Unverständliche erklärt.

Damit ist klar: Kein Konstruktivist wird behaupten, dass man völlig ohne Reize von außen (also dem "Losschicken" einer Botschaft) zu seiner Deutung kommt. Worum es aber geht, ist, dass es so gut wie keine (nicht gewaltsamen) äußeren Einflüsse gibt, die festlegen, wie etwas verstanden werden muss oder wie man reagieren wird. Selbst so extreme körperliche Schmerzen wie z.B. bei einer Folter können mit einer bestimmten Einstellung unter Umständen als Erlösung oder Sieg empfunden werden. Dies lässt sich an Märtyrererzählungen oder den Lebensgeschichten von Asketen zeigen.

b) Konstruktivismus in "Matrix"
In "Matrix" wird nun in verschiedener Weise auf diese konstruktivistischen Vorstellungen von Erkenntnis zurückgegriffen. Einerseits ist das gesamte Weltbild in gewisser Weise radikal konstruktivistisch: Die Menschen können Ihre Versklavung nicht wahrnehmen, weil es kein Außerhalb des Nervensystems gibt. Dieses kann ausschließlich innere Reaktionen deuten und in Vorstellungsbildern einer äußeren Welt transformieren. Da die menschlichen Gehirne in "Matrix" an eine Art Netzwerk angeschlossen sind, kann dieses die systeminternen Reaktion (weitgehend) steuern.
Zugleich wird der Konstruktivismus auch auf der Handlungsebene thematisch, indem er von den Personen - vor allem von Morpheus - direkt kommuniziert wird. Hier eine Auswahl:

  • "Das kann nicht sein!" - "Was? Realität?" [30:32]
  • "Hattest du mal einen Traum, der völlig real schien? Was wäre, wenn du aus diesem Traum niemals aufwachen würdest? Woher würdest du unterscheiden, was Traum ist und was Realität?" [30:34]
  • "Deine momentane Erscheinung nennen wir das Restselbstbild: Die mentale Projektion deines digitalen Selbst." [38:30]
  • "Was ist die Wirklichkeit? Wie definiert man das - Realität? Wenn du darunter verstehst, was du riechen, [..] oder sehen kannst, ist die Wirklichkeit nichts weiter als elektrische Signale, interpretiert von deinem Verstand." [38:49]
  • Die Matrix ist eine "neuroaktive Simulation" [39:00]
  • "Ich dachte, das wäre nicht real!" - "In deinem Kopf wird es real!" [53:15]

Mehr oder weniger direkt, wird hier auf Grundprämissen des Konstruktivismus angespielt. Diese und ähnliche Sprachsequenzen liefern dem Zuschauer Stück für Stück die nötigen wahrnehmungstheoretischen Grundlagen nach, so dass er leichter verstehen kann, was gezeigt wird. Dass ihm diese Erklärungen einleuchten, liegt allerdings daran, dass er ähnliches zuvor an sich selbst erlebt hat und auch im Alltag ständig erleben kann.

3. Der konstruktivistische Zuschauer

Wer die obigen Ausführungen zum Konstruktionsprinzip von "Matrix" nachvollziehen konnte, ist ein Zuschauer, wie ihn der Film benötigt: Ein Zuschauer, der so wahrnimmt, wie es der Konstruktivismus (re)konstruiert hat. Ein Zuschauer, dessen Konstruktionsleistungen im Normalfall dafür sorgen, dass er sich ohne größere Umstände durch die Welt bewegen kann, ohne von anderen für verrückt erklärt zu werden. Einer, der gelernt hat, dass man Unverständliches am besten dadurch beseitigt, indem in sich ein Weltbild erzeugt, dass auch das zuvor Unerklärliche mit einbezieht. Auch er kann sagen: "Mir missfällt der Gedanke, mein Leben nicht unter Kontrolle zu haben." [25:47] Dieser Zuschauer will die Welt von "Matrix" verstehen, wie er seine Welt verstehen will. Dieser Zuschauer muss Erklärungen konstruieren, weil auch er sich angesprochen fühlt: "Du fühlst, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Du weißt nicht was." [26:13]

Aber es gelingt ihm nicht, solche Erklärungen zu erzeugen. (3) Vielleicht, weil er zu wenig kreativ ist, vielleicht, weil er weiß, dass Filme meist von sich aus Antworten geben, wenn man versucht, geduldig auszuharren. Vielleicht aber auch deshalb nicht, weil ihm das, was er vorlaufend tut, so selbstverständlich ist, dass er sich dessen nicht bewusst ist: Es muss ihm erst gesagt werden, dass er die Welt konstruiert, er muss erst begreifen, dass er nichts anderes in den ersten 30 Minuten des Film gemacht hat. Wie sonst könnte ihm einleuchten, was er anschließend sieht und hört? - Freilich: Das Prinzip wird nicht durchgehalten, der Zuschauer soll nicht auch noch die Gegenwelt zur Matrix hinterfragen, sonst wäre ja der ästhetische Genuss im Eimer. Hierfür werden in "Matrix" Geschütze aufgefahren, die als Realitätsmarierungen (Realitätsbeweise) der plumpesten Art gelten müssen (- auf die Wirkung z.B. emphatischer Musikeffekte gehe ich nicht eigens ein):

"Ich habe selbst lange nicht daran geglaubt, bis ich die Felder mit eigenen Augen gesehen habe." [41:17]
"Willkommen in der wirklichen Welt." [34:50]
"Ironischerweise ist das nahe an der Wahrheit." [25:38]
"Das war ja doch kein Traum!" [23:47] - "Ist das ein Traum?" - "Weit davon entfernt!" [34:20]

In Matrix wird also zum Teil der Teufel mit dem Belzebub ausgetrieben. Dem Zuschauer mag das nicht auffallen oder egal sein, ja er dürfte gar nicht wollen, dass ihm das auffällt, weil sonst die Erklärungskraft des dualistisches Weltbildes aufgehoben wäre. Der Konstruktivismus in "Matrix" ist kastriert, aber deshalb so wirkungsvoll.


(2. Teil)
Jeo und Nesus- Notwendigkeit oder Spiel?
Zur Religion in Matrix

"Matrix" ist vielfach besprochen und bewertet worden. Wie auch immer die Kritiken ausgefallen sind, erstaunlich selten wurde dabei auf die religiöse Dimension von "Matrix" näher eingegangen. Meist ist neben dem Aspekt des Genre-Mix (SF, Action, Martials-Arts, Cyberspace-Thriller) nur von einer "Philosophie" oder "durchdachten Philosophie" oder "unglaublich gut durchdachten Philosophie" die Rede. (4) Erstaunlich deswegen, weil Religion in diesem Film eine beachtliche Rolle zu spielen scheint. - Aber auch dort, wo auf religiöse Elemente hingewiesen wird, findet sich kein Erstaunen darüber, dass ein solcher Film heute populär sein kann. (5)

1. Religiöse Vorstellungen in "Matrix"

In "Matrix" findet sich eine Vielzahl religiöser Vorstellungen oder Anspielungen auf Begebenheiten aus dem Bereich der Weltreligionen sowie der griechischen Mythologie. Bevor überlegungen zur Bedeutung und Funktion dieser Elemente bzw. von Religion allgemein in "Matrix" angestellt werden, sollen einige Belege aufgezählt und zumeist zum besseren Verständnis kurz erläutert oder kommentiert werden:
Morpheus beispielsweise ist der Name des findigsten Gehilfen des griechischen Gottes des Schlafes, Hypnos, der die Menschen mit Traumbildern versorgt. Auch in "Matrix" wird wie bei den Griechen ein Orakel nach der Wahrheit oder Zukunft befragt, obgleich dabei normalerweise kein Gebäck aus einem Küchenofen gezogen und lediglich zum Verzehr angeboten wird. Die Orakel-Vorstellung ist freilich nicht auf den hellenistischen Raum beschränkt. Unter anderem auch im Alten Testament werden vor allem von den frühen Propheten (z.B. Elia) Weissagungen erteilt, wobei eine Institutionalisierung meist fehlt. Diese scheint allerdings gegeben, wenn der noch amtierenden König Saul zur Seherin von En-Dor geht (1.Sam 28), um vom toten Samuel die Zukunft wahrgesagt zu bekommen. Weitere biblische Anspielungen sind mit der Nennung von Zion und Nebukadnezar gegeben, auf die unten noch näher eingegangen wird. Ob Cypher auf Judas verweist, Morpheus als Figur auf Johannes den Täufer oder das Schlachtschiff gar als Endzeit Arche Noah anzusehen ist, mag dahingestellt sein. Trinitys Name jedenfalls spielt auf die christliche Gottesvorstellung an, wonach sich der eine Gott in drei Personen realisiert - ein logisches Paradox, aber eine präzise Beschreibung dessen, was man biblisch vorfindet und gedanklich zusammenbringen muss. Der im frühen und zum Teil auch gegenwärtigen Judentum bedeutsame Glaube an einen Erlöser der Welt, an einen Messias also, und die christliche Vorstellung, dass Jesus Christus dieser Erlöser ist sowie der damit verbundene Glaube an das Wunder der Auferstehung von den Toten stellen weitere überschneidungen dar, die eingehender Betrachtung bedürfen. Außerdem wird "ein Wunder" benötigt, damit Neo nicht vor den Augen Trinitys stirbt.

Während kaum oder gar nicht - zumindest für den Autor nicht erkennbar - auf islamische Vorstellungen zurückgegriffen wird, spielt fernöstliche Religiosität eine etwas größere Rolle in "Matrix": Die Vorstellung der Wiedergeburt wird bemüht (und in die Weissagung des Orakels integriert), wobei die Konzentration auf eine einzige heilbringende Figur, die wiedererweckt wird, möglicherweise eher als biblisch anzusehen ist [vgl. Elia - Johannes der Täufer (z.B. Lk 1,17 oder Joh 1,21) sowie die Hoffnung auf die Wiedererweckung König Davids (z.B. Ez 34,23)]. Die Matrix selbst kann von Hinduisten oder Buddhisten vermutlich mit der Vorstellung des äußerlichen Trugbilds der Welt - Maya - übereingebracht werden, das durch die wahre Erkenntnis der Wirklichkeit zu durchstoßen ist. Hierzu muss man allerdings erst seinen Geist befreien, wie es Neo zu tun hat, damit der Sprung vom Hochhausdach erfolgreich ist, ähnlich wie auch Petrus lediglich glauben müsste, um auf dem See Genezareth laufen zu können (vgl. Mt 14, 28-32). Implizit könnte auch noch die buddhistische Sicht des Lebens als ein fortwährendes Leiden in Cyphers Abneigung der "wirklichen Wirklichkeit" oder in der Aussage von Agent Smith wiederentdecken, dass die erste Matrix nicht angenommen wurde, weil sie ein harmonische und leidloses Leben präsentierte. Gleichwohl wären dann Cyphers Konsequenzen aus dieser Erkenntnis keinesfalls buddhistisch.

Schon diese skizzenartige Auflistung wirft Fragen auf: Warum wird in so massiver Weise auf religiöse Vorstellungen zurückgegriffen? - "Terminator" oder andere SF-Action- oder auch Kung-Fu-Filme kommen weitgehend ohne aus, obgleich es auch dort unter Umständen um die Rettung der ganzen Menschheit gehen kann. Und warum wird eine solche Vielzahl und Kombination von religiösen Elementen bemüht?
Betrachten wir zunächst zwei Anspielungen näher: Zion und Nebukadnezar. Zion wird die Anhöhe genannt, auf der das Jerusalem der davidisch-salomonischen Zeit liegt. Sie wird in den sog. Zionspsalmen als der Ort beschrieben, den Jahwe sich erwählt hat, um dort zu residieren und zu dem die Welt bewundernd aufblickt. Es ist der Ort von dem alles Heil ausgeht: Jerusalem wird durch den Zion zur heiligen Stadt und in der Vorstellung von der Völkerwallfahrt sogar zum Nabel der Welt. Im Hintergrund steht hier die Abgrenzung vom großen Götterberg der Kanaanäer, dem Zafon bei Ugarit, der nach deren überzeugung die Erde begründet und stabil hält. In "Matrix" ist Zion die letzte Stadt in der realen Welt, die letzte in der noch Menschen frei leben, in diesem Sinn also auch der Nabel der menschlichen Welt und einzige Stätte, von der Heil für die Menschheit ausgehen kann. Zion ist Keimzelle des Widerstands und letzte Bastion der Hoffnung.

Nebukadnezar II. ist ein bedeutender babylonischer König, der ab 605 den gesamten Nahen Osten unter seine Herrschaft zwingt. Im Jahr 597 v. Chr. erobert er Jerusalem zum ersten Mal, 586 zum zweiten Mal. Dabei wird die Stadt und der Tempel zerstört und die Oberschicht ins babylonische Exil deportiert, ein schrecklicher Markstein in der israelitischen Geschichte. In "Matrix" trägt diesen Namen allerdings das Raumschiff, von dem aus der Aufstand gegen die Maschinen durchgeführt wird.
Angesichts dieser kulturgeschichtlichen Erbmasse kann die überhaupt nicht notwendige Zusammenstellung von Zion und Nebukadnezar in "Matrix" als geradezu paradox angesehen werden: Aus dem Zerstörer Jerusalems ist ein Kampftrupp Zions geworden. Was wird damit zum Ausdruck gebracht? Geht es vielleicht um die Umwandlung oder Umwertung von Geschichte und Tradition angesichts eines Feindes, der alle Menschen bedroht? Dann liefe die Anhäufung und Verquickung unterschiedlicher religiöser Vorstellungen in Verbindung mit zugehörigen kulturgeschichtlichen Ereignissen darauf hinaus, dass es letztlich egal ist, welche konkrete Vorstellung von Religion und Glaube die Menschen besitzen, sondern nur entscheiden ist, dass sie welche/n besitzen, weil diese/r sie gegenüber den Maschinen als Menschen auszeichnen. Schließlich wird Glaube an die Auserwählung Neos im Film in hohem Maße benötigt, um sich gegen die Welt der Matrix zur Wehr setzen zu können. Cypher, dem dieser Glaube fehlt, will schon aus diesem Grund den Untergang des Aufstandes herbeiführen.

Sicherlich kann man versuchen, das Zitieren unterschiedlicher religiöser Vorstellungen auch anders zu deuten. Eine Möglichkeit besteht darin, auf das sog. postmoderne Abdanken der großen Erzählungen (Lyotard) zu verweisen. Heute würden eben alte Traditionsbestände nur noch spielerisch aufgegriffen, neu zusammengefügt und ihre ehemaligen Bedeutungen verwischt: Andernfalls müsste man angesichts des mythologischen Hintergrunds bei Morpheus wirklich ins Grübeln kommen.

Doch eine solche Deutung hat Erklärungsprobleme: Sie kann kaum begreiflich machen, warum eine dieser Vorstellungen - Neo als der Erlöser - eine so zentrale Stellung einnimmt, dass sie Motor der gesamten Handlung ist und auch der Ausgang des Films von ihr abhängt. Berücksichtigt man dieses Problem der in der Handlung von "Matrix" vollzogenen Notwendigkeit von Glauben an einen Erlöser, kann man schwerlich von spielerischem Umgang mit Traditionsbeständen sprechen. Passender wäre dann allenfalls noch eine Bezeichnung wie "postmoderne Esoterik", die freilich den Begriff der Postmoderne bloßstellt und verabschiedet. - "Matrix" hat also eine religiöse Grundschicht, an deren Ernstgenommen-werden-Wollen kaum zu rütteln ist, wie lächerlich man sie auch immer finden mag.
Das klärt aber noch nicht die Frage nach der Funktion von Religion in "Matrix". Eine solche Erklärung sollte versuchen, einerseits an das im ersten Teil Erarbeitete anzuschließen. Zum andern dürfte es sinnvoll sein, die zentrale Vorstellung des Erlösungsgedankens genauer zu betrachten.

2. Konstruktivismus, Literatur und Religion in "Matrix"

Aus der Perspektive des Konstruktivismus dürfte Religion der Versuch sein, dem grundlegenden menschlichen Bedürfnis nach Orientierung ein Gesicht zu geben: Religion ermöglicht das Begreifen der Welt, indem sie eine Außenperspektive auf die Welt erzeugt, die die Frage nach dem Sinn, nach dem Woher und Wohin der Welt beantworten kann. Mithilfe von Religion kann also eine abgeschlossene Vorstellung von der Welt erzeugt werden.
Ist dies eine nachvollziehbare Bestimmung einer konstruktivistischen Erklärung von Religion, werden dadurch zunächst aber mehr Fragen aufgeworfen als geklärt. Denn das Weltbild von "Matrix" könnte als abgeschlossen begriffen werden, ohne dass eine zusätzliche Außenperspektive aufgemacht werden muss: Die Verwirrung des Zuschauers wie des Protagonisten Neo legt sich ja mit der Erkenntnis der "wirklichen Wirklichkeit": Die besagten "Verfremdungen" (vgl. Teil 1) werden durch das Wissen um die Entstehung der Matrix verstehbar. Religion ist in "Matrix" nicht unbedingt notwendig, um die bestehende(n) Welt(en) zu erklären.

Hinsichtlich der Orientierung bietet sich außerdem eine weitere Möglichkeit an. In "Matrix" wird auf eine der Religion verwandte, ihr abgeschaute Möglichkeit der Weltdeutung hingewiesen, nämlich auf (profane) Literatur. Neos Erlebnisse werden mit den Geschehnissen in "Alice im Wunderland" verglichen. Und auch dieser Vergleich bringt Orientierung, weil es sich um ein ähnliches, freilich nun genau benennbares Beispiel von Desorientierung handelt, das durch seine Benennbarkeit wieder einen Orientierungsrahmen bietet. Statt auf religiöse Elemente zurückzugreifen, hätte "Matrix" im Sinne einer Orientierungsfunktion unter Umständen also verstärkt auf profane literarische Muster zurückgreifen können. Warum ist dies nicht geschehen? Oder anders gefragt: Worin liegt letztlich der Unterschied zwischen Literatur und Religion in "Matrix"?

Betrachtet man die dargestellte Welt genauer, werden zwei Unterschiede deutlich: Einmal sind es die Konsequenzen, die aus der jeweiligen Orientierung folgen - zum andern ist es das unmittelbare Verhältnis zur "wirklichen Wirklichkeit". - Religion unterscheidet sich nicht grundlegend darin von Literatur, dass sie Orientierung ermöglicht. Aber die Intensität der Wirklichkeitswahrnehmung und die daraus resultierenden Handlungsmuster sind das, was sie einerseits trennt: Ob Neo die "tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus" ausfindig machen will oder ob er sprachlich lieber die "Wirklichkeit" oder die "Wahrheit" erkunden möchte, ist letztlich egal. Das literarische Muster könnte einfach weggelassen werden, ohne dass sich etwas an Neos Wahl ändert. Aber Morpheus' und Trinitys Glaube ist unabdingbar notwendig, um Neo als den Erwählten ausfindig zu machen und ihn mit dem Ziel der Weltrettung auszubilden. Es sind einerseits also diese Konsequenzen des Glaubensbegriffs, die durch profane Literatur in "Matrix" nicht stimuliert werden können. (6) Doch die religiöse Dimension von "Matrix" geht nicht einmal darin auf: Vielmehr scheint sich Religion fundamental von profaner Literatur zu unterscheiden, wenn es um das Verhältnis zur als wirklich ausgewiesen Wirklichkeit geht. Religion gründet sich "in Matrix" auf etwas, das die Wirklichkeit verändert hat und es weiterhin tun soll. Ohne den Auserwählten würde es keine Möglichkeit zum Aufstand geben, denn er war es, der die ersten Menschen befreit hat. Und ohne Morpheus' und Trinitys felsenfeste Gewissheit bestünde der Aufstand nicht nur nicht mehr und würde auch Neo nicht ausfindig gemacht worden sein, sondern wäre der Kampf auch von vorneherein verloren. Morpheus' und Trinitys und schließlich auch Neos Glaube befähigt sie, im Kampf gegen die Maschinen Erfolg haben zu können. Dies gelingt mit "Alice" nicht. Das Entscheidende ist freilich: Dass sie diesen Erfolg zuletzt auch tatsächlich haben, liegt an der Grundbestimmtheit einer Welt, die Neo als den Auserwählten ausweist.
Somit kommt die Rede von der Funktion von Religion in "Matrix" an ihre Grenze. Religion muss im Folgenden auch qualitativ bestimmt werden, um nicht hinter die Filmwelt zurückzufallen. Es ist nicht nur Ordnung oder Orientierung, was die Menschen brauchen: Neo ist der Auserwählte, der Messias, und wäre er es nicht, alles wäre verloren. - Ein Vergleich mit Jesus drängt sich hier geradezu auf.

3. Die Vorstellung der Erlösung

Thema der Theologie ist unter anthropologischer Perspektive die Freiheit. Es geht um die Freiheit des Menschen, genauer gesagt um seine Befreiung aus einer Lage, aus der er sich nicht selbst befreien kann, weil er aufgrund seiner Sündhaftigkeit nicht vor Gott gerecht ist. Diese Freiheit erhält er durch den Glauben daran, dass er durch Jesu Tod diese Gerechtigkeit erlangt. Auch in "Matrix" geht es strukturanalog um dieses Thema der Freiheit: "Die Wahrheit ist, dass du ein Sklave bist." [27:09] Die Menschen sind nicht von sich aus fähig, aus der Matrix auszubrechen, sich selbst zu befreien. Hierzu bedarf es eines Mannes mit besonderen Fähigkeiten, der nach seiner Wiedergeburt die Matrix zerstören wird. (7)
Es folgt eine vergleichende Zusammenstellung wichtiger Strukturelemente, die Neo mit Jesus gemeinsam hat bzw. ihn von letzterem unterscheiden:

GEMEINSAMKEITEN

  • beide werden als Retter der Menschheit angesehen
  • Vorhersage/Prophezeiung, dass dieser Retter/Erlöser kommen wird
    [im AT z.B. bei Micha 5,1ff. (® Mt 2,6) oder Jes 9 (® Lk 1,32f.)]
  • beide besitzen besondere Fähigkeiten
  • beide sterben, um (?) erlösen zu können
  • Benennungsähnlichkeit: Neo gr. ‚der Neue' - Jesus wird als der "neue Mensch" oder "zweite Adam" (vgl. 1.Kor 15,45-47) bezeichnet
  • bei beiden: Auferweckungswunder
  • erlösen die Menschen aus einer Lage, aus der sie sich nicht selbst befreien können
  • [Himmelfahrt bzw. Himmelfahrtsreminiszensen (Neos letzte Aktion vor dem Abspann)]

UNTERSCHIEDE

  • Einsetzen direkter Gewalt (Neo) vs. keinen Waffengebrauch, kaum direkte Gewalt (Jesus)
  • Erlösung/Befreiung der Menschen durch Kampf vs. durch Erniedrigung und Leiden
  • wird angelernt vs. hat keine Lehrer (Lk 2,41ff.)
  • auferweckt durch Trinitys Glaube, Liebe und Kuss (8) vs. auferweckt durch hl. Geist (der allerdings vielfach als die Liebe (!) bezeichnet wird, z.B. 2. Kor 6,6/Kol 1,8 etc. )
  • keine besondere Geburt (?) vs. Jungfrauengeburt
  • Jesus spricht von Gott und weiß um seine Sendung vs. Neo hat keinen Gottesglaube und weiß auch nicht um seine Auserwählung

Auch diese Zusammenstellung macht deutlich, in welch hohem Maße "Matrix" ein religiöser Film ist. Ihm liegt ein bedeutender Teil der christlichen Erlösungslehre zugrunde. Es ist dies die Notwendigkeit von Erlösung, weil es sich um die Befreiung aus einer schrecklichen Gefangenschaft handelt, die nicht mit gewöhnlichen, menschlichen Kräften zu bewerkstelligen ist. Die Realisierung dieser Erlösung ist sicherlich sehr verschieden, ja für "Matrix" auch noch gar nicht abzusehen, doch Neo trägt alle Züge eines Messias und ist in manchem Jesus zum Verwechseln ähnlich. - Muss so eine Geschichte sein, die sich heute gut verkaufen lässt?

4. Ausblick

Ein positives Verständnis von Religion und Glaube ist - vor allem wenn es sich um christliche Vorstellungen handelt - in unserer Gesellschaft nur erschwert anschlussfähig, so scheint es zumindest. Warum kann "Matrix" dann aber einen solchen Erfolg haben, obgleich der Film letztlich eine einzige Predigt über wahren Glauben und bedeutende Inhalte der christlichen Erlösungslehre ist? Liegt es daran, dass sich Neo den Weg zur Erlösung über weite Teile des Films freiballert? Ist das der entscheidende Unterschied? Aber was soll dann die Auferweckungsszene? Sie stilisiert Neo unübersehbar zu Jeo bzw. Nesus. Oder sollte es etwa daran liegen, dass das Wissen um die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen populärer ist, als gemeinhin angenommen? Der Erfolg von "Matrix" widerspricht dem zumindest nicht.

Auf zwei Sachverhalte sollte noch aufmerksam gemacht werden: Einerseits auf die Tatsache, dass "Matrix" selbst natürlich nur ein "Film" ist. Wenn man zwischen den Medien Literatur und Film nicht grundsätzlich unterscheidet (und warum sollte man das?), führt dieser Film, indem er Religion gegen Literatur ausspielt (vgl. oben Punkt 2), seine eigene Theorie über sich und sein Verhältnis zur Religion mit sich: Während "Matrix" wie "Alice im Wunderand" nur erdacht ist, gibt es Jesus oder Buddha tatsächlich. Mindestens einer von ihnen soll grundlegend und zukunftsträchtig auf die Wirklichkeit eingewirkt haben.
Auch ein zweiter Sachverhalt verdient Beachtung: Wie der erste Teil des Essays zeigen wollte, kommt dem Konstruktivismus eine große Erklärungskraft zu, wenn es um eine Erklärung einiger Axiome der Handlung des Films wie auch seiner Wirkung geht. Eine Erklärungskraft, die, nebenbei gesagt, auch dann noch gegeben sein kann, wenn man die beschriebene Wirkung nicht bei sich wiedererkennen sollte. Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass die Grundannahmen des Konstruktivismus keinesfalls neu sind: Schon die Bibel handelt von ihnen, freilich unter einem anderen Begriff und mit etwas anderer bzw. mit eindeutiger Wertung: Vergegenwärtigt man sich die prototypische Geschichte von menschlicher Sündhaftigkeit (Gen 3), die vor allem die gestörten menschlichen Kommunikationsverhältnisse zum Gegenstand hat, deckt sich schon dies mit konstruktivistischen Axiomen. Auf den Turmbau von Babel oder die unzähligen Geschichten über Missverständnisse oder Fehlinterpretationen muss man dabei gar nicht erst zu sprechen kommen. Konstruktivismus ist nichts anderes, als die christliche Beschreibung menschlicher Sünde, ohne freilich daraus entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Es ist wirklich sonderbar, dass erst "Matrix" kommen musste, um der Theologie wieder Gehör zu verschaffen.



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