Jerome Philipp Schäfer

Clockwork Ultraviolence

Anthropologische Aspekte der Struktur und Funktion von Gewalt

in Stanley Kubricks A Clockwork Orange

 

Stanley Kubricks „A Clockwork Orange“ wird häufig als Paradebeispiel für einen Umgang mit der Filmtechnik herangezogen, bei dem eine unkonventionelle Ästhetik, gepaart mit sublimen Stilbrüchen wie dem Achsensprung, den Zuschauer dank vermittlungsbezogener Suggestivität moralisch entwaffnet. Eine solche Einstellung gegenüber dem Film setzt das Empfinden der dort gezeigten Gewalt als „sinnlos“ und „unmotiviert“ voraus – sonst wäre kaum von einer fehlenden „Moral“ die Rede. Der vorliegende Aufsatz wird durch eine anthropologische Kontextualisierung nicht nur mit diesen Vorbehalten aufräumen, sondern auch zeigen, dass „A Clockwork Orange“ eine komplexe und subtile Parabel auf die Ausweglosigkeit von Gewalt in der (Post-)Moderne und Populärkultur ist.

 

Einleitung

“Literal-minded in its sex and brutality, Teutonic in its humor, [...] A Clockwork Orange might be the work of a strict and exacting German professor who set out to make a porno-violent sci-fi comedy. […] The numerous rapes and beatings have no ferocity and no sensuality; they’re frigidly, pedantically calculated, and because there is no motivating emotion, the viewer may experience them as an indignity”1.

Diese vernichtende und in der Zeitschrift The New Yorker veröffentlichte Rezension verdeutlicht, mit welch ambivalenten Gefühlen Stanley Kubricks Filmwerk mit dem Titel A Clockwork Orange2 die Zuschauer seit den frühen 1970er-Jahren konfrontiert. Während die einen den Film als eine porno-violent sci-fi comedy wahrnehmen, sehen die anderen in ihm jenes Kunstprodukt, das für die Academy Awards und die Golden Globes nominiert wurde und renommierte Auszeichnungen in New York und Italien erhielt. Tatsächlich ist die auf Anthony Burgess gleichnamigem Roman3 basierende Handlung prädestiniert für eine solche Rezeptionsgeschichte:

Der Protagonist Alex de Large (Malcolm McDowell) macht gemeinsam mit seinen Droogs Dim (Warren Clarke), Georgie (James Marcus) und Pete (Michael Tarn) das London einer nahen und trostlosen Zukunft unsicher – sex, drugs and violence sind die Koordinaten des ersten Teils. Doch als Alex die Macht über seine Freunde verliert und sich des Mordes schuldig macht, wird er durch einen Akt des Verrats an die Behörden ausgeliefert, weshalb der zweite Teil des Films im Gefängnis einsetzt. Doch Alex findet einen Ausweg: durch das Ludovico-Experiment zum „Gutmenschen“ konditioniert, wird er wieder in die Freiheit entlassen, doch dort wartet – im dritten und letzten Teil – die Rache seiner ehemaligen Opfer auf ihn.

Um eine solche Handlung, der es nicht an provokantem Gehalt mangelt, adäquat umzusetzen, benutzt Stanley Kubrick die in den 1970ern möglichen filmischen Mittel äußerst virtuos: choreographierte und mit klassischer Musik unterlegte Gewalttaten gehen einher mit der ironischen Verwendung von fast und slow motion und gipfeln in den häufig assoziativ strukturierten Montagen. Während Alex so vom „Zauber“ der filmischen Möglichkeiten umgeben wird, werden die Behörden und Wissenschaftler in Clockwork Orange als skrupellose Ideologen dargestellt, ein Punkt, der Kritik hervorrufen musste, denn durch dieses Schwarzzeichnen der Institutionen wirkt der Anti-Held nur umso sympathischer. Gegner des Films verstanden diese Eigenschaft als Programm: Clockwork Orange stehe in der direkten Nachfolge von Bonny and Clyde4, einem Film, der den Spielraum für die Darstellung von Gewalt im amerikanischen Cinema der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre beträchtlich ausgeweitet hatte. Die Ästhetisierung der Gewalt wurde als Bindeglied angenommen.

Doch der Vergleich hinkt: wirkt – wie in den ersten Szenen von Clockwork Orange – die Kombination von Gewalt, Choreographie und Musik ästhetisierend, ist dieser Diskurs keineswegs willkürlich. Wie Alex’ kontinuierliches voice-over verdeutlicht, fungiert er nicht nur als Erzähler, auch die Ebene des Bildes orientiert sich an seiner Wahrnehmung, was durch zahllose point-of-view shots und Montagen von Alex’ Phantasien hervorgehoben wird.

Dabei liegt es zunächst durch die Art und Weise der Darstellung von Gewalt auf der Hand zu behaupten, dass Alex „allmählich ins Unterbewusste des Zuschauers vordringt und dort seinesgleichen trifft“5, d.h. dass er die von der Zivilisation unterdrückte Seite des Menschen repräsentiert. Dieser Interpretation folgend, lässt sich die Ursache der Gewalt in Alex lokalisieren und muss nicht aus einer die Handlung durchziehenden Grundstruktur extrahiert werden. Bei Paul Duncan findet sich die Schwierigkeit eines solchen Verständnisses: er betont, dass Alex „Sex und Gewalt liebt und gleichzeitig die Neunte Sinfonie von Beethoven“6, wobei deutlich wird, dass hier das „und“ These und Antithese in einem Satz vereinen soll und man die Synthese als Instrumentalisierung der Kunst durch einen pervertierten bzw. „ursprünglichen“ Charakter verstehen muss. Allein: hier werden Schlussfolgerungen ohne fundierte Basis gezogen. Die anthropologischen Ursprungsmodelle René Girards und Eric Gans’ können helfen, ein solches Fundament aufzubauen, von dem aus sich die Frage nach Struktur und Funktion von Gewalt in dem Filmwerk A Clockwork Orange neu beantworten lässt.

Grundlagen

Sollen im Folgenden jene Modelle bündig zusammengefasst werden, die für den weiteren Verlauf der Arbeit von zentraler Bedeutung sind, zielt ihre Anwendung auf die Beantwortung von Fragen wie: In welchem Verhältnis steht Alex zur Gesellschaft und welche Rolle spielt dabei die Gewalt? Bedeuten Aggression und Kunstgenuss im Fall des Protagonisten einen Widerspruch? Und inwiefern kann im Zusammenhang mit dem Ludovico-Experiment von einem Opfersystem gesprochen werden? Für die damit verbundenen Überlegungen wird ein differenziertes Vokabular benötigt, um mögliche Missverständnisse zu vermeiden. Während die Girard’schen Modelle helfen sollen, das „Uhrwerk“ als Gesamtsystem auseinanderzunehmen, wird Gans’ Modell der Urszene vor allem Aufschluss über den sehr speziellen, doch nicht weniger bedeutsamen Teilbereich des Dekors vermitteln.

René Girard: Trianguläres Begehren – Krise – Opferkult

Ausgehend von den Werken Dostojevskis, Stendhals, Flauberts, Prousts und Cervantes’ entwickelte René Girard in seiner bekannten Schrift Deceit, Desire, and the Novel7 das Konzept des „triangulären“ bzw. „mimetischen Begehrens“. War und ist es common sense, das Begehren als ein direktes Subjekt-Objekt-Verhältnis aufzufassen, nimmt Girard einen Mittler an, der im Besitz eines Objekts ist bzw. sich dieses bereits wünscht, mit der Folge, dass das Subjekt den Mittler in seinem Verhältnis zum Objekt nachahmt.

Dabei gilt es zwei Kategorien der Vermittlung zu unterscheiden:

“The first category, described as “external mediation“, assumes a distance in space, time, social rank, or prestige between the individual who desires [...] and the model, or mediator, of that desire such that the two do not become rivals in their desire for the object. […] The second category, called “internal mediation”, involves a model or mediator who is not separated from the subject by time, space or other factors and therefore more readily becomes a rival and obstacle in the subject’s quest for the object. Internal mediation is a complex and ultimately destructive process”8.

Während es bei der external mediation wegen der Distanz gar nicht erst zu Konflikten kommt, führt die internal mediation beinahe zwangsläufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, denn Subjekt und Mittler können nicht zur selben Zeit im Besitz des begehrten Objekts sein: „Die doppelte Imitation, die den mimetischen Wunsch kennzeichnet, ist eine Art Maschine, eine Form des feedback, die beständig Gewalt produziert, Spannung zwischen den Individuen erzeugt und die gleichsam den Preis des gewünschten Objekts immer höher steigen lässt“9, wobei „Kontrollinstanzen, die den stets drohenden Konflikt unterbinden sollen“10, aus den Angeln gehoben werden. Gerät dadurch die hierarchische Ordnung einer Gesellschaft aus dem Gleichgewicht, breitet sich die Gewalt wie ein Lauffeuer aus und droht das Gesamtgefüge ohne Einfluss von außen zu vernichten. Aufzuhalten ist dieser Prozess nur dadurch, dass die Gemeinschaft sich kollektiv gegen einen Einzelnen wendet und ihm die Rolle des Sündenbocks zuschiebt. Diese Solidarität stellt den Frieden wieder her, wobei der scapegoat, da er die Gemeinschaft rettete, sakralisiert wird. Entwickelt sich die Kultur aus dieser Urszene, sollen Höflichkeit, Verzicht und Verbot ein Wiederaufflammen der Gewalt verhindern, während der Ritus zur Reproduktion der Krise dient, um durch einen an- bzw. abschließenden (symbolischen) Opferakt eine tatsächliche Übertragung auf die Realität zu vermeiden.

Stellen diese Punkte eine grobe Skizze der Girard’schen Theorien dar, werden weitere theoretische Feinheiten an entsprechender Stelle hinzugefügt, wobei es gilt, die entscheidende Schwäche im Denken Girards zu umgehen: den übermäßigen Universalitätsanspruch, der schon daran scheitert, dass seine Theorien kaum in der Lage sind, Phänomene der (Post-)Moderne zu erklären11. Was nicht ausschließt, dass eine moderate und vorsichtige Anwendung an bestimmten, auch modernen Texten aufschlussreiche Ergebnisse liefert. Clockwork Orange zählt nicht durch Zufall zu diesen (filmischen) Texten, denn spätestens seit seinen Recherchen zu 2001: Odyssee im Weltraum 12 hatte Kubrick seine „Naivität“ auf dem Gebiet der Anthropologie bzw. Evolution verloren und konnte bewusst mit einer solchen Thematik arbeiten.

Eric Gans: Die Urszene und das ostensive Zeichen

Liegt die Anwendung der Girard’schen Theorien auf Clockwork Orange wegen der Explizierung von Gewalt auf der Hand, scheint sich der amerikanische Romanist und Girard-Schüler Eric Gans nicht so recht in dieses Schema einfügen zu lassen. War dieser nämlich Girard bis zur Konzeption des triangular desire mit seinen Gewalt fördernden Implikationen gefolgt, verstand er nicht das scapegoat-Modell als Grundlage der Kultur, sondern entwickelte eine eigene, semiotisch orientierte Variante, die auf den Frieden stiftenden Charakter des Zeichens baute. Dies verdeutlicht Gans’ innovative Konzeption der Urszene:

“Instead of an emissary victim, he [Gans] imagines a killed animal surrounded by hunters at the center of attention. Each hunter is eager to claim his prey. But as each one of them extends his hand in a gesture of appropriation, he becomes aware of all the other hands reaching in the same direction. This symmetry suspends the gesture midway. The center remains untouched, while the extended hands are turned into an ostensive sign designating it.”13

In dem Werk Originary Thinking14 wendet Gans die Urszene auch für das Verständnis der verschiedenen Epochen seit der Klassik an:

“For Gans, all subsequent cultural developments can be described in terms of and relation to this originary scene. Its structure is the very structure of representation itself, while the actual referent occupying the center is subject to change in any given cultural context.”15

Bevor Clockwork Orange jedoch anhand dieser anthropologischen Theorien in einen neuen Kontext gestellt werden kann, braucht es einen systematischen Zugang zu den (Gewalt-)Strukturen des Films, denn nur so lässt sich das praktische Feld der Analyse exakt abstecken.

Struktur der Gewalt

Weil sich die Frage nach der anthropologischen Funktion von Gewalt in Clockwork Orange nicht ohne einen Überblick beantworten lässt, fasst Grafik 3 alle „bedeutsamen“ Gewalttaten systematisch zusammen. Während die Pfeile anzeigen, welche Richtung die Gewalt annimmt und inwiefern sie sich – ad hoc oder zeitversetzt – mit einer entsprechenden reactio abgleicht, finden sich in den Kästen daneben Angaben zur Sequenz, zum setting und der Form der Gewalt.

Motivation der Gewalt

Ausgehend von einer Analyse der in Clockwork Orange portraitierten Gesellschaft soll im Folgenden gezeigt werden, dass sich die Krise des Gesamtkomplexes bis zu den kleinsten Einheiten – den Individuen – erstreckt und deshalb eine Figur wie Alex de Large weniger Ursache denn symptomatisches Produkt einer spezifischen, destabilisierten Umgebung ist, allerdings mit kulturellen Implikationen, die den Sachverhalt entscheidend verkomplizieren.

Staat – Gesellschaft – Individuen

Auf den ersten Blick erscheint die dargestellte Gesellschaft dekadent und bewegungsunfähig, auch im Kontrast zu den im Heute gewohnten Bildern: Erotische Kunst in futuristischem Design dominiert das Interieur, Personen aus dem Arbeitermilieu wie Alex’ Eltern sind gleichermaßen liebenswürdig wie hilflos, Intellektuelle vom Typ eines Mr. Alexander derart naiv, dass sie des Nachts Fremde in ihre Wohnung lassen etc. Selbst der Staat wirkt wenig bedrohlich, wird er doch durch unfreiwillig komische Figuren wie den Oberwächter Barnes und den Bewährungshelfer Deltoid repräsentiert.

Ist es so abwegig, dass nun Kleinkriminelle und Schwerverbrecher die Gunst der Stunde nutzen? Ja und Nein, denn zwar schaden Personen wie Alex de Large und seine Droogs der Gesellschaft, doch sind sie nicht im eigentlichen Sinne Outlaws. Wenn es für den Staat selbstverständlich ist, Verbrecher wie Dim und Georgie in den Polizeidienst aufzunehmen, dann spricht das dafür, dass das Außen auch das Innen ist und umgekehrt, d.h. die Gewalt eine alles durchdringende und einander angleichende Funktion besitzt.

Entdifferenzierung und Tragödie

Ein Blick auf Grafik 3 verdeutlicht, warum eine Trennung von Täter und Opfer, von Kriminalität einerseits und Staat und Gesellschaft andererseits unmöglich ist. Gewalt wird ad hoc durch einen sofortigen „Schlagabtausch“ beantwortet, so wie bei „Alex und seinen Droogs vs. Billy Boy und dessen Gang“ und „Alex mit Penisskulptur vs. Cat Lady mit Beethoven-Büste“, oder Alex muss seine Täterrolle früher oder später als Opfer büßen:

- Alex und seine Droogs verprügeln einen Landstreicher, der Landstreicher rächt sich am Themse-Ufer mithilfe anderer Bettler;

- Alex und seine Droogs überfallen das Haus von Mr. Alexander, dieser treibt Alex in den Selbstmord;

- Alex maßregelt Dim mit einem Schlag in die Eingeweide, Dim schlägt Alex mit einer Milchflasche nieder;

- Alex maßregelt Georgie und Dim um seine Position als Leader zu wahren, diese demonstrieren Alex ihre neue Macht als Polizeibeamte, oder

- Alex schadet durch seine Gewalt den Institutionen, der Staat malträtiert Alex durch einen Gefängnisaufenthalt sowie das Ludovico-Experiment.

Die Bestrafung des Täters könnte noch an vielen weiteren Beispielen aufgezeigt werden. Es handelt sich hier nur um die „wichtigsten“ Gewalttaten, mit einer Struktur, die sich u.a. darin wiederfindet, dass der „linke“ Mr. Alexander mit denselben Methoden wie die „rechte“ Regierung arbeitet, dass u.a. zuerst Alex seine Eltern mit Gleichgültigkeit straft und diese ihn nach seiner Entlassung ignorieren. Clockwork Orange ist gänzlich von diesem Schema durchzogen, das Girard als „Entdifferenzierung“ eingeführt hat.

Zwar bemüht sich die Gesellschaft, Gewalt zu vermeiden, doch kann sie ihr praktisch nicht widerstehen, d.h. die Gesellschaft wird von ihr infiziert, sobald die Gewalt an bestimmten Stellen aufflammt. Es geschieht das, was Girard in Zusammenhang mit der „Krise des Opferkults“ beschreibt: „die Gewalt [tilgt] alle Unterschiede“ und es entstehen „Spiegeleffekte zwischen Gegnern“16. Damit wird deutlich, warum Clockwork Orange derart an eine Tragödie erinnert:

„In den tragischen Auseinandersetzungen greift jeder auf die gleichen Taktiken zurück, setzt jeder die gleichen Mittel ein und zielt auf die gleiche Zerstörung wie sein Gegner [...] Die Individuen werden anvisiert, aber die Institutionen werden getroffen. Alle legitimen Mächte sind in ihren Grundfesten erschüttert. Alle Gegner tragen zur Zerstörung jener Ordnung bei, die zu stärken sie vorgeben“17.

Diese Angleichung findet sich auch auf anderer Ebene wieder: Da sind einerseits die tristen Hochhäuser in vernachlässigten Vororten, Wohnort der Kleinbürger und Kleinkriminellen, die in krassem Gegensatz zur futuristischen Einrichtung und Häuslichkeit des gehobenen Bürgertums stehen. Während hier die Gewalt auf der Straße stattfindet, werden dort die „sauberen“ Intrigen und politischen „Gewalttaten“ ersonnen. Doch so unterschiedlich diese Orte sind, Grenzüberschreitungen stellen keine Ausnahme dar, sondern gehören zum Alltag. Unter anderem brechen Kriminelle in die Häuser der Oberschicht ein, Bewährungshelfer und Polizisten besuchen die Wohnungen der „Unterschicht“, Verbrecher werden in den Staatsdienst aufgenommen, Wissenschaftler mutieren zu moralischen Kriminellen, Mr. Alexander möchte das Volk verführen um es zu führen, die Gefängnisse sollen normale Häftlinge durch politische austauschen. Die in Clockwork Orange skizzierte Gesellschaft löst peu à peu alle Grenzen zwischen dem Innen und Außen auf, weshalb Alex alles andere als ein „verlorenes Kind“ ist: „[He is] very much a ‚product of his environment’, one more stain of violent graffiti on the culture’s walls, ‚a product of modern age’“18.

Interieur und Schutzmechanismus

Weil das erotische Dekor innerhalb der filmischen Welt von Clockwork Orange eine dominante und kaum zu übersehende Rolle spielt – von den Tischen in Form nackter, auf dem Boden kniender Frauen in der Korova milk bar bis hin zur Phallus-Skulptur im Haus der Cat Lady, liegt es nahe, dieses sehr spezielle Design bzw. diese Kunstauffassung in Bezug zur Gesellschaft als Ganzem zu setzen. Nicht nur Stuart McDougal vermutet, dass hier „violent urges“19 auf Objekte übertragen werden, d.h. die Kunst latente Aggressionen kanalisieren soll, auch Mario Falsetto zieht seine eigenen Schlussfolgerungen, wenn er von „objets d’art that echo the sadomasochistic subtext“ 20 spricht und fortfährt: „They [the upper classes] believe that they can tame the libido by making it the subject of their decadent artwork“21.

Ein kurzer Rückgriff auf Eric Gans’ Modell der Urszene vermag eine Deutung zu liefern, doch muss hierfür vom Resultat auf den Ursprung geschlossen werden. Die erotische und sadomasochistische Kunst scheint demnach ein „ostensives Zeichen“ zu sein, das an einem bestimmten Punkt der Geschichte dieser Gesellschaft half, die Libido gegenüber „der“ Frau – als möglichem Objekt des Konflikts – in vertretbaren Grenzen zu halten und so den Frieden sicherzustellen.

Beschreibt Eric Gans Schönheit und Kunst als Oszillieren zwischen Immanenz und Transzendenz – als Profanem und den Referenten betreffenden einerseits und der auf einen Gott verweisenden Macht des Zeichens andererseits, fällt auf, dass die in Clockwork Orange präsentierte zeitgenössische Kunst keinerlei ästhetischen Wert für die Menschen besitzt und nie besessen hat, denn die Kunst selbst ist der Signifikant, d.h. dass das „gefährliche“ Objekt durch Repräsentation neutralisiert werden sollte. Allerdings

„handelt es sich dabei stets nur um einen Aufschub des ursprünglichen dinglichen Konflikts, denn das ostensive Zeichen repräsentiert zwar den Gegenstand, kann aber im Gegensatz zu diesem nicht direkt verwertet werden. In der Repräsentation verbergen sich deshalb stets Ressentiments, die ständig drohen, wieder in Gewalt umzukippen; nur die erneute Anwendung des Zeichens kann den Ausbruch der Gewalt aufschieben.“22

Doch eben diese „erneute Anwendung“ schlägt fehl, denn die erotische Kunst wird von den Menschen in Clockwork Orange nicht mehr als ostensives Zeichen wahrgenommen, sie hat sich statt dessen zur funktions- und vor allem repräsentationslosen Inneneinrichtung gewandelt: warum sonst empört sich die Cat Lady darüber, dass Alex in ihrer Phallus-Skulptur etwas sexuell Aufgeladenes sieht?

Alex

Handelt es sich in Clockwork Orange um eine Gesellschaft, die gleichermaßen krisenverhaftet wie hilflos ist, muss auch Alex in diesen Kontext eingeordnet werden. Spricht die Sekundärliteratur von ihm als einem „Verbrecher von unverzeihlicher Bösartigkeit“23, der „durch und durch schlecht ist“24 und dabei als „pervertierter, dionysischer Held“25 gelten kann, sollte nicht der Fehler begangen werden, Alex als einen natural born killer einzustufen, der Gewalt als Widerstand gegen eine dekadente und degenerierte Gesellschaft versteht. Im Gegenteil, es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, einen Blick auf Alex’ Phantasien in den Sequenzen 8 und 18 zu werfen, auf jene Bilder, die in ihm aufsteigen und ganz offensichtlich „aus den Traditionen Hollywoods“ genährt sind, wie z.B. aus einem der „Historienfilme“ von „Cecile B. De Milles“26 oder auch den zahllosen Dracula-Verfilmungen. Gesellschaft und Medien demonstrieren dem kreativ veranlagten Alex, dass Gewalt auch ein natürliches „Arbeitsmaterial“ für die Kunst und das Leben sein kann. In dieser Hinsicht ist der Protagonist ein typisches Kind seiner Gesellschaft.

Beethoven als externer Mittler

Auch wenn Alex die gesellschaftlichen (Anti-)Normen verinnerlicht hat und sie integraler Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden sind, gerät er doch in Konflikt mit der Gesellschaft und den Behörden. Schuld daran ist nicht, dass er, sondern wie er Verbrechen begeht, was sich etwa daran erkennen lässt, dass Alex’ Droogs und Billy Boy, anders als der Protagonist, für die Justiz ohne Bedeutung sind. Alex scheint mit seiner Interpretation der Gewalt eine Schwelle zu überschreiten, die darin besteht, dass er die Gewalt nicht als Mittel zum materiellen, sondern zum geistig-kreativen Zweck versteht.

Wenn hier Gewalt in einen Tanz, ein Ballett verwandelt wird27, das sich durch Stilisierung und Betonung vom Physischen löst28 und augenscheinlich Alex’ Wahrnehmung dieser Szenerien imitiert, dann liegt es nahe, zu fragen, in welcher Hinsicht der Protagonist Gewalt und Ästhetik so vereint, dass sie für eine gewaltbereite Gesellschaft untragbar werden. Wenn die Gewalt als „Arbeitsmaterial“ ihren Ursprung in Alex’ (medialer wie praktischer) Umgebung hat, dann muss sein Sinn für Ästhetik in der Begeisterung für Ludwig van Beethoven lokalisiert werden, schließlich wird dem Komponisten eine dominante Rolle zugewiesen, wird Beethoven zum Motiv, das sich andauernd wiederholt. Dessen 9. Sinfonie, durch eine Opernsängerin in der Korova milk bar kommuniziert, ruft die Krise zwischen Alex und seinen Droogs hervor. Sie lässt im Protagonisten Phantasien aufsteigen und stellt jene Inspiration dar, wegen der er seine Droogs maßregelt. Auch taucht sie vom Anstimmen durch Mr. Alexanders Türklingel bis hin zur musikalischen Unterlegung des nationalsozialistischen Propaganda-Films während des Ludovico-Experiments immer wieder auf. Und selbst Beethovens Gesicht mit dem so klaren Wiedererkennungswert, zieht sich in den Filmsequenzen vom Bildnis in Alex’ Zimmer über die Büste im Haus der Cat Lady bis hin zum Stich in Alex’ Gefängniszelle durch. Es ist symptomatisch für die Rolle Beethovens in Clockwork Orange, dass seine Musik stets diegetisch motiviert ist. Nie kommt sie aus dem Off, sondern wird in der Live-Probe der Opernsängerin gesungen, kommt vom Tape, tönt aus einem offen stehenden Fenster, oder dient, wie oben geschildert, als Melodie einer Türklingel oder ist Bestandteil des Scores eines Propagandafilms. Das Motiv „Ludwig van“ ist, wie sich herausstellen wird, nicht nur auf der Ebene des discours wirksam, sondern gehört auch zu den zentralen Elementen der histoire.

Ein Vergleich mit jenen Werken der Weltliteratur, die auch René Girard in seinem Deceit, Desire, and the Novel analysierte, erweist sich als aufschlussreich: die Art und Weise wie Alex von Beethoven spricht, erinnert frappierend an Don Quixote und den Ritter Amadis von Gaule, an Julien Sorel und Napoleon. Es handelt sich hier um jene Form der Bewunderung, die Girard als external mediation beschreibt. Ebenso wie Don Quixote Edelmut und Tapferkeit des Amadis von Gaule nachahmt und Julien Sorel das strategische Denken des Napoleon, strebt Alex nach dem Absoluten und göttlich Kreativen des Beethoven, und nicht umsonst bevorzugt er aus dessen 9. Sinfonie die Ode an die Götter.

Dieses Modell wird u.a. von Krin Gabbard und Shailja Sharma gestützt: „Rather than problematizing the fascination that Beethoven holds for a young violent young sociopath, the film allows the German composer to retain his heroic significations“29. Selbst Michel Ciment stellt fest, dass Kubricks Arbeit an einer geplanten Napoleon-Verfilmung „nach 2001 mit seinen Anklängen an Nietzsche“ auch Folgen für sein Filmwerk A Clockwork Orange hatte: Napoleon, „der den Willen zur Macht verkörpert und [...] Verehrung für das Individuum und die Theorie des Übermenschen einflößte“, soll als Vorbild „für die prometheische Musik Beethovens [gedient haben], jenes Ludwig van, der Quelle aller Freuden und Leiden Alex’“30 ist.

Während Beethoven das Streben nach Vollkommenheit als Komponist in musikalische Bahnen lenkte, wählt Alex – wie sollte es anders sein – als Arbeitsmaterial das, was ihn die Gesellschaft gelehrt hat: Gewalt, Repression, Übergriff. Das ist es wohl auch, was die Kritiker des Films seit jeher auf die Barrikaden gebracht hat. Alex wird nicht als krimineller Psychopath dargestellt, sondern als kongenialer „Künstler der Gewalt“. So ist der erste Gewalt-Akt am Landstreicher vom düsteren Flair des film noir bestimmt, der Bandenkrieg mit Billy Boy und dessen Gang erinnert an ein choreographiertes Ballett, beim Einbruch in Mr. Alexanders Haus vermischen sich Elemente des Maskenballs mit denen einer stage performance und das Duell mit der Cat Lady trägt die Züge eines skurrilen Tanzes der Pop Art.

Weil Gewalt für Alex offensichtlich kein Selbstzweck ist, sondern den einzigen Weg zu Ästhetik und Vollkommenheit in einer degenerierten Gesellschaft darstellt, erweist sich das Plädoyer Gabbards und Sharmas als sinnvoll, den Protagonisten von Clockwork Orange in eine Traditionslinie mit Stephen Dedalus31 zu stellen, d.h. ihn als einen Vertreter des in der Literatur klassisch gewordenen artist-heroes zu interpretieren32.

Aspekte der internen Vermittlung

Alex entspricht trotz seiner Bewunderung für Ludwig van Beethoven nicht dessen Typus eines „einsamen Genies“, er ist im Gegenteil wie ein Schauspieler oder Rock-Star performance artist33. Seine Gewalt wird zur Theateraufführung, sein Leben zum Film, und dabei weist er sich selbst stets die Rolle des star performers zu34: “Alex has become the star of his own trashy Hollywood movie”35.

Damit tritt die internal neben die external mediation, denn so sehr Alex das Streben des Komponisten nach Vollkommenheit nachahmt, durch seinen Narzissmus als Dandy und star performer bleibt er doch immer der Wirklichkeit verhaftet. Als Narzisst nimmt er die Stelle des Subjekts und des Objekts ein, wobei seine Droogs und seine Opfer als „Zuschauer“ die internal mediation sicherstellen. Nur dadurch, dass sie seine Macht „bewundern“, kann er sich selbst bewundern, womit auch sadistische Implikationen verbunden sind, denn gleichzeitig rückt er die anderen an die Stelle des Subjekts, wo sie seine Autonomie und Vollkommenheit gegenüber ihrer Schwäche anerkennen müssen.

Wenn Alex nun nach dem „göttlich Kreativen“ strebt und versucht, dieses „Absolute“ zu erreichen, stellt sich die Frage, mit welcher performance er sein Ziel erreichen könnte und wie diese Aufführung beschaffen sein müsste. Es steht fest, dass ein Aspekt – wenn Gewalt als Material mit kreativem Potential verstanden wird – die „absolute“ Gewalt ist, d.h. die „totale“ Zerstörung eines Objekts. Auf den Menschen angewandt ist es der Mord an einem Anderen, und es scheint kein Zufall zu sein, dass in der Jugendsprache Nadsat das Äquivalent für Mord „Ultrabrutale“ bzw. ultraviolence ist, damit also die äußerste Grenze der Wirksamkeit von Gewalt bezeichnet wird.

Dass Alex trotz seines Mordes an der Cat Lady nicht dieses Absolute erreicht, nach dem er strebt, hat seine Ursache darin, dass das Modell der externen Vermittlung und das Modell von Narzissmus und Sadismus in einer wechselseitigen Beziehung stehen. In diesem Sinne orientiert sich die performance zwar am Objekt Beethovens, also dem Vollkommenen, doch kann es niemals eine performance ohne Zuschauer geben, was durch deren Fehlen in der „Cat Lady-Sequenz“ unterstrichen wird: während seine Droogs vor der Türe stehen und das Haus noch nicht betreten können, führt er seine performance mit der Cat Lady auf, doch mit dem Mord an ihr geht ihm gleichzeitig sein Publikum verlustig.

Alex und seine Droogs

Während Alex als Künstler von seiner Gesellschaft hervorgebracht wird und gleichzeitig an ihrer fehlenden Aufmerksamkeit scheitert, offenbart sich seine Sonderstellung auch innerhalb des Freundeskreises: das Gruppengefüge zeugt von divergierenden Standpunkten gegenüber der Gewalt, Standpunkten, die letztlich zum Zusammenbruch der Bande führen, da Idealismus und Pragmatismus bzw. Utilitarismus in diesem Punkt unvereinbar sind.

Autorität und Materielles

Wenn Alex und seine Freunde in den ersten Sequenzen des Films noch als funktionierende Gemeinschaft innerhalb einer krisenverhafteten Gesellschaft dargestellt werden, dann erinnert dies an Girards Beschreibung der Friedenssicherung von Elementargruppen: sie richten die Gewalt auf „äußere Feinde, die <anderen>, die <anderen Menschen>“ und sichern so „einen inneren Kreis von Gewaltlosigkeit, der zur Aufrechterhaltung der wesentlichen sozialen Funktion“36 notwendig ist. Dementsprechend tragen Alex und seine Droogs die Gewalt nach außen, um sie nicht innerhalb der Gruppe ausleben zu müssen. Outlaws (wie der Landstreicher), rivalisierende Gangs (wie Billy Boy) und Mitglieder des Bürgertums (wie Mr. Alexander) werden zum „Außen“ innerhalb einer partikularisierten Gesellschaft. Alex und seine Freunde besitzen hier noch das, was nach Girard fundamental für das Funktionieren einer Gemeinschaft ist: klare Strukturen und Hierarchien, die nicht hinterfragt werden. Während Alex als Leader in Erscheinung tritt, folgen die Freunde seinen Anweisungen und spielen den ihnen zugeordneten Teil in Alex’ performance. Doch weil ihre Objekte der Begierde nicht übereinstimmen, muss es auch hier früher oder später zum Konflikt kommen. Wie unterschiedlich die Ansichten zwischen dem artist-hero und den kleinkriminellen Verbündeten tatsächlich sind, wird jedoch erst in der zwölften Sequenz deutlich: während Alex einen Umgang mit materiellen Objekten propagiert, der auf Nutzen ausgerichtet ist37, fordern seine Freunde einen new way, der ihre Wünsche nach Reichtum befriedigen soll. Ihr mediator ist das Bürgertum, ihr Objekt der Begierde dessen Besitz. Wenn sie Gewalt anwenden, dann nur deshalb, um die Objekte dem Besitzer entreißen zu können.

Infektion mit Gewalt

Wenn Georgie den Einbruch in das Reformhaus der Cat Lady vorschlägt, um so endlich an das „große Geld“ zu kommen, buhlt er zwar um die Gunst der restlichen Bandenmitglieder und versucht zu verdeutlichen, dass Alex mit seiner performance die Begierden der anderen ignoriert. Doch obwohl diese Divergenz das Motiv des Verrats ist, kann sie nicht als Ursache der Destabilisierung innerhalb der Gruppe aufgefasst werden. Nicht der sich hochschaukelnden Eskalation kommt also die tragende Rolle zu, es ist der Moment des Umkippens von Hierarchie zu Anarchie innerhalb der Gemeinschaft, der Augenblick des Infizierens mit Gewalt, der aufschlussreiche Erkenntnisse bieten kann.

In der siebten Sequenz gerät die Stabilität erstmals ins Wanken. Es handelt sich um jene Szene in der Korova milk bar, in der Alex seinem Sitznachbarn Dim mit einem Stock auf den Oberschenkel bzw. die Genitalien schlägt, weil dieser eine Opernsängerin während der 9. Sinfonie unterbricht. Dieser erste Akt der Gewalt innerhalb der Gruppe scheint anfangs überzogen und den Umschwung einleitend, doch bei genauerer Betrachtung kann festgestellt werden, dass es Dim ist, der tatsächlich als Provokateur in Erscheinung tritt – er macht sich nicht über Musik generell lustig, sondern über jene von Ludwig van Beethoven, d.h. er stellt Alex’ externen Mittler infrage und damit auch dessen Suche nach „göttlicher Kreativität“. Kurz gesagt: durch das Hinterfragen der „durch Gott gegebenen“ Hierarchie wird eine gewalttätige Reaktion provoziert, die letztlich zum Zerfall der Gruppe führt und Alex in zweifacher Hinsicht stigmatisiert: als Fremden wegen seines extern vermittelten Ideals und als Schuldigen, weil er sich provozieren ließ. Wenn Dim nun Alex vor dem Haus der Cat Lady mit einer gefüllten Milchflasche niederschlägt, so liegt der Vergleich zur Opferung des Sündenbocks nahe: derjenige wird geopfert, der die Gewalt hineintrug und der schon immer ein Fremder unter Seinesgleichen war – vor allem aber hat diese Tat eine reinigende Wirkung, denn Georgie und Dim scheinen von ihrer Schuld rein gewaschen zu sein und sie werden später sogar in den Staatsdienst aufgenommen.

Sündenbock und Gesellschaft

Wenn weder die erotische Kunst als ostensives Zeichen Frieden zu stiften vermag, noch die Elementarengruppen in der Lage sind, ihre Aggression nach außen zu tragen, so bleibt der in Clockwork Orange skizzierten Gesellschaft, nur auf eine bewährte Methode des Krisenmanagements zurückzugreifen: das Opfersystem. An die Stelle der Religion als ursprünglich ausführendem, nun jedoch machtlosem Organ, treten Justiz und vor allem Wissenschaft. Das Ludovico-Experiment verdeutlicht, wie der Glaube an Materialismus und technischen Fortschritt das Prinzip der Opferung verändert: geopfert wird nicht mehr der Mensch als Ganzes, sondern nur jener Teil, der das „Böse“ in sich trägt: der freie Wille. Somit wird aus der Opferung durch einen Priester die Konditionierung durch einen Wissenschaftler. Das „Böse“ soll nicht vertrieben, sondern unterdrückt werden. Es gilt die Ansteckungsgefahr möglichst niedrig zu halten, weshalb das – sonst nicht schlüssige – Konditionieren auch gegen Sexualität einen zweifachen Sinn erhält: einerseits als präventives Ersticken eines möglichen genetischen Strohfeuers, andererseits als Androhen einer „mentalen Kastration“.

So ist es kein Zufall, dass Alex während des Experiments all das genommen wird, worüber er sich definiert: seine performance. Mit Übelkeitsgefühlen gegen Gewalt und nackte Frauen konditioniert, kann er – durch einen Zwischenfall im Experiment – nicht einmal mehr Beethoven hören. Alex wird sowohl seines externen Mittlers als auch seines künstlerischen Materials beraubt: ihm wird das Schicksal eines Künstlers ohne Ausdrucksfähigkeit auferlegt.

Dabei geht mit der Konditionierung nicht nur eine mentale Opferung des freien Willens einher, es ist vor allem die Inszenierung des Ludovico-Experiments als „Heilungsprozess“, der an so etwas wie „Sakralisierung“ erinnert. Der Innenminister stellt Alex nach Abschluss des Experiments nicht als einen Menschen ohne Willen vor, sondern tatsächlich als Heiligen: „Hier haben Sie Ihren wahren Christen. Bereit die andere Backe hinzuhalten, bereit eher selber gekreuzigt zu werden als zu kreuzigen. Dem das Herz brechen will bei dem bloßen Gedanken eine Fliege zu töten. Bekehrung zur Freude aller Engel im Himmel“38.

In eben dieser Kombination verschiedener anthropologischer Aspekte zeigt sich, dass Alex von Anfang an den typischen Weg eines Opfersystems durchläuft: „Er ist eine Art Sündenbock, stellt aber in sich die Gruppe dar, von der er ausgeschlossen ist“39. Wie die ihn umgebende Gesellschaft ist Alex der Gewalt verhaftet, doch steht er außerhalb der Gemeinschaft, weil er die Krise weder ignoriert noch sublimiert, sondern sie zum Absoluten erhebt, sie durch Ludwig van Beethoven vermittelt, zum kreativen Akt erheben möchte. Mit Alex kann die Gesellschaft einen Fremden aus den eigenen Reihen opfern, der ihre größten Ängste repräsentiert, nämlich ein Eigenleben der Gewalt.

Doch weil dieses „stellvertretende Opfer“40 sich selbst durch das Erfüllen aller archetypischen Besonderheiten zum idealen Sündenbock stilisiert, so durch den mit falschen Wimpern hervorgehobenen „böse Blick“41 und die durch einen Genitalschutz hervorgehobene Sexualität als „physische Absonderlichkeit“42, kann es keine Lösung bieten, weil es ihm an Reinheit mangelt. Die Wissenschaft als moderne Institution des Opfersystems scheitert an der „unreinen Gewalt“:

„Der Ausschluss der Gewalt findet nicht statt; die Konflikte häufen sich, die Gefahr der Kettenreaktion wächst“43. Dann „fließt die Gewalt nur allzu leicht in der einen wie in der anderen Richtung. Das Opfer verliert seinen Charakter der heiligen Gewalt und <vermischt> sich mit der unreinen Gewalt, wird so zu ihrem skandalerregenden Komplizen, ihrem Spiegelbild“44. Anstatt von seinen ehemaligen Opfern als geläutert anerkannt zu werden, zieht Alex nun die Gewalt erneut auf sich und legt so den tatsächlichen Entdifferenzierungs-Zustand der Gesellschaft bloß. Ihm widerfährt, was er zu Beginn begangen hat.

Nach der wissenschaftlich-mentalen Opferung folgt die physische durch seine ehemaligen Opfer, doch auch diese vermag keine Befriedigung zu bringen, denn Alex ist bereits ein „Heiliger“: das Opfer nutzt sich ab. Symptomatisch und typisch für diese einsetzende Spirale der unreinen Gewalt ist ihr Höhepunkt: Alex’ Selbstmordversuch aufgrund der Foltermethoden des Mr. Alexander, durch seine freie Entscheidung, erneut Gewalt anzuwenden – diesmal an sich selbst, führen letztendlich zur Heilung und damit nur erneut zur Gewalt. „Die Krise des Opferkultes, d.h. der Verlust des Opfers, ist der Verlust der Differenz zwischen unreiner und reinigender Gewalt. Wenn diese Differenz verloren geht, dann ist keine Reinigung mehr möglich, und die unreine, ansteckende, d.h. gegenseitige Gewalt, breitet sich in der Gemeinschaft aus“45. Der politische Mord an Mr. Alexander, um Alex zu schützen, bietet einen entsprechen Vorgeschmack, doch auch die letzten Bilder des Films, wo Alex unter dem Applaus von Aristokraten seinen wieder gewonnenen sexuellen Fähigkeiten nachgeht, deuten an, dass eine Lösung des Konflikts noch weiter in die Ferne gerückt ist.

Zusammenfassung

Wurde das Filmwerk A Clockwork Orange zu Beginn der vorliegenden Arbeit als eine vermeintliche porno-violent sci-fi comedy eingeführt, bietet es sich nun an, eine Re-Formulierung zu versuchen. Die Definition als anthropo-violent sci-fi tragedy fasst die zentralen Aspekte des Films wohl am bündigsten zusammen, denn es kann

- in Zusammenhang mit Clockwork Orange keineswegs von einer Komödie gesprochen werden. Wirken zahlreiche Szenen wie in etwa Alex’ Tête-a-Tête mit den Mädchen aus dem Plattenladen belustigend, dient dies primär der Charakterisierung des Protagonisten als Star und lässt keine Rückschlüsse auf die Gattung zu. Ein Blick auf die (inhaltlich wie formal) symmetrische Strukturierung des Films lässt dagegen vermuten, dass es sich hier ganz im Sinne Girards um eine Tragödie handelt;

- die dargestellte Gewalt als vollkommen motiviert verstanden werden, sie wird erst damit in einen anthropologischen Kontext gestellt. Alex’ Gewalt ergibt sich als Verbrechen aus der Krisenverhaftetheit seiner Gesellschaft und als performance aus dem Phänomen des triangulären Begehrens, während die Rache seiner Opfer ihren Ursprung eben in den typischen Entdifferenzierungs-Erscheinungen hat. Gleichzeitig bemüht sich der Staat die Krise durch eine Reaktivierung des Opfersystems, nun im Gewand der Wissenschaft, zu lösen, wobei Alex das typische Opfer ist: ein Fremder, der die Gemeinschaft repräsentiert. Weil die Opferung jedoch keinerlei kathartische Wirkung hervorruft, dreht sich die Spirale der Gewalt weiter.

Der Vorteil einer solchen anthropologischen Herangehensweise liegt vor allem darin, dass sich der Film auf diese Weise integrativ erklären lässt – es zeigen sich immanente Verbindungen, wo man Widersprüche vermutete: Alex’ Position gegenüber der Gesellschaft beruht auf Entfremdung durch Radikalisierung, seine Liebe zu Beethoven auf dem Willen zur künstlerischen Formgebung usw. Es tut sich ein eng verwobenes Netz auf, wo anfangs nur lose Verknüpfungen zwischen Gegensätzen zu sehen waren.

 

Film- und Literaturverzeichnis

Quelle - Film

Uhrwerk Orange. Regie: Stanley Kubrick. GB 1971. 131 min. Hamburg: Warner Bros. (Stanley Kubrick Collection).

Erwähnte Filme

Bonnie and Clyde. Regie: Arthur Penn. USA 1967

2001: A Space Odyssey . Regie: Stanley Kubrick. GB/USA 1968

Literatur zu A Clockwork Orange

Ciment, Michel (1982) Kubrick, München: BAHIA Verlag.

Duncan, Paul (2003) Stanley Kubrick. Visueller Poet 1928-1999, Köln: TASCHEN.

Falsetto, Mario (1994) Stanley Kubrick. A Narrative and Stylistic Analysis, Westport: Greenwood Press (Contributions to the Study of Popular Culture).

Falsetto, Mario (Hg.) (1996) Perspectives on Stanley Kubrick, New York: G.K. Hall & Co. (Perspectives on Film).

Kagan, Norman (1989) The Cinema of Stanley Kubrick, New York: Continuum.

McDougal, Stuart (Hg.) (2003) Stanley Kubrick’s A Clockwork Orange, Cambridge: Cambridge University Press.

Walker, Alexander (1999) Stanley Kubrick. Director, New York: W.W. Norton & Company.

Literatur zur Anthropologie

Eshelman, Raoul (2000) “Performatismus oder das Ende der Postmoderne”, Wiener Slawistischer Almanach 46, 149 - 173

Gans, Eric (1993) Originary Thinking, Stanford: Stanford University Press.

Peter Gilgen: Originary Thinking: Element of Generative Anthropology (04.06.1995). In: SEHR, volume 4, issue 2: Constructions of the Mind. URL: http://www.stanford.edu/group/SHR/4-2/text/gilgengans.html (31.01.2007).

Girard, René (1965) Deceit, Desire and the Novel: Self and Other in Literary Structure, Baltimore: The Johns Hopkins University Press.

Girard, René (1983) Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Freiburg: Herder.

Girard, René (1999) Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/Main: Fischer.

Golson, Richard (1993) René Girard and Myth: An Introduction, New York: Garland Publishing.

Michael, Jakob (Hg.) (1994) Aussichten des Denkens, München: Wilhelm Fink.

 

Fußnoten

McDougal 2003: 134 [zurück]

A Clockwork Orange . Regie: Stanley Kubrick. GB 1971 [zurück]

Anthony Burgess veröffentlichte seinen Roman A Clockwork Orange im Jahre 1962 [zurück]

Bonnie and Clyde. Regie : Arthur Penn. USA 1967 [zurück]

Ciment 1982: 162 [zurück]

Duncan 2003: 9 [zurück]

Vgl. Girard 1965. [zurück]

Golson 1993: 2 [zurück]

Jakob 1994: 163/164 [zurück]

Ebd. [zurück]

Vgl. Golson 1993: 107 - 128 [zurück]

2001: A Space Odyssey . Regie: Stanley Kubrick. GB/USA 1968 [zurück]

Gilgen 1995 [zurück]

Vgl. Gans 1993 [zurück]

Gilgen 1995 [zurück]

Girard 1999: 74 [zurück]

Ebd.: 76 [zurück]

McDougal 2003: 34 [zurück]

Ebd.: 62 [zurück]

Falsetto 1994: 154 [zurück]

Ebd.: 183 [zurück]

Eshelman 2000: 151/152 [zurück]

Ciment 1982: 162 [zurück]

Ebd.: 160 [zurück]

Ebd.: 97 [zurück]

Ebd.: 74/75 [zurück]

Kagan 1989: 169 [zurück]

Falsetto 1994: 59/60 [zurück]

McDougal 2003: 102/103 [zurück]

Ciment 1982: 97 [zurück]

Der Protagonist aus James Joyce’ 1916 veröffentlichten Roman A Portrait Of The Artist As A Young Man. [zurück]

McDougal 2003: 89 [zurück]

Falsetto 1994: 153 [zurück]

Ebd.: 130 [zurück]

Ebd.: 129 [zurück]

Girard 1999: 83 [zurück]

„Und was willst du tun mit den vielen, vielen, vielen Mäusen? Hast du nicht alles, was du willst? Und wenn du ein Auto brauchst, dann klaust du es dir einfach. Und wenn du Pretty Polly brauchst – dann nimm sie dir“ – Dialogstelle aus der 12. Sequenz des Films. [zurück]

Vgl. Sequenz 25 [zurück]

Girard 1983: 102/103 [zurück]

Ebd.: 37 [zurück]

Ebd.: 116 [zurück]

Ebd.: 120 [zurück]

Girard 1999: 62 [zurück]

Ebd.: 63 [zurück]

Girard 1999: 76/77 [zurück]


Kontakt: Jerome Philipp Schäfer Veröffentlicht am 08.01.2008

   
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