Alexander Schlicker



Martin Scorseses “No Direction Home“: his Bobness begins oder Wie ich lerne den Dylan zu lieben


Abstract: Martin Scorsese hat sich in seiner Dokumentation “No Direction Home“ den frühen Anfängen des Mythos Bob Dylan anzunähern versucht. Gepaart mit Dylans Autobiographie „Chronicles“ wird dabei eines klar: Je mehr wir glauben über Dylans Anfänge zu wissen, desto weniger kommen wir dem eigentlichen Mythos näher. His Bobness ist undurchdringbar und auch deshalb unerreicht. Erst dadurch erinnern wir uns letztlich auch daran, was ein Mythos eigentlich ist: ein kaum überprüfbares, verführbares und verführendes Faszinosum.

Auch in oberflächlich nicht poetischen Texten ist man als Leser manchmal viel mehr Künstler als man sich bewusst ist. Ein Beispiel aus Bob Dylans 2004 erschienener Autobiographie „Chronicles Volume 1“ mag diese These belegen:

„Ich suchte nicht nach Geld oder Liebe. Ich hatte geschärfte Sinne und feste Gewohnheiten, ich war unpraktisch und obendrein ein Visionär.“ (1)

Obwohl diese Aussage ziemlich deutlich auf Dylans Anfänge gemünzt sein muss, umhüllt sie mehr, als sie uns zeigt. Welche festen Gewohnheiten? Unpraktisch? Schon damals ein Visionär? Dylan – und dies zieht sich durch seine ganze, hier exemplarisch anzitierte Autobiographie – will uns nichts über sich enthüllen, uns höchstens gerade dadurch desillusionieren: Sein Mythos sei nur fingiert, und muss für jeden Musikliebhaber, der „wahre“ Legenden des Folk wie Woody Guthrie (Dylans großes Idol und Ideal) oder Dave Van Ronk nicht als Erfindungen burlesker Folklore versteht, doch eigentlich nur als die logische Fortsetzung von deren Arbeit und Visionen sein. Es sind solche Überlegungen innerhalb der „Chronicles“, die sich u.a. mit der eingangs zitierten Selbsteinschätzung zu einem Mysterium verflechten.

Dylan bleibt, so sehr er sich auch dagegen wehren mag (im politischen Kontext sogar höchst erfolgreich; man hat ihn zum Beispiel nie so krakeelend gegen Bush & Co. wettern hören wie etwa REM oder Pearl Jam), stets „das Dylan“: der Protestsongschreiber, der mit Songs wie „Hurricane“ wegen eines inhaftierten Boxers aufrütteln wollte, der mit seiner legendären Rolling-Thunder-Tour Konzertgeschichte schreiben sollte und der mit seinen Originalen vielen Coverversionen durch Hendrix, The Byrds oder Guns n´ Roses zu großem Erfolg verhelfen konnte.

So ist Bob Dylan ein typisches Beispiel für retrospektive Verklärung. War er gerade zu Beginn oder in den 80er Jahren alles andere als erfolgreich oder gar unkritisierbar (der Fan denke an seine „religiösen Eskapaden“), so verlaufen heute die Lobgesänge einseitig. Kaum jemand kennt noch seine – für heutige Maßstäbe – unüberschaubare Anzahl an Alben, aber alle kennen Bob Dylan. Viele quatschen über „Blowin´ in the wind“, aber nur wenige wissen überhaupt noch, auf welchem Album dieser Song zu finden ist (es ist „The freewheelin´ Bob Dyan“)! Aber ist es denn ein echtes „sich wehren“ des Meisters oder doch mehr spielerisches Amüsement? Noch heute steht der Oskar für Dylans Song „Things have changed“, seinem musikalischen Beitrag zum eher mediokren Film „The Wonderboys“ mit Michael Douglas und Toby Maguire auf einem der Verstärker bei seinen Auftritten, und wer Zeilen liest, wie „Die Folkszene war ein Paradies gewesen, das ich jetzt verlassen mußte wie Adam den Garten Eden. Es war einfach zu perfekt.“(2), der spürt durchaus den kleinen Narziss.

Wer schon einmal bei einem Auftritt von Bob Dylan live and in person war, der sah in den letzten Jahren wandelnde Musikgeschichte, die nur noch durch Songs kommuniziert. Kein Wort oder Wink zum Publikum, nur immerwährende Varianten seiner inkommensurablen Songs. Egal ob „The times, they are a changin“, „Subterranean Homesick Blues“ oder „Most of the time“, immer anders, immer ohne äußeres Pathos. Dylan verhökert seine Songs nicht und marginalisiert sie nicht zu bloßen Standards wie dies (leider) die Rolling Stones oder Paul McCartney auf ihren feudalen Zirkustourneen tun, sondern zelebriert die Undurchsichtigkeit seines ausladenden Gesamtwerks. Deshalb nimmt es auch kein Wunder, dass er mit seinem (für das Erscheinungsjahr 1966) erratischen Epos „Blonde on Blonde“ und dem apokalyptisch-intensiven (man höre nur die fulminante Liveversion auf „Live 1966: The Royal Albert Hall Concert“) und durch seine Elektrik zur damaligen Zeit mitunter skandalös empfundenen „Like a rolling stone“ auch 2004/2005 noch die ewigen Hitlisten der besten Alben und der besten Songs – zumindest so gewählt von den Redakteuren und ausgesuchten Gästen des deutschen Musikmagazins „RollingStone“ – anführt. (3)

In seiner Autobiographie heißt es einmal in Anspielung auf die damalige Hysterie um seine Person, die immer groteskere Züge annahm und Dylan mehr als personifizierte Ikone, weniger als Musiker fokussierte:
„Alles lief falsch, es war eine absurde Welt. Ich fühlte mich in die Enge getrieben. Und auch Freunde waren keine Hilfe. In dieser Zeit des Irrsinns fuhr ich einmal im Hochsommer mit Robbie Robertson, dem späteren Gitarristen von The Band, im Auto mit. Ich fühlte mich, als hätte ich ebensogut in einer anderen Ecke des Sonnensystems leben können. Er sagte zu mir:' Und, was hast du weiter vor?' 'Mit was?' fragte ich. 'Na, mit der ganzen Musikszene.' Mit der ganzen Musikszene!“ (4)

Eine absurde Frage einer eigentlich auch absurden Person. Martin Scorsese hat auch ihr, also Robbie Robertson, ein monumentales Denkmal gefilmt: 1978, das Jahr in dem sich „The Band“ auflösten, wurde das von vielen Weggefährten wie Neil Young, Van Morrison oder Eric Clapton begleitete Abschiedskonzert dieser heute leider fast in Vergessenheit geratenen Band (trotz musikalischer Eremiten wie „Music from big pink“) von Scorsese elegant auf Celluloid gebannt. Wer dieses musikalische Zeitdokument, das 2003 glücklicherweise auch auf DVD erschien, nicht sein Eigen nennen kann und trotzdem über Rockgeschichte sinnieren möchte, könnte sich auch genauso gut in die Abbey road Studios stellen und von deren Bedeutung für den kommerziellen Erfolg von Christina Aguilera plappern.

Scorsese, der den Regie-Oscar trotz zahlreicher Anläufe nie gewann, bewies mit „The Last Waltz“ sein Gespür für Rock und seine ihm innewohnenden Selbstinszenierungen. Auch die Interviewsequenzen mit den Bandmitglieder verkommen nicht, wie bei so vielen anderen Filmen dieser Art, zur stumpfen und para-phrasierenden Staffage, sondern geben Einblick in Robertsons Kreativität und Schaffen, wobei sich Scorsese nicht zum Scharfrichter über das gelegentliche Delirium eines Musikers der 60er und 70er Jahre – mit all ihren Zeiterscheinungen – aufspielt.

Scorsese wandt sich nun also auch über mehrere Jahre dem Dylanismus zu und das Ergebnis ist nun seit November 2005 auch hierzulande auf DVD erhältlich. Es beschränkt sich auf Dylans Aufstieg aus der Ödnis von Minnesota bis zu seiner radikalen Selbsterfindung als Electricman des Folk, der Mann, der (ebenfalls auf „Live 1966“ zu hören) sich als Verräter beschimpfen und als Apologet durchschlagen musste:
“I don´t believe you. You´re a liar!“

Nur eine der vielen – auch wieder legendären Zitate Dylans, das er in besagtem Auftritt den Anfeindungen gegen seine musikalische Emanzipation vom Akustikfolk entgegenhält. So emotional und unsynthetisiert waren einmal Rock und Roll. Die meisten wahren Helden starben – Achtung Klischee – eben doch zu früh, um heute künstlerischen Ruhm zu ernten: Wer erinnert sich noch an Tim Buckley, Nick Drake oder gar Brian Jones? Vor kurzem starb mit Chris Whitley ein weiterer, leider kaum bekannter Sänger und Songwritter.

Dylan hat sie alle nicht einfach nur physisch überlebt, er hat auch künstlerisch weise sein „Alterswerk“ organisiert. War speziell in den 80er Jahren viel Quatsch im Spiel (z.B. „Empire Burlesque“ von 1985), so waren „Oh Mercy“ (als Rückkehr zu alter Form), „Time out of Mind“ oder auch das bisher letzte Studioalbum „Love and Theft“ wahre Perlen traditioneller Folkrockmusik. So verwurzelt kann nur jemand schreiben und aufnehmen, der sich längst aus den Zirkeln des Pop, den ewigen Diskursen der Gleichheit nicht nur entfernt, sondern vollständig abgesondert hat. Die Unbeschwertheit einer Eitelkeit neben Chartnotierungen trägt da viel bei. Man sagt nicht nur, dass man nichts mehr beweisen müsse, man glaubt es auch. Während Madonna für ihre nächste (Re-)Mutation als innovative Ikone mit 'Knackarsch’ weiterhin gefeiert wird, obwohl sie sich die Melodien schon offiziell bei ABBA borgen muss, fragen wir uns: Woran noch glauben? An den puren Underground oder doch nur am besten daheim sitzen bleiben und den alten Plattenschrank hermetisch kultivieren? Nein! Denn es gibt sie noch, die guten Platten dazwischen. Es gibt auch etwas neben dem Dylan oder den Beatles oder Springsteen. 2005 waren dies zum Beispiel Paul Weller, Wilco, Bright Eyes, Element of crime oder Art Brut. Jedem so, wie er es verdient, möchte man sagen.

Auch sich neu bildende Popmythen kann man nicht ohne weiteres in irgendwelchen Redaktionen herbeischreiben oder umgekehrt einfach verwünschen, es gibt sie plötzlich oder eben dann leider doch nicht, und man hat es anfangs gar nicht gemerkt. Richtige Mythen lassen sich erst retrospektiv erkennen, aber dann (fast) nie in ihrem Kern erschüttern. So erschienen auch in den letzten Jahren zahlreiche Bücher und Aufnahmen des Meisters, die zwar in den meisten Fällen viel erzählten, doch selten etwas Neues oder besser Essentielles für eine Annäherung an Dylan zutage förderten. Es sei hier nur an das Beispiel Greil Marcus erinnert, der in seinem Buch „Bob Dylans Like a Rolling Stone“ (5) zwar äußerst kenntnisreich schwadroniert, jedoch dieses Wissen durch seine kryptischen Verschleierungen offensichtlich nur einem elitären Geheimbund zugänglich machen möchte.

Scorsese versucht gar nicht, Dylans aufsteigenden Mythos seiner Anfangsjahre zu bearbeiten oder gar noch mehr zu „essentialisieren“, sondern erkennt die Jahre zwischen 1961 und 1966 als eine Art Gegenrevolution zu bestehenden Traditionalismen der Musik und der Kunst generell unumwunden an. Auch wenn uns heute diese längst vergangene Zeit in Schrift und Bild viel zu oft als stumpfe Idiosynkrasie vorgegaukelt wird, dieser Film fällt nicht auf die offensichtlichen Tücken bloßer Stilisierung der unwiederbringlichen Vergangenheit herein. Scorsese ist jedoch nicht der eigentliche Vater des Projekts „No Direction Home“ und stieß erst 2001 dazu. Dylans Manager Jeff Rosen konzipierte bereits Anfang der 90er die Grundstruktur und führte einige der am Ende sehr zahlreichen Interviews. Scorseses Kunst liegt also mehr in der Zusammenstellung und der Vermeidung ätzender Ästhetisierungen, wie es auf der jüngst erschienen DVD „The Concert for Bangladesh – George Harrison and Friends“ bestaunt werden kann, auf der Dylans Beitrag für dieses Konzert noch als wohlwollend solider Part erscheint. Arne Willander wird über „No Direction Home“ in seiner Rezension (6) unter anderem folgendes – völlig zurecht – bemerken:

„Diese monumentale Dokumentation entlarvt das Geheimnis Dylans nicht, sondern zeigt in der materialreichen Montage verblüffend, daß er seiner ideellen Heimat um so näher kommt, je weiter er sich von allen Konventionen entfernt.“

Diese Heimat, die Folkszene der 60er Jahre, hatte Dylan aufgrund ihrer zunehmenden Enge verlassen. Auch Martin Scorsese sollte die Enge seiner determinierten Heimat, die Gebirge des konventionalisierten Hollywoodfilms ebenfalls verlassen und mit „Taxi Driver“ oder später „Wie ein wilder Stier“ provokante Filmgeschichte im Mainstream-Bereich schreiben. Versteht Scorsese vielleicht schon allein deshalb einen Dylan besser als andere?

Doch der Reihe nach: Es beginnt natürlich alles mit dem Titel: „No Direction Home“. Dieser – Sie werden es wahrscheinlich wissen – ist nicht nur ein Zitat eben aus „Like a rolling stone“, er ist Programm. So lässt Scorsese Dylans Suche nach einem Weg nach Hause, den dieser verfolgt, zugleich nicht findet, als Entree fungieren. It is like an odyssee... Seine ideelle Heimat wird am Ende die Musik sein, nur die Musik. So erfahren wir einiges von Robert Zimmermans – so Bob Dylans bürgelicher Name – Schulzeit, von Minnesota und seiner ärmlichen Enge, der Musik eines Hank Williams, von alten, verstaubten Plattenspielern, der Borniertheit der Menschen und von den Realitäten einer noch limitierten (Medien-)Welt. Es geht erst langsam um das Aufbegehren von (Film)Figuren á la James Dean und Marlon Brando, von Giganten und Wilden.

Dylan räumt mit der teilweise schamlosen Verklärung der 50er Jahre auf: In Minnesota gab es nichts, wogegen oder wofür man rebellieren konnte, es ging um den Lebensalltag und den Job; ein bisschen Familie war gerade noch drin. Die Leute (hier) wachten nicht eines Nachts auf und tanzten ekstatisch zu Elvis Presley oder Ray Charles. Ein erster Mythos bricht zusammen, ein anderer wird im Zeitraffer erweckt: Szenenwechsel – Dylan live auf der Bühne, es ist das Konzert in Newcastle von seiner legendären Englandtour 1966. Ein rotziger junger Mann klampft und krampft wütend gegen ein paralysiertes Publikum an. Die Mundharmonika völlig gegen den Strich geblasen, die Band von der Leine gelassen, im Schlussakkord Ablehnung pur – Dylan wird schallend von der Bühne gepfiffen, nur wenige klatschen. Dylan winkt dennoch kurz im Abgang – so werden Geschichten geschrieben. Es sind vor allem die hier eingefangenen Kommentare der Konzertbesucher, die nicht nur Zeitdokument einer sich wandelnden Musikszene sind, sondern auch das heute Unvorstellbare beweisen: “Bob Dylan is a dirty bastard“, wird einer sagen. Es ist 1966 und trotzdem fühlt sich keiner der Zeitzeugen zu diesem Zeitpunkt als Teil einer beginnenden Musiklegende. Dies ist Mythos, aber wie kann man sich einer solch widersprüchlichen Situation annähern? Der junge Dylan wird hier sagen: „Ich hatte gar kein Ziel.“

Durch die teilweise sehr seltenen oder nie zuvor gezeigten Aufnahmen in diesem Film lernen wir den jungen blässlichen Robert Zimmerman als knisternden Highschool-Musiker mit seiner typisch monotonen Stimme kennen, erfahren von ärmlichen Nächten in New York, nehmen aber eben auch teil an seiner eruptiven Kreativität dieser frühen Jahre. Scorsese lässt dabei in seiner Zusammenstellung des Archivmaterials gerade nicht Scharen von typischen Bewundern auflaufen, die es ja schon immer vorhergesehen oder gar vorhergesagt haben wollten, sondern lässt auch ungewöhnlichere Zeitzeugen zu Wort kommen. Von Dylans Exmuse Suze Rotolo, die sich auch früher nur spärlich zu ihrer Vergangenheit mit Dylan äußerte und durch ihre Präsenz neben Dylan auf dem Cover seines ersten Erfolgsalbums „The Freewheelin´ Bob Dylan“ berühmt wurde, hätte man dann doch etwas mehr inhaltliches Profil erwartet; vielleicht auch eine kleine Exploration in die verborgenen „Schattenseiten“ des Mannes, der bereits in den Zeiten ihrer Beziehung bis zur Unkenntlichkeit von seinen Fans vergöttert wird.

So richtig privat wird es, auch dies ein Winkelzug des Meisters, letztlich kaum. Selbst in den „Chronicles“ bekommen wir mehr Impressionen als summierende Fakten rund um den Privatmann Robert Allen Zimmerman. Aber ist dieser Umstand wirklich verwerflich? Es gibt dafür viel anderes zu entdecken, was den Mythos nährt, ohne konkret zu werden. So wird teilweise über Songs sinniert, ohne diese zu benennen. An diese Struktur hält sich auch Martin Scorsese in den fast vier Stunden dieser Doppel-DVD, die neben der Dokumentation auch einige Extras wie einen Zusammenschnitt der Livesequenzen aufbieten kann.

Wer Dylanologe ist, wird, gerade weil er die Fakten ohnehin schon kennt, die Philosophie und Scorseses Liebe zum raren Detail genießen; der Laie kann sich – ganz empfindsam, aber nie sinnlos verquatscht – an etwas Unnahbares herantasten. So sind Photos vom jungen Bob, der zu Beginn seiner Laufbahn u.a. den Support für etablierte Bluesgrößen wie John Lee Hooker geben durfte, nicht nur gut montierte Effekte – sie vermitteln nicht in erster Instanz ein Genie, sondern einen Jungen voller Energie. Man sehe sich nur das Kapitel zu Dylans erster Platte an: Das Staunen vor dem bisher Unbekannten. Dabei wird oft vergessen, dass der Vertrag dazu nicht einfach zugeflogen kam und es einige Zeit brauchte, bis 1962 das Debütalbum „Bob Dylan“ in die Läden kam. Mitch Miller von A&R Records (allein die gezeigten Werbefilme sind einfach herrlich grotesk in ihrer – aus heutiger Sicht – Amateurhaftigkeit) über das erste Mal, als er Dylan live hörte: „Ich gebe zu, dass ich nicht begriff, was daran so toll war. Er hat keine Stimme, ich meine, er erzeugt keinen schönen Klang.“

Ebenfalls fast vergessen: Der große Misserfolg der Platte, die laut Miller zur damaligen Zeit nur rund 2500 Einheiten absetzte. Auch dies ein Mythos? Ja, aber genau das ist der Punkt: Nimmt man die „Chronicles Volume 1“ und „No Direction Home“ zusammen, erscheint ein bunter Supermarkt voller klebriger, aber süßer Mythen, in dem wir uns unsere Verführung selbst aussuchen dürfen. Scorsese zwingt uns keine Perspektive auf; er bietet uns nur Optionen der Kontemplation an. Die eingestreuten Liveausschnitte (u.a. auch vom Newport Music Festival, auf dem Dylan 1963 enthusiastisch gefeiert wurde, jedoch 1965 einer Massakrierung durch das von seiner Abkehr vom Akustikfolk partiell verstörte Publikum inklusive Pete Seeger nur knapp entgehen konnte...Ebenfalls hier zu bestaunen. Meute beschimpft zuvor verehrten Judas, a riot act!) werden dabei zwar stets „nietzscheanisch“ getragen, doch wird ebenso – analog zur Nietzsche Rezeption – die darin situativ inhärente Ambiguität verhandelt. Es ist nicht eindeutig zu bestimmen, was Dylan genau provozieren wollte. Nietzsche polemisierte beispielsweise in „Die Geburt der Tragödie“: „Brummt nicht ein Grundbass von Zorn und Vernichtungslust unter aller ihrer contrapunktischen Stimmen – Kunst und Ohren – Verführerei hinweg, eine wüthende Entschlossenheit gegen Alles, was ?jetzt' ist, ein Wille, welcher nicht gar zu ferne vom praktischen Nihilismus ist und zu sagen scheint lieber mag Nichts wahr sein, als dass ihr Recht hättet, als dass eure Wahrheit Recht behielte!" (7)

Gerade weil Bob Dylan verbal nie so berechnend rebellierte oder sich politisch für irgendwelche stereotypen Populismen spannen ließ, glaubt man ihm seine Subversivität, die Echtheit in seiner Egomanie – obwohl auch die erst durch den Einfluss anderer wachsen konnte. Die sturmhafte Eroberung der Intellektuellenszene von Greenwich Village in Manhatten (ab ca.1961) wäre zum Beispiel ohne u.a. Alan Ginsbergs, Jack Kerouac oder Dylans Interesse für die Werke des angesagten Poeten Rimbauds so nicht möglich gewesen. Besonders politisch wird über den Meister fast kontrovers diskutiert: Irgendwo zwischen linkem Intellektuellen und politischem Zaungast oszillierte er wohl, teilweise heftig kritisiert (Joan Baez, aber hier noch leise) oder gar milde freundschaftlich belächelt (Dave Van Ronk). Scorsese belässt es auch hier nur bei kurzen Fragmenten und Kommentaren Dylans. Ist es doch zwischen Kommunistenverfolgung, Rassismus und Vietnam ein doch zu weites Feld. Das Feld der Politik steckt auch die Grenzen der Musik in gewisser Weise ab: „Auf der Seite von Menschen zu stehen, die für etwas kämpfen, bedeutet nicht unbedingt, dass man politisch ist.“

Der Film bleibt aber nicht nur bei Dylans Musik. Er versinkt in einer Sequenz immer mehr in seiner Schreibmaschine, arbeitet regelrecht an Ausdrucksformen auch neben der Musik. Auch hiervon spricht er nicht selbst im Interview. Joan Beaz, als damaliger Superstar nicht nur musikalisch eine seiner wichtigsten Musen, äußert sich in einer Szene amüsiert über Dylans Aussagen zu einigen seiner Texte ihr gegenüber:

„Pass auf, in ein paar Jahren werden all diese Leute, all diese Arschlöcher über den ganzen Mist, den ich schreibe, schreiben. Ich weiß nicht, wo zum Teufel das herkommt. Und sie werden über das schreiben, worum es geht.“

Allein die Szenen, in denen Dylan mit eben diesen seinen Interpreten spricht, ihnen vielmehr entrinnt, skizzieren auch die Anfänge des penetrierenden Musikjournalismus und dessen Sucht nach „heuristischer“ Existenzberechtigung. In einer Sequenz weigert sich der Star, wie ein Star an seiner Brille zu lutschen. So gilt diese Dokumentation natürlich nicht nur Dylan, sie ist auch mitreißende Geschichtsschreibung: Die schwierige, weil viel zu kleine Konzertszene der 50er und 60er, die skurrilen Poetevents, Auftritte von Musikern in Fernsehshows, gelegentlich Politik, Arbeit von Management und Plattenfirmen. Gekürzte und die einzelnen Kapitel verbindende Liveauftritte werden zumeist abrupt begonnen und unterbrochen. Scorsese will in einem, wenn auch hier durch die rauhen und unscharfen Amateuraufnahmen meist interessant–verzerrten, Konzertfilm nicht bekannte Hits verschleudern, sondern benutzt die Songs als Folie für Dylans Emotionen zwischen Energie und Erschöpfung. Die Zeit steht hier phasenweise cineastisch still, bekannte Semantik, die Routine des Wortes wird durch Zeit gebrochen: „Man kann vieles tun, mit dem die Zeit still zu stehen scheint, aber in Wirklichkeit tut sie das nicht.“

Das Ende markiert Dylans Motorradunfall vom 29.7.1966, der ihn einige Zeit – in mehrfacher Hinsicht – außer Gefecht setzen sollte. Von Scorsese fast wie ein Epitaph inszeniert, fast zu sakral. Ein weiterer Mythos, hier jedoch nicht mehr weiter vertieft. Kurz: Dylan kann nicht singen, er sieht nicht gut aus, er spielt nur verkrampft Gitarre, er ist nicht so groß wie Johnny Cash (gegen Ende des Films mit Dylan in einer anmutigen Studiosession zu bewundern), er redet vor den Journalisten nur am Thema vorbei, er ist nicht konkret politisch, schreibt aber Protestsongs, andere Bands nahmen seine Songs mitreißender und erfolgreicher auf (darüber wird ausgiebig in Bild und Ton räsoniert) und zuletzt – so Zyniker – kann er nicht mal Motorrad fahren. Einiges davon stimmt, aber was? Genau das müssen wir auch nach dieser Dokumentation selbst entscheiden. Und genau damit demaskiert Scorsese seine überragende Dokumentation ganz schamlos als das, was ist: eine gefühlte Intuition, umspielt mit Aussagen und Zitaten, verhüllt in Fakten und Bildern.

Er hat uns in 200 Minuten soviel von der Legende Bob Dylan gezeigt, wie wohl nie eine vergleichbare Dokumentation über den Meister des Folk zuvor, und es wurde trotzdem keine viel zu lange und vereinzelt verkitschte Messe wie die „Anthologie“ der Beatles. Scorsese hat Dylan verstanden, indem er nicht versucht hat, ihn verständlich zu machen. Genau wie Dylan selbst in seiner vagen, herrlich approximativen, nie in den eigenen Duktus verliebten oder inhaltlich verlorenen Autobiographie. Dass dieser erste Teil der Chronik, wie die Numerierung „Chronicles Volume 1“ bereits stichhaltig nahelegt, ungefähr 40 Jahre umspannt, ist kein Widerspruch, sondern basale Voraussetzung des Dylanismus – man kann und darf die Dinge auch gerne anderes sehen, Fortsetzung folgt.

Somit ist Dylan auch gelebte Dekonstruktion par excellence, weil er uns selbst teilweise die Ambivalenz eines Künstlers zwischen Kunst und Deutung vorführt. In einer Zeit, in der wir uns einreden, alles beobachten und meist desavouieren zu müssen, erfüllt Dylan eine Sehnsucht nach scheinbar endgültig Verborgenem. Selbst in der Kritik an der mechanischen Folkszene Mitte der 60er, die Dylan in nur wenigen Worten abtropft, grinst sie (wenn auch nicht in Dylans faltigem Gesicht) heraus, die kleine Lust am Provozieren. Man muss danach aber innerhalb des Filmes genauso akribisch suchen wie nach der Unordnung in der oberflächlichen Grazie der Bilder ab ca. 1963, die nur in den Umkleideszenen durchschimmert.

Also was haben wir wirklich gelernt? Den Dylan als Musiklegende zu lieben? “I just want to go home.“ Da können wir ja gleich mit Bären fechten.


„No Direction Home – Bob Dylan“: USA 2005; Regie: Martin Scorsese; Darsteller: Bob Dylan, Joan Baez, Alan Ginsberg u.a.;

Fußnoten

  1. Dylan, Bob (2004): Chronicles Volume One. Ins Deutsche übersetzt von Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Hamburg: Hoffmann und Campe. S. 11. (zurück)
  2. Ebd. S. 304. (zurück)
  3. Nachzulesen in den Ausgaben 11/2004 (Alben) und 4/2005 (Songs) (zurück)
  4. Dylan (2004): Chronicles. S. 121. (zurück)
  5. Marcus, Greil (2005): Bob Dylans Like a rolling stone. Köln: Kiepenheucher&Witsch. (zurück)
  6. Siehe RollingStone, Ausgabe 12/2005. S.107. (zurück)
  7. Nietzsche, Friedrich (1999): Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Richard Wagners. München: DTV. (zurück)


Verfasser: Alexander Schlicker, veröffentlicht am 06.10.2006

 

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