Daniel Wüllner

Pirates of the Caribbean: Eine Trilogie als (Neo-)Barocker Kreislauf

Abstract: Während die Mehrzahl der Literaturwissenschaftler die Postmoderne, oder sogar schon die Post-Postmoderne, als Erklärungsmodell für zeitgenössische Texte verwenden, greifen andere Wissenschaftler die Möglichkeit des Barock im Zeitalter der Moderne auf. Die daraus resultierende Ästhetik ist die des Neobarock, die sich zwar auf ihren historischen Vorgänger beruft, diesen aber gerade wegen seiner antiquierten Stilistik ablöst. Um ein solches neues Literaturkonzept zu etablieren, bedarf es der Analyse von Primärtexten, die dieses Erklärungsmodell rechtfertigen. Ein solcher Text ist Gore Verbinskis Pirates of the Caribbean-Trilogie, die nicht nur ein Verbindungsglied zwischen barocker und neobarocker Ästhetik darstellt, sondern das Spektrum der neobarocken Theorie erweitert.

 

Neobarocke Anfänge

Ein Gespenst geht um in der heutigen Unterhaltungsindustrie – das Gespenst des Neobarock. Die Variante des Zitats von Karl Marx und Friedrich Engels ist hier, zwar nicht aufgrund von politischen Bezügen, wohl aber aufgrund der geisterhaften und dennoch unübersehbaren Präsenz dieses Phänomens in der gegenwärtigen Medienlandschaft, sinnvoll. Während vor allem amerikanische Literaturwissenschaftler bereits seit einiger Zeit nach der Post-postmoderne suchen, weisen andere Wissenschaftler wie Massimo Ciavolella und Patrick Coleman in ihrem Band Culture and Authority in the Baroque auf eine andere Tendenz hin: „Baroque is back“. 01 Sie bemerken die Existenz eines neuen Diskurses, des Neobarocks, in den verschiedensten geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Hier seien Deleuzes Philosophie, Escobars Studien zur Architektur und Ndalianis Forschung bezüglich der heutigen Unterhaltungsindustrie zu erwähnen, um nur einige wissenschaftliche Felder zu benennen, in denen dieser neue Diskurs eine Rolle spielt. Während Neobarock als mögliches Erklärungsmodell für zeitgenössische Formen an Relevanz gewinnt, ist es dennoch immer wieder vonnöten, mittels Analysen diesen geisterhaften Begriff von seiner problematischen Herkunft zu lösen und im gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurs zu etablieren.

Gerade die Verwandtschaft mit dem Barock, der letzten gesamteuropäischen Kunstepoche, birgt Gefahren bei der Benutzung dieses neobarocken Modells. Obwohl der Barock im 17. und 18. Jahrhundert in den Künsten allgegenwärtig zu sein schien, existiert bis zum heutigen Tag keine exakte Definition, durch die sich Texte eindeutig als „barock“ bestimmen lassen. Seine Vormachtstellung als Kunstepoche verliert der Barock vor allem durch die einsetzende Aufklärung. Im Gegensatz zu anderen literarischen Erklärungsmodellen wurde eine erneute Benutzung oder gar ein Wiederaufleben des Barock in der Literaturtheorie – als Erklärungsmodell für zeitgenössische Literatur – bis heute nicht angedacht. Während die Postmoderne, der nächste Verwandte des Neobarock, immer nur in Bezug auf die Moderne zu lesen sein wird, muss das Verhältnis von Barock und Neobarock differenzierter betrachtet werden. Das beginnende Zeitalter der Moderne stellt für die Konzepte des Barock eine scheinbar unüberwindbare Hürde dar, welche die Überführung eines Barockdiskurses in die Gegenwart zu einem komplexen Unterfangen werden lässt. 02 Mit dem Begriff des Neobarock soll also keine Übertragung des Barock ins Zeitalter der Moderne durchgeführt werden, keine Kontinuität erzeugt werden. Vielmehr lassen sich durch den Neobarock zeitgenössische Phänomene beschreiben, wobei aber die formalen Strukturen im Gegensatz zum Barock sich unserer heutigen Zeit angepasst haben.

Um dieser Problematik aus dem Weg zu gehen, wählen Geisteswissenschaftler zu Untersuchungen des Neobarock den Ansatz des kubanischen Literaturwissenschafters Severo Sarduy. Dieser entwickelte Mitte der 70er Jahre ein Konzept des Neobarock, das durch die Literatur Lateinamerikas Muster des spanischen Barocks zur Zeit der Kolonialisierung aufgreift und reflektiert. Hierbei bezieht sich Sarduy vor allem auf die obsessive Benutzung des Illusionismus im Barockzeitalter und das Hinterfragen der Realität. Diese Verfahren untersucht der Kubaner anhand der metafiktionalen Romane von Carlos Fuentes, Jorge Luis Borges und Gabriel Garcia Marquez. Vor allem Motive wie das Labyrinth als Emblem der multiplen Stimmen, die inhärente Selbstreflexivität und der magische Realismus kommen in diesen Romanen zum Tragen. 03 Durch solche Verfahren, so Sarduy, kritisieren die Autoren des Booms der lateinamerikanischen Literatur die spanische Kolonialisierung, arbeiten auf diese Weise an einer Aufarbeitung von Geschichte und suchen nach einer eigenen lateinamerikanischen Identität.

(Neo-) Barocke Ästhetik

Bevor man sich in die unwegsamen Gewässer des Neobarock begibt, sollten zunächst einmal die ‚klassischen’ Stilelementen des Barock als Grundlage betrachtet werden. Hierzu werden immer wieder die Studien des Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin herangezogen, der 1888 Renaissance und Barock veröffentlichte, eine Studie über die italienische Architektur von Borromini und Bernini. In dieser Studie weist Wölfflin auf das Ende der Epoche der Renaissance und den Neubeginn von etwas gänzlich Anderem, einem malerischen Stil in der Architektur, hin – dem Barock. Für diesen Stil macht er in der Architektur folgende formale Kriterien aus: das Ornament, die Monumentalität und den Fokus auf Bewegung. Diesen Katalog ergänzt Wölfflin durch die Möglichkeit der intermedialen Übertragung in andere Künste, wie z.B. die Malerei, aber auch die Literatur. Ein Beispiel, auf das Literaturwissenschaftler im 20. Jahrhundert immer wieder eingehen, ist Wölfflins Vorschlag, die Unterschiede zwischen Renaissance und Barock in der Literatur exemplarisch an Ariostos Orlando Furioso (1516) und Tassos Gerusalemme liberata durchzuführen.

Um 1920 ist es dann vor allem die Germanistik, die den Begriff des Barock als Erklärungsmodell für die deutsche Literatur im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert zu verwenden beginnt. Sie ergänzt den Katalog der barocken Stilmittel nicht nur durch die Allegorie und die Antithese, sondern beschreibt die Verbindung dieser stilistische Elementen mit den thematischen Aspekten der Epoche, ohne die ein barocker Text kaum denkbar wäre: die Gegenreformation, die Beschäftigung mit dem Jenseits und Motti wie das „Carpe Diem“ und das „Memento Mori“. Mit der Epoche der Aufklärung treten diese Gedanken an das Jenseits in den Hintergrund, während Fragen über das Ich, das aufgeklärte Individuum in den Vordergrund treten. Wie kommt man dann zu den Überlegungen, diese Form im Zeitalter der Moderne wiederzubeleben?

Einer der ersten, der von einer neobarocken Ästhetik spricht, ist Umberto Eco. In seinem Aufsatz „Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien“ bezeichnet der Semiotiker die Wiederholung als genuines ästhetisches Konzept. Diese Tatsache macht er an der Rezeption von Fernsehserien fest. Warum, fragt sich Eco, finden Zuschauer Interesse an einer Serie, die sich scheinbar endlos in einer temporalen Schleife bewegt und keine narrativen Wechsel aufweist, um Spannung zu erzeugen? Eco kommt zu dem Schluss, dass gerade das Erkennen und Verstehen dieser Wiederholungen die neobarocke Ästhetik ausmacht. Er fordert für diese Ästhetik, dass „wir uns ein Universum neuer Konsumenten vorstellen, die nicht daran interessiert sind, was J.R. Ewing tatsächlich passiert, sondern angestrengt versuchen, den neobarocken Genuss, den die Form seiner Abenteuer liefert, zu erhaschen“. 04 Dennoch bietet Eco mit seinem Ansatz keine ausführliche Beschreibung dieses Konzepts.

Die erste ausführliche Studie zu neobarocker Ästhetik liefert Ecos Kollege Omar Calabrese. Calabrese führt in seinem Neobaroque: A Sign of the Times eine rein formalistische Analyse durch. Obwohl er versucht, die Begriffe des Barock in das Zeitalter der Moderne zu übertragen, ohne dabei von einer Fortsetzung zu sprechen, nutzt Calabrese vor allem die Gegensätzlichkeiten, die Spannungen, die dem Barock innewohnen. Diese spiegeln sich in der Einteilung seiner Kapitel wieder. So titelt Calabrese mit gegensätzlichen Begriffen wie „Limit and Excess“ und „Detail and Fragment“. Die Benutzung solcher Begriffspaare zeigt schon, dass sich der Neobarock – ähnlich wie sein Vorgänger – durch eine inhärente Spannung auszeichnet. Im Gegensatz zum Barock weist Calabrese auf die Besonderheiten der neobarocken Form hin: „forms that display a loss of entirety, totality, and system in favor of instability, polydimensionality, and change.“ 05 Obwohl sich ähnliche Strukturen auch bei der Postmoderne ausmachen lassen, bezeichnet Calabrese letzteres als mittlerweile zu allegemeines Programm zur Darstellung zeitgenössischer Texte. Obwohl Calabreses formalistische Ausrichtung zu einer Zeit multimedialer Kontexte etwas eingeschränkt wirkt, sind seine Studien für die Neobarockforschung unerlässlich.

Eine sinnvolle Erweiterung von Calabreses Konzept des Neobarock liefert Angela Ndalianis in ihrem Werk NeoBaroque Aesthetics and the Contemporary Entertainment. Obwohl bereits Calabreses Verwendung von Beispielen einen Rahmen für die Analyse von neobarocken Kunstwerken geschaffen hat, geht Ndalianis einen Schritt weiter: Während Calabreses strikt formalistische Herangehensweise nicht an einer Kontinuität des Barockbegriffs in die Gegenwart interessiert ist, entwickelt Ndalianis gerade durch das Aufzeigen der Parallelen zwischen Neobarock und seinem historischen Vorgänger die Möglichkeiten, die das Erklärungsmodell für die Gegenwart bietet. Ihre Beispiele erklären sich scheinbar von selbst. So stehen neben Miguel Cervantes selbstreflexivem Meisterwerk Don Quijote gleichberechtigt die Erzählstrategien der Star Wars-Trilogie und deren Vorgänger, Episode I-III. Entscheidend an Ndalianis Analysen sind nicht die von Calabrese bevorzugten textimmanenten Strategien, sondern vor allem die vertikale Vernetzung von Texten, wie am Beispiel von Jurassic Park 06 gleich zu Beginn ihres Bandes deutlich wird: „new convergences between diverse entertainment media – comic books, computer games, theme park attractions, and television programs.“ 07 Hier wird der erste Film nicht nur durch zwei Fortsetzungen erweitert, sondern durch zwei Computerspiele und einen Vergnügungspark ergänzt. Die Narration ist somit nach den Filmen nicht abgeschlossen. Es entsteht ein offenes, polyzentrisches Textkonstrukt. Weitere Merkmale des Neobarock beschreibt Ndalianis wie folgt: “new contexts, contexts that incorporate a further economization of the classical narrative form, digital technology, cross-media interactions, serial forms, and alternate modes of spectatorship and reception”. 08

Obwohl Beispiele wie Star Wars und Jurassic Park Ndalianis Argumente für neobarocke Formen treffend belegen, möchte ich ihre Analyse durch einen anderen Primärtext erweitern. Ein Beispiel für eine weitergehende Analyse eines solch neobarocken Erzählmodells bietet Gore Verbinskis Trilogie Pirates of the Caribbean. In seinen Filmen vermischen sich neobarocke Strategien mit der klassischen Stilistik und den dazugehörigen Themen des Barock.

Piraten des Barock

Alle drei Filme der Trilogie erzählen von den Abenteuern einer Gruppe von Piraten im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert. Es ist eben diese Epoche, die in Europa als Zeitalter des Barock bekannt wurde. Doch wie der Titel der Trilogie bereits deutlich macht, spielen diese Abenteuer nicht am Hof von Ludwig dem Vierzehnten, sondern in der Karibik (respektive im indischen Ozean, siehe dritter Teil). Die Trilogie ist konzentrisch um ihren Protagonisten, den Piratenkapitän Jack Sparrow (Johnny Depp), konstruiert. Die Abenteuer entwickeln sich von der klassischen Schatzsuche in Teil eins bis zur Verteidigung der Weltmeere in Teil drei. Was macht diese Piraten-Trilogie zu einem (neo-)barocken Werk? Auf den ersten Blick scheinen die weißgepuderten Perücken und die reich dekorierten Kostüme der englischen Edelmänner die einzige Anspielung auf den klassischen Barock zu sein, doch bei näherer Betrachtung eröffnet sich eine Vielzahl (neo)-barocker Strukturen, die in die Filme eingearbeitet sind.

Während Seeschlachten, die eigentlich über Leben und Tod entscheiden sollten, einen großen Teil der Handlung einnehmen, tendieren die Figuren in der Pirates-Trilogie dazu, von den Toten immer wieder aufzuerstehen oder trotz tödlicher Verwundungen einfach nicht sterben zu wollen. Im ersten Teil der Trilogie, Pirates of the Caribbean: The Curse of the Black Pearl, wird die Geschichte des Antagonisten, Kapitän Barbossa, und seiner verwunschenen Crew erzählt, die wegen des Diebstahls von Aztekengold zu untotem Dahinvegetieren verflucht wurden. Sparrows ehemalige Besatzung versucht diesen Fluch aufzuheben, doch nicht etwa um ihre verdiente Ruhe zu finden, sondern um mit ihren erbeuteten Reichtümern weiterzuleben. Das Finale des ersten Films, das bezeichnenderweise auf der Isla de la Muerte stattfindet, spielt mit dieser Idee der Unsterblichkeit. So wird auch Jack Sparrow für kurze Zeit untot, nur um dann festzustellen: “’The Immortal Jack Sparrow.’ It has such a lovely ring to it…” Sein Äußeres – der Mondschein entlarvt die Unsterblichkeit als Fluch, der seine Betroffenen zu Skelettwesen werden lässt – kommentiert Sparrow ironisch: „and it’s not a really bad look ...“. Der Showdown des ersten Teils endet mit seiner Rückverwandlung und dem scheinbar endgültigen Tod von Kapitän Barbossa. Die Suche nach der Unsterblichkeit wird zum entscheidenden Motiv in allen drei Filmen. Doch diese Suche ist wie ihr Ziel selbst eine vergebliche, denn, wie bereits beschrieben, stirbt in der empirischen Welt von Pirates keiner der Protagonisten.

So ist es nur eine Frage der Zeit, bis Barbossa am Ende des zweiten Films Pirates of the Caribbean: Dead Man’s Chest wiedererweckt wird, um den nun toten Jack Sparrow zu finden. Dieser wiederum stirbt am Ende des zweiten Films und bewegt sich im dritten Film, Pirates of the Caribbean: At World’s End, in Davy Jones’ Locker, einer Form von Jenseits, das durch ein weißes Paralleluniversum dargestellt wird. Dort ist Sparrow zu ewiger Verdammnis verurteilt, umgeben nur von Doppelgängern seiner Selbst, die ihn in den Wahnsinn treiben. Wie durch ein Wunder gelingt es Sparrow in dieser Jenseitswelt seine Besatzung wiederzufinden, die, angeführt von Kapitän Barbossa, auf der Suche nach ihm ist.

Es ist aber nicht nur der Held der Trilogie, Sparrow, der mit dem Jenseits kämpft; auch die Existenz seines Rivalen Barbossa ist gekennzeichnet durch das Wiederauferstehen vom Tod. Der Ausspruch von Barbossa im dritten Teil der Trilogie: “Die and it’s a day worth living for“ wird so in Anbetracht der Vorgeschichte nicht zur perfekten Verbindung aus den Motti Carpe Diem und Memento Mori, sondern weist in humoresker Manier auf die unmögliche Vermischung dieser beiden Konzepte hin. Dieses Spiel um Leben und Tod wird in allen drei Filmen zum Leitmotiv, jedoch nicht in der Form der drohenden Auslöschung der Existenz, sondern vielmehr als belustigendes Spiel, bei dem der Sieger die Unsterblichkeit erlangt. Diese Art des Humors lässt sich auf den Barock zurückführen: Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky beschreibt diese Form der Komik, die sich darauf gründet, dass „jemand begreift, dass die Welt nicht ganz das ist, was sie sein sollte, ohne sich darüber zu ärgern oder zu meinen, er selbst sei frei von Hässlichkeiten und den großen und kleinen Lastern und Dummheiten, die er beobachtet.“ 09 Sie bietet dem Individuum eine „imaginative Überlegenheit und Freiheit“. 10 Die Furcht vor dem Tod fällt also sowohl von der Figur des Barbossa, aber mehr noch von der Figur Jack Sparrow ab. Es ist das Leben, das beide fürchten, und das sie zur Suche nach der Unsterblichkeit antreibt. Neben der Beschäftigung mit dem Jenseits werde ich nun auf die Präsenz anderer Elemente des Barock wie z.B. der Antithese hinweisen.

Nachdem die Mannschaft im dritten Film in Davy Jones’ Locker wieder vereint ist, müssen sie aber immer noch aus der Welt dieser Untoten entkommen. Eine Legende im Film besagt: Wenn sich ein grünes Licht am Sonnenuntergang zeigt, so werden die Toten wieder auferstehen. Das Schiff fährt jedoch auf den Sonnenaufgang zu. Einer der Piraten kommentiert treffend: „Sunrises don’t set“. Doch in der Welt von Jack Sparrow tun sie das; die Rettung liegt in der Antithese begründet. Während alle andere Seeleute hilflos der Sonne beim Aufgehen zusehen, philosophiert Sparrow vor sich hin: „Up is down. That is just maddening the unhelpful. Why don’t these things ever clear?” Doch dann vollzieht sich die Umkehr von Leben und Tod im Film auf die simpelste Art und Weise: das Schiff, die Black Pearl, wird umgedreht. Durch das Aufschaukeln des Schiffes dreht es sich komplett, so dass sich das Deck und die Masten unter Wasser, der Rumpf aber über Wasser befinden. Die zuvor noch hektische Musik weicht dabei sphärischen Unterwasserklängen. Durch diese Umkehr von Oben und Unten sieht die Mannschaft nun den Sonnenaufgang als Sonnenuntergang, und mit ihm das grüne Leuchten. Nur wenige Augenblicke später tauchen Schiff und Besatzung wieder in der Welt der Lebenden auf. Ähnlich wie in diesem Beispiel nutzt Verbinski an weiteren Stellen dieses stilistische Mittel der Antithese. Allein diese Häufung von barocken Stilmitteln und der dazugehörigen Thematik würden schon ausreichen, um die Trilogie als barocken Text zu klassifizieren, doch spielen neben den barocken Elementen in den Filmen auch neobarocke Formen eine entscheidende Rolle.

Neobarocke Piraten

Um zu verstehen, warum ein Film, der barocke Stilelemente benutzt und auf die Thematik des Barockzeitalters zurückgreift, gleichzeitig ein neobarocker Text sein kann, muss man die Trilogie von ihrem Ende aus betrachten. So wird der Tod des Antagonisten aus Teil zwei und drei, Lord Cutler Beckett (Tom Hollander), dem Befehlshaber der East India Trading Company, zu einem visuellen Effekt-Spektakel. Nach Ndalianis kann man diese pompös dargestellten Schlachten und durch special effects unterstützten Seekämpfe als neue Form der barocken Monumentalität begreifen: Nachdem Beckett, schockiert von seiner Niederlage, kampflos aufgibt, wird sein Schiff von beiden Seiten bombardiert, so dass es sich komplett auflöst – die einzige Art und Weise, Verbinskis Universum ein für alle mal zu verlassen. Während alle seine Gefolgsleute von der Explosion durch die Luft geschleudert werden, geht ihr Kapitän ein letztes Mal die Treppe zum Deck hinunter. Durch die dann folgende Zeitlupe kann der Zuschauer jeden einzelnen Holzspan des Schiffes an ihm vorbeifliegen sehen. Erst als der Antagonist das Ende der Treppe und somit die Position der Kamera erreicht hat, taucht er in ein Meer von Explosionen. Der Zuschauer folgt dieser Szenerie und ist “attracted to the visual and the sensorial seductiveness“. 11 In einem solchen Effektspektakel zeigt sich Ndalianis Konzept der neobarocken Ästhetik unserer heutigen Unterhaltungsindustrie.

Ein weiterer Aspekt, der auf einen Bruch mit den klassischen Erzählkonventionen des Hollywoodkinos hinweist, ist die sich ausdehnende Figurenkonstellation in der Trilogie. Während bereits der erste Teil neben Johnny Depp als Kapitän Jack Sparrow mit Orlando Bloom als William Turner und Keira Knightley als Elizabeth Swann aufwartet, wird in den folgenden beiden Filmen diese Riege durch eine Vielzahl gleichberechtigter Hauptfiguren aufgestockt. Auch die Rollen der Antagonisten werden in allen drei Filmen ständig neu besetzt, was der Figurenkonstellation eine Form von Dynamik gibt, die sich mit klassischen Hollywoodfilmen nicht vergleichen lässt. Diese Strategie setzt sich in der Anwesenheit von gleich zwei Comedy Relief-Paaren fort.

Diese Vielzahl an Figuren hat aber auch zur Folge, dass mehrere Kombinationen von Dialogen möglich sind. Mit der steigenden Anzahl der Figuren nehmen von Film zu Film die Unterhaltungen an Fahrt auf: Während die Dialoge im ersten Teil aus Verhandlungen zwischen zwei Figuren bestehen, debattieren in den beiden folgenden Filmen Gruppen von Figuren, deren Gesinnungen sich aber im Verlauf dieser Verhandlungen ständig ändern. Dem Zuschauer obliegt die Aufgabe, das labyrinthartige Konstrukt aus Versprechungen, Verhandlungen und Abmachungen zu verfolgen und aufzulösen. Hier dient Jack Sparrow als das verbindende Glied innerhalb der Handlung. Während er im ersten Film allein die Dialoge dominiert, beginnen im zweiten und dritten Film die Nebenfiguren ihre eigenen Verhandlungen zu führen und somit die Vernetzung der Dialoge zu erweitern und zu komplizieren. Auf diese Weise wird eine Form der Gleichberechtigung geschaffen, die noch im ersten Teil wegen des sehr dominanten Jack Sparrow unmöglich war. Deutlich wird dies in den Seeschlachten, in denen die Kanonen erst dann abgefeuert werden, wenn alle wichtigen Akteure ihr „Fire!“-Kommando gegeben haben. Der entscheidende Aspekt in diesem Konstrukt lässt sich mit Panofskys Beschreibung der Architektur des Barock vergleichen. Panofsky beschreibt diese als einem „harmonisierenden Konflikt“ unterworfen, 12 der zwar Spannung aufwirft, die sich aber in sich selbst auflöst. Ein Beispiel für einen solchen Konflikt der Figuren in der Pirates-Trilogie bietet ein Mexican standoff im dritten Teil: Nachdem das Piratenschiff wieder aus dem Reich der Toten aufgetaucht ist, stehen sich die Protagonisten mit feuerbereiten Pistolen gegenüber und verhandeln über das weitere Vorgehen. Diese eigentlich spannungsgeladene Verhandlung löst sich zum Ende in Wohlgefallen auf, da das Schwarzpulver aller Kontrahenten nass und somit unbrauchbar geworden ist.

Die Form unserer heutigen Unterhaltungsindustrie, so Ndalianis, bietet gerade wegen ihres Netzwerks an Texten einen entscheidenden Aspekt für den Neobarock: die Intertextualität. Obwohl dieses literarische Verfahren bereits im 17. Jahrhundert vereinzelt an Cervantes Don Quijote auszumachen ist, kann sie ihr Potential erst im Zeitalter der Moderne voll entwickeln. So wird zum Beispiel im dritten Film das Western-Genre kopiert: bevor die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse ausgetragen wird, treffen sich die Protagonisten auf einer kleinen Insel, die gerade groß genug ist, um den klassischen Showdown des Western zu inszenieren. Entscheidend ist hier aber nicht die spezielle Anspielung auf das Westerngenre an sich, sondern vielmehr die Möglichkeit, das Vorwissen der Zuschauer aktiv zu nutzen. Dieses Wissens bedient sich Verbinski aber noch expliziter in der Erzählstruktur der Trilogie. So tauchen in allen Filmen immer wieder Anspielungen zu sea-turtles auf, die Sparrow von einer einsamen Insel gerettet haben sollen. Was im Falle der sea-turtles zunächst nur als blosser running-gag genutzt wird, wird im Verlauf der Handlung immer zentraler. So bedient sich Sparrow bewusst der von William Turner angewandten Hebelwirkung („leverage“) aus dem ersten Film, um auf dieselbe Weise einem Gefängnis im dritten Film zu entkommen. Eine solche inhaltliche Vernetzung regt den Zuschauer an, aktiver am Geschehen im Film teilzunehmen. Hier zeigt sich der neue Typ des Rezipienten, den Eco und Ndalianis fordern. Eine Weiterführung solcher Gedanken bietet sich für die Untersuchung der Narrationsstruktur der gesamten Trilogie an.

Neobarocke Unendlichkeiten

An dieser Stelle möchte ich auf neobarocke Erzählstrukturen eingehen. Während Ndalianis von Kirsten Thompsons Annahme, dass heutige Filme genau den klassischen Hollywood-Konventionen entsprechen, ausgeht, muss diese These im Hinblick auf die Narrationstruktur der Pirates-Trilogie überdacht werden. Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich die Pirates-Trilogie nämlich von Filmen wie Star Wars oder Jurassic Park. Obwohl Ndalianis zu Recht auf ein „hidden beginning“ in neobarocken Texten hinweist, 13 nutzt Verbinskis Trilogie Elemente, die über diese simple Form der Anspielung auf die Vergangenheit hinausgehen. So lässt sich in Pirates of the Caribbean nicht nur von einem „hidden beginning“, sondern auch von einer „hidden future“ sprechen. Dieses Konzept von Vergangenheit und Zukunft steht im Zentrum der Erzählung.

Der erste Film Pirates of the Caribbean: The Curse of the Black Pearl (2003) wurde zunächst als eigenständiger Film konzipiert. Es handelt sich also um einen abgeschlossenen Text, der mit der Aufhebung des oben beschriebenen Fluchs endet. Nachdem Barbossa besiegt ist und Sparrow die Black Pearl zurückgewinnt, endet der Film. Doch bereits hier führt Verbinski zum Ende des Filmes einen Verweis auf einen möglichen zweiten Teil in Form eines to be continued ein. Nach dem Abspann fügt Verbinski noch eine weitere Szene hinzu, die außerhalb der Handlung steht, aber dennoch ein Teil von ihr ist und sie erweitert: Am Ort des Showdowns taucht die eher unbedeutende Figur des Piratenäffchens auf, die den Fluch scheinbar wieder aufs Neue beschwört. Dieses Verfahren, auf eine mögliche Fortsetzung hinzuweisen ist in den letzten Jahren zu einem typischen Motiv geworden, obgleich eine solche Fortsetzung immer abhängig von dem kommerziellen Erfolg des Filmes ist.

Im Falle von Pirates of the Caribbean ist dieser Erfolg gegeben, weshalb drei Jahre später Pirates of the Caribbean: Dead Man’s Chest (2006) erscheint. Im Gegensatz zum ersten Teil handelt es sich bei diesem Film um eine klassische Fortsetzung, einem Mittelteil der gesamten Erzählung der Trilogie, wenn man so will. Während die Protagonisten dieselben bleiben, wird die Riege der Figuren um den untoten Davy Jones (Bill Nighy) und den oben bereits erwähnten Antagonisten Lord Cutler Beckett erweitert. In diesem Segment der Handlung wird sowohl auf Geschehnisse angespielt, die sich im ersten Film zugetragen haben, als auch auf einen Konflikt zwischen Sparrow und beiden Antagonisten, die diesem vorausgeht, einem „hidden beginning“ also. Doch auch die Zukunft wird im zweiten Teil beleuchtet. So lassen sich versteckte Anhaltspunkte für eine „hidden future“ finden: Dazu gehören die zwei Medaillons von Tia Dalma (Naomie Harris) und Davy Jones, die Verbinski nutzt, um auf den dritten Teil hinzuarbeiten. Während der erste Film als abgeschlossener Text gelesen werden muss, endet der zweite Film mit dem Anfang seines Nachfolgers, dem dritten Teil der Trilogie. Hier werden sowohl die Protagonisten als auch die Zuschauer auf die Notwendigkeit der Fortsetzung hingewiesen, da die Erzählung ja nicht mit dem Tod ihres Protagonisten, Jack Sparrow, abgeschlossen werden kann. Auch hier gibt es eine Szene, die erst nach dem Abschlusstitel gezeigt wird. Doch während im ersten Film noch heimlich auf die Möglichkeit einer Fortsetzung der Reihe angespielt wird, nutzt Verbinski diesen Raum lediglich für einen Gag.

Erst der dritte Film Pirates of the Caribbean: At World’s End (2007) ermöglicht den Abschluss einer Vielzahl von parallellaufenden Handlungssträngen. Die Handlung des Filmes setzt an einem Ort ein, der dem Zuschauer nicht vertraut ist – der Schauplatz der Geschichte hat in den indischen Ozean gewechselt. Obwohl dieser Anfang überraschend scheint, ist der dritte Film der direkte Anschluss an Teil zwei. Die Geschichte setzt dort ein, wo der Zuschauer Barbossa und die Mannschaft im zweiten Teil verlassen hat. Der dritte Film klärt viele Fragen aus denen ersten beiden Filmen und erläutert auch die Geschichten um viele der „hidden beginnings“. Eine Frage bleibt aber bislang unbeantwortet: Was steht am Ende einer solchen neobarocken Erzählung?

Ausblick

Am Ende des dritten Teils bilden die Protagonisten eine ähnliche Konstellation wie im ersten Film: Kapitän Barbossa und seine Mannschaft an Bord der Black Pearl und Kapitän Jack Sparrow, wieder einmal ohne sein Schiff, nur mit einem kleinen Ruderboot ausgestattet – dem gleichen Schiff, mit dem Sparrow im ersten Film in so heldenhafter wie grotesker Weise im Hafen anlegt. Wieder verbindet alle Figuren ein gemeinsames Ziel: die Unsterblichkeit. So ist die Frage, wie eine neobarocke Erzählung endet, einfach zu beantworten: mit ihrem Anfang. Verbinski hat mit Pirates of the Caribbean einen Text geschaffen, in dem sich typische Elemente des Barock mit neobarocken Strategien vereinen. Die Spekulationen auf einen möglichen vierten Teil tun diesem Konzept des zyklischen Erzählens nicht unbedingt Abbruch, da Verbinski selbst zum Ende des dritten Films die Geschichte weiterspinnt und den „Brunnen des ewigen Lebens“ als neues Ziel festlegt. Somit hat er schon vor den beginnenden Verhandlungen zu einer weiteren Fortsetzung den Rahmen absteckt.

Von Severo Sarduy stammt der Ausspruch, dass jede wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Barock immer zunächst mit der etymologischen Deutung des Begriffes beginnt. Um einer wissenschaftlichen Betrachtung eines neobarocken Textes und in diesem Fall speziell Verbinskis zyklischer Erzählung gerecht zu werden, möchte ich diesen Aufsatz mit der Etymologie von ‚Barock’ beschließen: Nachdem ausgeschlossen wurde, dass sich der Begriff aus der dritten Form des Syllogismus ableiten lässt, 14 führt man „Barock“ auf das portugiesische Wort barocco zurück. Dieser Begriff kommt aus der Sprache der Juweliere und bezeichnet die ungleiche, schiefe Perle, die zwar nicht wertvoll ist, aber gerade wegen ihrer Seltenheit zu einem Kuriosum wird. Auch in der Pirates-Trilogie nimmt die Perle eine zentrale Rolle ein: Der Name von Jack Sparrows Schiff lautet ja The Black Pearl. Es ist eben dieses Schiff, diese ungewöhnliche, schwarze Perle, nach der alle Figuren streben. Neben dem unverwüstlichen Protagonisten ist es nur sie, die alle drei Filme heil überlebt, sich so wie ein roter Faden durch die Handlung zieht und dadurch den neobarocken Kreis wieder schließt.

Literaturverzeichnis

Calabrese, Omar. Neo-Baroque: A Sign of the Times. Princeton: Princeton University Press, 1992.

Ciavolella, Massimo and Patrick Coleman. Culture and Authority in the Baroque . Toronto: Toronto UP, 2005.

Eco, Umberto. “Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien.“ Streit der Interpretationen. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 1987. 49-65.

Focillon, Henri. Das Leben der Formen. München: Lehnen Verlag, 1954.

Marx, Karl and Friedrich Engels. Das kommunistische Manifest. Berlin: Argument Verlag, 1999.

Ndalianis, Angela. Neo-Baroque Aesthetics and Contemporary Entertainment . Cambridge: MIT Press, 2004.

Panofsky, Erwin. Was ist Barock? Berlin: Philo & Philo Fine Arts, 2005.

Sarduy, Severo. Barroco . Paris: Editions du Seuil, 1975.

Wölfflin, Heinrich. Renaissance und Barock: Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien. 3rd ed. München: Bruckmann, 1908.

Endnoten

Ciavolella, S. 1.

Siehe dazu auch Gregg Lamberts Ansätze in Return of the Baroque in Modern Culture.

Ndalianis, S. 12f.

Eco, S. 64.

Calabrese, S. xii.

Der Film Jurrasic Park ist ursprünglich als Roman erschienen.

Ndalianis, S. 4.

Ndalianis, S. 5.

Panofsky, S. 87f.

Panofsky, S. 89.

Ndalianis, S. 15.

Panofsky, S. 45.

Focillon, Henri, S. 67.

Während Wölfflin noch von dieser etymologischen Erklärung aus dem Syllogismus ausging, wird heutzutage der Ursprung des Wortes Barock nur noch aus dem Portugiesischen abgeleitet.



Verfasser: Daniel Wüllner, veröffentlicht am 24.07.2007

 

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