Ulf Goerges

 

Liane Schüller: Vom Ernst der Zerstreuung

Die weibliche Angestellte! Heute ist sie genauso selbstverständlich wie in der Schweiz das Wahlrecht der Frau. Das allerdings gibt es erst seit 1960; die weibliche Angestellte indes ist in unseren Landen bereits seit Beginn des letzten Jahrhunderts tätig. Einer besonderen Gruppe, nämlich den schreibenden Frauen, widmet sich die Germanistin Liane Schüller in ihrem Buch "Vom Ernst der Zerstreuung", das jetzt im Aisthesis Verlag erschienen ist.

Irmgard Keun ist eine von diesen Frauen, und sie wäre just in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Irmgard Keun zählte zu den wenigen Autorinnen der Weimarer Zeit, denen ein wirklicher Erfolg beschieden war, auch wenn dieser nur wenige Jahre überdauerte.

Liane Schüller nähert sich Irmgard Keun sowie ihren schreibenden Kolleginnen Marieluise Fleißer und Gabriele Tergit vor dem Hintergrund ihrer Zeit. Die Autorinnen werden dabei als repräsentativ für einen Frauentypus vorgestellt, den es bis dahin so noch nicht gab und der als Inbegriff der "Weimarer Modernität" verstanden wurde. Anhand der Erzählliteratur überprüft "Der Ernst der Zerstreuung", in welcher Form sich die Autorinnen mit den "sich wandelnden Lebensbedingungen der (berufstätigen) Frauen" auseinandersetzten. Was dabei zutage tritt, ist äußerst erhellend für das Verständnis von Weiblichkeit in der damaligen Zeit sowie für das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Und gleichzeitig ist es eine Spurensuche nach Phänomenen wie "Körperkult und Schönheitswahn", von denen heute beide Geschlechter gleichermaßen heimgesucht werden. Mithin liefert uns das Buch einen Geschichtsunterricht der besonderen Art, der erstaunliche Parallelen zwischen der Weimarer Zeit, der man doch weit voraus zu sein meint, und heute ans Licht bringt.

Auch wird der Leser Zeuge der Auferstehung weiblichen Selbstbewusstseins und weiblicher Selbstbehauptung, die nicht nur durch Veränderung in Kleidung und Frisur Ausdruck fanden, sondern sich in vielen gesellschaftlichen Daseinsbereichen niederschlugen. Spannend ist auch die Dialektik von "aufweichender Skepsis, mit der schreibende Frauen über Jahrhunderte konfrontiert worden waren" und dem verzweifelten Ringen des Mannes gegen diese Entwicklung, wenn Schüller etwa auf "Barwert, Anmut und Tugendhaftigkeit" verweist, die die Männer als unverzichtbare Attribute von Weiblichkeit beschwören. Haben wir Männer heute wirklich viel dazugelernt...?

Wenn es sich bei der vorliegenden Arbeit auch um eine Dissertation mit dem genre-üblichen wissenschaftlichen Anspruch handelt, so legt die Autorin zugleich ein Buch vor, das zum einen als Sozialgeschichte der Literatur in einer Zeit verstanden werden kann, in der Frauen auf breiterer Front schreibend einen beruflichen Werdegang genommen haben. Zum anderen erhalten wir aber auch Einblick in die Hintergründe des heute als so selbstverständlich angesehenen Arbeitsgerätes und dessen Bedeutung für beruflichen Erfolg, nicht nur der schriftstellerisch Tätigen: der Schreibmaschine. Heute steht sie in Form der Computer-Tastatur in jedem Haushalt, gleichermaßen benutzt von "ihr" und "ihm", damals diente sie als "Arbeitswerkzeug vor allem weiblicher Angestellter". Auch hier zeigt sich, wie spannend die wissenschaftliche Akribie, mit der Liane Schüller "ihre" Autorinnen durchleuchtet, unter Berücksichtigung eines lebendig aufbereiteten sozialgeschichtlichen Hintergrundes sein kann. So erfahren die LeserInnen nicht nur Wissenswertes über eben dieses Tasten-"Instrument" im Kontext der Technikgeschichte, sondern z. B. auch etwas über den heute ebenfalls nicht unbekannten Geschlechterkampf im Büro. Inwieweit der sich heute von dem von damals unterscheidet, als die schreibende Frau im Kontor des Mannes als "schädlich für das gesamte Menschengeschlecht" betrachtet wurde, wie Schüller zu berichten weiß, wird der Mann im Büro selber beurteilen. Aufgehellt wird darüber hinaus auch die Stellung der Sekretärin innerhalb des Arbeitsplatzes "Büro" und dessen Ausweitung hin zu einer "Stätte erotischer Begegnung".

Einen nachgerade humoresken Einschlag bekommt der "Ernst der Zerstreuung" durch die Einbeziehung zeitgenössischer Abbildungen und Karikaturen, von denen die Zeitenwende in den Formen weiblicher Berufstätigkeit in der Weimarer Republik begleitet wurde.

Das Buch vermittelt anschaulich die Entstehung einer spezifisch weiblicher Arbeitskultur um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und trägt so zu einem besseren Verständnis der Lebens- und Arbeitsbedingungen der eigenen Großeltern bei, die ja immer auch Teil der eigenen Geschichte sind. Mithin ist Liane Schüllers "Vom Ernst der Zerstreuung" nicht nur eine Lektüre für Wissenschaftler oder gar ausschließlich weibliche Leser, sondern kann jedem anempfohlen werden, dem das Interesse an jener Kulturgeschichte, in der er selbst steht, am Herzen liegt.

Liane Schüller: Vom Ernst der Zerstreuung. Bielefeld, 2005. ISBN 3-89528-506-4. Preis 39,80 Euro.



Verfasser: Ulf Georges, veröffentlicht am 20.12.2005

   
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