Julian Kücklich

Roberto Simanowski: Interfictions
Eine Rezension



Wer sich in irgendeiner Form mit den elektronischen Spielarten der Literatur beschäftigt, dem begegnet früher oder später der Name Roberto Simanowski. Der Herausgeber des "Magazins zu Werken und Theorie der digitalen Literatur und Kunst", dichtung-digital (www.dichtung-digital.de), ist ein unermüdlicher Rezensent, Fürsprecher und Förderer der sogenannten Netzliteratur (siehe beispielsweise auch das online-Kommunikationsforum auf IASLonline über Netzkommunikation in ihren Folgen gemeinsam mit Georg Jäger) . Erst vor einigen Monaten machte Simanowski mit dem von ihm herausgegebenen Begleitband zu dem von dtv und T-Online veranstalteten Wettbewerb Literatur.digital auf sich aufmerksam, nun legt er nach: soeben ist in der edition suhrkamp unter dem Titel Interfictions seine theoretische Abhandlung über das "Schreiben im Netz" mit erschienen.

Schon in Literatur.digital war Simanowski bemüht, "Formen und Wege einer neuen Literatur" nicht nur aufzuzeigen, sondern auch theoretisch zu unterfüttern. Allerdings hielt er sich in dem an ein deutlich breiteres Publikum gerichteten Band mit literaturwissenschaftlicher Fachterminologie zurück und bemühte sich stattdessen, dem interessierten Laien einen Einblick in mögliche Beschreibungs- und Bewertungsweisen der Hyperfiction zu geben. In den von ihm verfassten Beiträgen zu Literatur.digital entwickelte Simanowski beispielsweise eine erste Klassifikation verschiedener fiktionaler Hypertexte und führte auch in die kurze Geschichte des Genres ein. Eine CD-ROM mit den 20 besten Wettbewerbsbeiträgen rundet den Band ab.

Der "Essay zum Wettbewerb" mit dem Titel "Digitale Literatur?" (www.dichtung-digital.com/2001/Simanowski-31-Maerz), der den Sammelband einleitet, ist sicher eine der gelungensten Einführungen in das Thema, die bisher verfasst wurden, allein schon deshalb, weil Simanowski in zwei Absätzen die ganze Misere, aber auch das Potenzial des Schreibens im Netz deutlich macht. Insbesondere die Fragen "Nach welchen KRITERIEN soll hier die Kritik erfolgen?" und "Was sagen die PROFESSOREN dazu?" blieben jedoch innerhalb dieses Bandes weitgehend unbeantwortet. Entsprechend hoch waren deshalb auch die Erwartungen, mit denen Simanowskis Poetologie der digitalen Literatur erwartet wurde.

Interfictions ist jedoch kein theoretischer Rundumschlag, der sämtliche Bereiche der digitalen Literaturproduktion und -rezeption zu beackern versucht, sondern eine Sammlung von eher essayistisch anmutenden Betrachtungen mit verschiedenen Varianten der elektronischen Literatur. Und dies gereicht dem Band durchaus zum Vorteil. Denn Simanowski beweist Mut zur Lücke und konzentriert sich zunächst auf eine genaue Untersuchung der Genres "Mitschreibprojekte", "Hyperfiction" sowie "Multimedia". Erst im letzten Kapitel wendet er sich der Frage nach einer spezifisch digitalen ästhetik zu. Dieses Vorgehen hat zwei Vorteile: zum einen ermöglicht es dem im Bereich der digitalen Literatur noch unerfahrenen Leser einen sanften Einstieg, zum anderen steht die Theorie auf einer soliden empirischen Basis.

Dies ist Simanowski hoch anzurechnen, denn die Hypertext-Theorie stand lange Zeit im Schatten ihrer Väter J. David Bolter und George Landow, die mit ihren zu Beginn der 90er Jahre formulierten Thesen lange die Debatte dominierten. Als problematisch erwies sich dabei insbesondere die Behauptung, dass Hypertext die "Verwirklichung" der Textbegriffe der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus seien, wobei oft der Vollständigkeit halber auch noch die Vertreter der Rezeptionsästhetik mit in den selben Topf geworfen wurden. Von diesen Anfängen distanziert sich Simanowski entschieden, jedoch nicht ohne auch auf ihre Verdienste aufmerksam zu machen. Doch sowohl in der Analyse als auch in der Theorie verwendet Simanowski einen wesentlich pragmatischeren Hypertext-Begriff, als den von Bolter und Landow entwickelten.

Um genau zu sein, spricht Simanowski – außer im technischen Sinne - überhaupt nicht von Hypertext, sondern von "Interfictions". Dieser Begriff soll darauf hinweisen, dass die von ihm bezeichneten Phänomene von den Möglichkeiten der Vernetzung Gebrauch machen und gleichzeitig in vielerlei Hinsicht über traditionelle Vorstellungen von Text hinausgehen. Denn die Netzliteratur bezieht heute in noch viel höherem Maße als vor zehn Jahren multimediale Elemente ein, die eine öffnung in Richtung Film und bildender Kunst bedeuten. Im Zusammenhang mit Interfictions sind für Simanowski daher die Begriffe Interaktivität, Intermedialität und Inszenierung zentral. Denn diese Merkmale kennzeichnen diese Form der Literatur, ohne sie allzu scharf von anderen, verwandten Phänomenen abzutrennen.

Denn wie Simanowski im analytischen Teil seines Buches deutlich macht, ist in dieser Tendenz zur Transgression gerade das Reizvolle der digitalen Literatur zu sehen, auch wenn dies Rezensenten, Wettbewerbsjurys und Leser oft ratlos macht. An diesen kritischen Stellen macht sich jedoch Simanowskis Erfahrung als Rezensent bei dichtung-digital bezahlt: statt sich mit theoretischen Spiegelfechtereien aufzuhalten fällt er von Fall zu Fall pragmatische Entscheidungen, die fast immer nachvollziehbar sind und enorm zur Lesbarkeit des Bandes beitragen.

Überhaupt ist Interfictions für eine Theorie der digitalen Literatur erstaunlich praxisnah. Simanowski bleibt immer nah am jeweiligen Text und in der Auswahl und Kenntnis der Beispiele zeigt sich seine tiefe Vertrautheit mit dieser noch jungen Gattung. Auch dies ist in den Wissenschaften, die sich mit den neuen und neuesten Produkten der Gegenwartskultur beschäftigen keine Selbstverständlichkeit und bildet hier einen wohltuenden Gegensatz zu vielen anderen Arbeiten. Seine Theorie der "sozialen ästhetik" von Mitschreibeprojekten entwickelt er beispielsweise aus einer sehr genauen Analyse des Genre-Klassikers Beim Bäcker, die auch die Schwierigkeiten und Gefahren des kollektiven Schreibens miteinbezieht.

Diese undogmatische Herangehensweise bewährt sich auch in der Auseinandersetzung mit der Hyperfiction, der klassischen Link-Literatur also, die das älteste Genre im Bereich der digitalen Literatur bildet. Dabei schafft Simanowski mit seiner sachlichen Betrachtung der Missverständnisse der Hypertext-Theorie eine gute Basis für seine folgenden Analysen, die sich durch Scharfsinn und einen unverstellten Blick auszeichnen. Störend wirken nur manche theoretische Passagen, die so wirken, als habe der Autor nach der Fertigstellung des Bandes einen plötzlichen Rechtfertigungszwang verspürt. Die Beurteilung von literarischem Wert durch die unvermittelte Einführung von Jurij Lotmans Konzept des sekundären Sprachsystems ist beispielsweise nicht argumentativ im Text verankert und bleibt auch im folgenden ein Fremdkörper. Ebenso befremdlich wirkt es, wenn Simanowski mit einem Mal feststellt: "Der Link ist Isers Leerstelle", ohne diese These weiter auszuführen.

Bei der Behandlung multimedialer Werke wird das angesprochene Dilemma der digitalen Literaturtheorie vielleicht am deutlichsten. Viele Werke der "digitalen Literatur" bestehen nur zu einem Bruchteil aus Text, der Rest sind Icons, Images und Animationen. Und selbst wenn der Text Text bleibt, bietet das elektronische Medium so viele Möglichkeiten zu seiner Manipulation, dass er oft kaum mehr als schriftlich verfasst erkennbar ist. Hier setzt Simanowskis Konzept der "Hermeneutik der Tiefeninformation" an, die auf eine Analyse des Quellcodes digitaler Literatur abzielt. Denn so werden auch digitale Bilder und Animationen "lesbar", und zwar in einem weiteren Sinn als dies bei herkömmlichen Bildern der Fall ist.

Allerdings zeigt Hermeneutik der Tiefeninformation in der Anwendung eine klare Tendenz zur überinterpretation. Simanowski versucht beispielsweise der Anzahl der loops eines flimmernden Bildes Sinn abzugewinnen und kommt zu dem Schluss, dass das Bild "eine Verhangenheit [hat], die [...] einmal seine Zukunft war". Die Trivialität dieser Aussage, die genauso auf eine abgelaufene Eieruhr wie auf digitale Bilder zutrifft, weist jedoch auf ein tieferliegendes Problem der Theorei der digitalen Literatur hin: vieles, was intentional erscheint, ist zufällig und vieles, was zufällig wirkt, ist vom Autor beabsichtigt. Der Rezensent Simanowski zieht sich im Zweifelsfall darauf zurück, dass "der Text immer schlauer ist als sein Autor", doch damit lassen sich nicht alle Zweifel ausräumen. Dies muss auch Simanowski anerkennen, wenn er bei der Analyse eines scheinbar banalen Textes obskure Intertexte bemühen muss, um dem Werk Sinn abzugewinnen.
Vieles in der digitalen Welt ist eben nur Oberfläche, nur schöner Schein. Dass Simanowski dies nicht als Ausgangspunkt einer mit postmodernem Vokabular gespickten Selbstbespiegelungstirade nimmt, sondern sich ernsthaft und sachlich mit dem Thema auseinandersetzt, ist ihm hoch anzurechnen. Allerdings ist es dabei anscheinend unvermeidlich, dass er die eine oder andere Spielerei als ästhetisch minderwertig zurückweist, ohne dass er dies theoretisch zu begründen weiß. Dass sich beispielsweise ein oberflächlich an den Formalia der konkreten Poesie orientiertes Werk der digitalen Literatur an Franz Mons Poesie der Fläche messen lassen muss, erscheint ungerechtfertigt und willkürlich.

Umso mehr hofft der Leser, die Erklärung für diese Ungereimtheiten im letzten Kapitel des Bandes zu finden, das der digitalen ästhetik gewidmet ist. Tatsächlich zieht Simanowski hier einige der Fäden zusammen, die sich durch das Buch ziehen und ermöglicht so im Rückblick eine andere, theoretische Perspektive auf die betrachteten Werke. Dieser doppelte Blick relativiert vieles, was in den vorausgehenden Kapiteln nicht ganz schlüssig wirkte, indem er die Subjektivität des Lesers wie des Theoretikers in die Analyse miteinbezieht.

Im ersten Abschnitt der "Digitalen ästhetik" untersucht Simanowski die spezifische Technikästhetik der digitalen Literatur und die politische Komponente, die dieser innewohnt. Das dabei zu Grunde liegende Problem proprietärer Darstellungssysteme ist zwar in der Kunst nicht neu, stellt sich im Medium des Computers aber in verschärfter Form, da selbst die "naive" Entscheidung für den Netscape Navigator oder gegen Java-Applets politisch interpretiert werden kann. Anders als die Wahl eines Verlages oder Ausstellungsortes sind dies Faktoren, über die der Künstler Kontrolle hat (oder haben sollte), und für die er deshalb verantwortlich gemacht werden kann. Simanowski gelingt es, das Bewusstsein dafür zu schärfen, und damit Kriterien für eine Beurteilung digitaler Literatur vorzuschlagen, die über reine Geschmacksurteile hinausgeht.

In der "Poetologie digitaler Kunst" gelingt es Simanowski, weitere Kriterien für eine solche Bewertung herauszuarbeiten, indem er sich mit der Oberflächlichkeit digitaler Texte auseinandersetzt. Seine Betrachtung der spezifische Interaktivität und Reflexivität dieser Literaturform erinnert an die von Bolter und Grusin vorgenommene Unterscheidung zwischen immediacy und hypermediacy, geht aber insofern darüber hinaus, als Simanowski die hypermediale Reflexivität der digitalen Literatur differenziert betrachtet. Denn die Selbstreflexion ist im elektronischen Medium einerseits dekonstruktiv, insofern sie auf die Materialität des Virtuellen hinweist. Andererseits ist sie jedoch selbst-affirmativ und verliert sich allzu leicht in einem medialen Narzissmus, vor dem schon McLuhan warnte.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass am Schluss des Bandes viele Fragen weiterhin offen sind – ja, einige neue hinzugekommen sind. Simanowski beschränkt sich in seinem Fazit daher darauf, die Stichworte für eine künftige Debatte über Netzliteratur geliefert zu haben. Dies ist eine bescheidene Rolle, aber auch eine sehr bequeme: alles in allem wünscht man sich als Leser an manchen Stellen mehr Mut zur kontroversen These. Simanowski ist jedoch sichtlich bemüht, einander widersprechende theoretische Standpunkte miteinander zu versöhnen, so dass der theoretische Teil gegenüber den Textanalysen auch merklich abfällt.

Dort wo Simanowski am Text arbeitet, ist Interfictions jedoch ausgezeichnet. Und auch die theoretischen Erkenntnisse, die er aus dieser Textarbeit gewinnt, erscheinen brauchbar. Diejenigen, die sich mit deutschsprachiger Netzliteratur beschäftigen, kommen an diesem Band ohnehin nicht vorbei. Dazu sind die Erkenntnisse aus dem Umgang mit den Vertretern dieser Gattung, die Simanowski vorzuweisen hat, einfach zu wertvoll. Für den Literaturwissenschaftler, der sich einen ersten überblick über die Materie verschaffen will, ist das Buch ebenfalls hervorragend gegeignet. Für alle anderen ist der Band vielleicht insbesondere als kommentierte Linkliste interessant, deren Aktualität durch eine Website zum Buch (www.interfictions.com/buch) sichergestellt wird. Dort finden sich von 23:40 bis Zeit für die Bombe alle deutschen und internationalen Klassiker der digitalen Literatur. Und mit Hilfe von Simanowskis Kommentaren wird Vielen der Einstieg in dieses spannende neue Feld leichter fallen.

Roberto Simanowski (Hg.): Literatur.digital – Formen und Wege einer neuen Literatur. München: dtv 2002. 193 Seiten, mit CD-ROM. EUR 14,50.
---------------------------: Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. 198 Seiten. EUR 10,00.





Verfasser: Julian Kücklich

   
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