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Oliver Jahraus

Hitler als Mythos und Medium der Literatur


Welch eine glückliche Konstellation für eine germanistische und literaturwissenschaftliche Dissertation: eine äußerst anspruchsvolle Themenstellung, die zudem weitreichende kulturwissenschaftliche und historische Perspektiven öffnet, ein äußerst faszinierendes Textkorpus, das nicht unbedingt die bekanntesten Texte verzeichnet, das aber dennoch in seiner Vielfältigkeit überraschen kann. Doch das Entscheidende ist, dass beides auf die literarische Figur und die Person Hitlers bezogen ist. So konfrontiert Marcel Atze seine Leser gleich zu Beginn mit einer eigentümlichen Spannung: So problematisch und prekär es ist, sich Hitler als historisches Faktum zu vergegenwärtigen, so wenig führt dies zu einer umfassenden Verdrängung. Im Gegenteil, nicht nur in der Historiographie, selbst in der Literatur ist Hitler eigentümlich präsent. Und nimmt man die Literatur nur als ein kulturelles Paradigma, so ist zeigt es sich, wie aktuell Hitler noch immer ist.

Atze bringt dies auf eine Formel, die er kritisch von Joseph Goebbels herleitet, der von „unserem Hitler“ gesprochen hat. Gleichzeitig wird damit die markante Ausgangsthese auf den Punkt gebracht. Hitler ist keineswegs mit dem Tod der realen Person im Berliner Bunker 1945 verschwunden, Hitler ist nach wie vor gegenwärtig; und seine Gegenwärtigkeit hat durchaus einen direkten Bezug zur Kultur, in der wir leben. Hitler ist nach wie vor „unser Hitler“, ob wir es wollen oder nicht, und Literatur ist ein Medium, das diesen „unseren Hitler“ tradiert.

Aus der Ausgangsthese ergibt sich automatisch die Blickrichtung der Arbeit, wenn sie fragt, in welcher Form denn Hitler nach wie vor gegenwärtig ist. Daraus entwickelt Atze seine zentrale Argumentationslinie, die er durch das gesamte, umfangreiche Buch mit beeindruckender Konsequenz und gestützt auf eine Fülle von literarischem Belegmaterial, historischen Dokumenten und historiographischer Forschung verfolgt.

Die Form der Tradierung ist der Mythos; Hitlers Überleben und damit seine Gegenwärtigkeit beruhen darauf, dass er zu einem Mythos geworden ist, der den Zusammenbruch seiner Herrschaft überstanden hat. Bereits mit seinem Buch „Mein Kampf“ habe Hitler begonnen, eine mythische Vita zu entwerfen, die er und der nationalsozialistische Propagandaapparat, zumal nach der Machtergreifung, immer weiter ausgebaut, systematisch ergänzt und dabei vor allem auch totalisiert hätten.

Von Anfang an macht Atze deutlich, dass man nicht dem Irrtum aufsitzen dürfe, Hitler sei 1945 vom Erdboden verschwunden. Er hat als Mythos überlebt; und zwar genau in jener Form des Mythos, der er und die NS-Propaganda entworfen haben. So sehr sich die Bewertungen des Mythos und das Verhältnis zum Mythos ge- und verändert haben, so wenig wurde der Mythos als solcher in Frage gestellt. Und gerade die Literatur wird zum Zeugen für Atzes These. Die Autoren und Texte, die Atze systematisch untersucht, haben kaum jemals auf die historisch und biographisch authentische Person zurückgegriffen, sondern auf den von Hitler selbst erzeugten Mythos. Die literarische Auseinandersetzung mit Hitler, die keineswegs als randständiges Motiv-Phänomen abgetan werden kann, ist „Arbeit am Mythos“ – und zwar weniger im Sinne einer Ent-Mythologisierung, sondern vielmehr im Sinne einer Destruktion des Mythos. Es geht der Literatur – mit dem natürlich verallgemeinernden Blick über das gesamte weite Feld, das Atze berücksichtigt – weit weniger darum, den realen, echten, authentischen Hitler hinter dem Mythos zu entdecken, sondern den Mythos selbst zu zerstören.

Diese Argumentation besticht allein schon aufgrund der Materialfülle. Und wer sich darauf einlässt, der kann fast so etwas wie eine Notwendigkeit in dieser Form des Mythos und in dieser Form der Auseinandersetzung mit dem Mythos durch die Literatur entdecken. Denn wenn Hitler vor allem als Mythos gewirkt hat, so gilt es, sich diesem Mythos zu stellen. In der Tat fällt dadurch die reale Person durch den Blickraster, aber das auch zu Recht, denn diese reale Person war ohnehin spätestens seit der Machtergreifung, aber offensichtlich schon in weiten Bereichen weit früher nicht mehr präsent. Der selbstgeschaffene Mythos sichert nicht nur die Präsenz, er bestimmt seit 1945 und auch heute noch die Form der Auseinandersetzung als Destruktion.

Nachdem diese einfache und klare Ausgangsthese vorgestellt wurde, gibt Atze zunächst einen grundlegenden Überblick über die Rezeption der mythischen Vita Hitlers, bevor er dann in großen Einzelkapiteln den Mythos selbst analysiert. Er zerlegt den Mythos in einzelne Mytheme, die für die Rezeption leitend sind. Ein Schlusskapitel geht schließlich auf das Spannungsfeld dieser literarischen Arbeit zwischen Mythos und Massenmord ein.

Bereits da, wo Atze die mythische Vita auseinander nimmt und die einzelnen Biographeme vorstellt, die Eingang in die literarische Rezeption gefunden haben, fährt er zweigleisig. Denn er liefert weit mehr als eine philologisch korrekte Textanalysearbeit über ein großes Textkorpus. Vielmehr rekonstruiert er auch die NS-Mythenbildung selbst und legt dabei die Mechanismen der Konstitution des Mythos Hitler offen. Atze geht auf Herkunft, Vater und frühe Kindheit, auf die Lehrjahre, auf den Kriegsdienst im ersten Weltkrieg, auf das Damaskus-Erlebnis in Pasewalk, auf die Irritation nach Kriegsende, auf den Aufstieg als Parteiführer ein.

Der Hauptteil der Arbeit setzt sich mit den zentralen Mythemen der Führergestalt auseinander: mit dem Natur- und Tierfreund, mit dem Asketen, mit der Vaterfigur, mit dem Künstler. Breiten Raum nimmt auch die Differenzierung von Privatmann und mythischem Konstrukt ein; hier zeigt Atze, wie Autoren gerade die Lücke im Mythos, den Privatmann, seine persönlichen Beziehungen, selbst seine Sexualität bzw. Asexualität nutzen, um bestimmte Mytheme zu zerstören. Ein kleines Kabinettstück ist die hierin eingeschobene „Literaturgeschichte der Eva Braun“. Dem Redner-Mythem ist ein eigenes, großes Kapitel gewidmet, und das zu Recht, ist doch gerade das Reden die vordringlichste Äußerungsform Hitlers gewesen, die Form des Ausdrucks seiner Propaganda und zudem auch selbst der Schauplatz der eigenen Mythologisierung.

Der Spannungsbogen der Arbeit neigt sich mit den letzten beiden Kapiteln: Im vorletzten Kapitel geht Atze auf die Physiognomie und insbesondere auf ihre mythische Funktionalisierung ein, die aus Hitlers Gesicht selbst so etwas wie ein Markenzeichen gemacht hat. Gerade hieran wird auch die Kontinuität des Mythos offenbar, denn die signifikante Form dieses stilisierten Gesichts hat nach 1945 nichts von ihrer Funktion eingebüßt. Nach wie vor steht das Gesicht für ein Programm, was aber gerade nunmehr die Möglichkeit eröffnet, physiognomische Rassentheorien an Hitlers Gesicht destruktiv gegen sich selbst zu kehren. Im letzten Kapitel, dem Epilog der Arbeit, wird noch einmal aufgezeigt, wie die Destruktion des Mythos gerade dazu benutzt wird, den Mythos selbst auf den Massenmord zurückzubeziehen. Die destruktive Arbeit am Mythos Hitler dient dazu, über Hitler auch das Unbeschreibliche des Massenmords literarisch be- und verarbeiten zu können.

Die Kontinuität des Mythos drückt sich in einem komplexen Übergang von seiner Konstruktion zur destruktiven Arbeit am Mythos aus. Atze kann eine ganze Reihe von solchen Übergängen auf der Grundlage z.T. sehr ausführlicher und sensibler, in jedem Fall aber punktgenauer Analysen rekonstruieren. So zeigt er, wie aus dem Mythem des tapferen Soldaten (immerhin pries Hitler sich als Träger des Eisernen Kreuzes Erster Klasse) ein Feigling und anonymer Mörder wird, aus dem Erlöser ein Endlöser, aus dem Redner ein Verkünder des Genozids, aus dem Künstler ein Architekt des Genozids, aus dem Naturfreund ein Rassenfanatiker, aus dem asexuellen Führer ein Perverser, der kranke Vorstellungen zur Volksgesundheit verbreitet und aus dem Vater schließlich ein Verräter und Vernichter. Sehr schön zeigt Atze, wie Hitler selbst zentrale Formen der Christologie in seine Mythisierung als Erlöser aufnimmt, wie aber in der Destruktion des Mythos diese Erlösung als Endlösung aufgedeckt wird. Zu den brillantesten Passagen gehört z.B. die Analyse von Marcels Beyers Roman „Flughunde“, der die Stimme als das Instrument der Mythologisierung aufgreift, aber gleichzeitig die Stimme stimmphysiognomisch als Stimme des Mörders entlarvt. Daneben werden u.a. auch Peter Roos „Hitler lieben“, Dieter Fortes „Das Labyrinth der Träume“, Josef Haslingers „Opernball“, Edgar Hilsenraths „Der Nazi und der Friseur“ neben vielen anderen einer eingehenden Analyse unterzogen.

Zugegeben, mit dem Blick auf die deutsche Literatur ist die Zuständigkeit und Reichweite des vorliegenden Buches begrenzt; es ist deutschsprachig und monomedial ausgerichtet, d.h. es behandelt auch nur deutschsprachige literarische Texte. Wer die Materialfülle sieht, weiß, dass mehr nicht zu verlangen ist; und Atze hat weit, weit mehr geleistet, als was entsprechende Arbeiten im Durchschnitt leisten. Es ist gerade die außergewöhnliche Qualität dieser Arbeit, die Lust auf mehr macht, so, als müssten wir den Autor bitten, möglichst schnell sein Projekt über die nationalsprachlichen und monomedialen Grenzen hinaus auszuweiten. Einen kleinen Vorgeschmack gibt er selbst, als er kurz auf Chaplins „Der große Diktator“ eingeht, allerdings auch nur in dem engen Kontext, den der Bezug über Herbert Rosendorfers Roman „Die Nacht der Amazonen“ vorgibt. Die vorliegende Arbeit macht neugierig auf mehr, auf andere Literaturen, die auch das Problem des nationalen Blickwinkels erweitern, auf andere Medien, insbesondere den Film, der den Mythos, der selbst auditiv und visuell wirkt, audiovisuell erfahrbar machen kann.

Man ist in jedem Fall beeindruckt auch von dem theoretischen Kontext, den Atze souverän zitiert. Dass es sich hierbei um eine Fragestellung von größter kulturgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Bedeutung und Tragweite handelt, steht außer Frage. Atze zeigt sich sehr bewandert auch in neueren und neuesten zeichen- und kulturtheoretischen Mythostheorien, nicht zuletzt aus dem dekonstruktivistischen/poststrukturalistischen Umfeld. Allerdings werden die Bezugnahmen wohldosiert; Atze geht auf theoretische Vorgaben nur insoweit ein, als sie für seine Fragestellung relevant werden. Er behandelt das Thema nicht exemplarisch für weitergehende theoretische Fragestellungen; und auch hier muss man ihm zugestehen, dass mehr nicht erwartet werden kann und darf. Vielleicht verbietet es auch die Themenstellung, ihre Brisanz durch die Rekonstruktion ihres exemplarischen Charakters zu relativieren oder gar zu nivellieren.

Ich habe diese Arbeit mit großer Begeisterung und mit noch größerem Gewinn gelesen. Atze führt den Leser auf ein Terrain, das er weit aufspannt, aber dennoch zielstrebig durchmisst. Zum Teil liest sich diese Arbeit wie ein Krimi in dem, was Atze aufzudecken vermag; was er vorführt, muss, bringt man nur ein wenig Verständnis für den Zusammenhang von Literatur und Geschichte auf, den Leser in Bann schlagen, weil er das Material nirgendwo so geballt vorgesetzt, so kenntnisreich aufbereitet, aber auch, weil er es nirgendwo so informativ und intelligent analysiert bekommt. Und deswegen können nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern auch Historiker einiges aus diesem Buch lernen. Und das ist nun in der Tat sehr ernst gemeint: Selbst jenen, die die maßgeblichen und neuesten biographischen Arbeiten zu Hitler von Fest oder Kershaw oder selbst Reuth kennen, weiß Atze noch einiges über Hitler zu sagen, weil kaum jemand, auch die großen Biographen nicht (!), die Mythologisierung so exakt durchschaut wie er. – Und zum Schluss sei doch noch der Hinweis auf den exemplarischen Charakter der Arbeit erlaubt: Atze demonstriert auf beeindruckende Weise, welchen immensen historischen Erkenntniswert Literatur – gerade auch am Beispiel Hitlers – haben kann. Das setzt neue Maßstäbe!

Marcel Atze: „Unser Hitler“. Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Göttingen: Wallstein 2003, 493 S., 45,- €.



Verfasser: oliver.jahraus@gmx.de

   
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