Systemtheorie, Niklas Luhmann


Oliver Jahraus

Den ganzen Luhmann in einem Band
Luhmanns Vorlesung zur Einführung in die Systemtheorie als Buch

Im Wintersemester 1991/92 hat Niklas Luhmann an der Universität Bielefeld eine Vorlesung mit dem Titel Einführung in die Systemtheorie gehalten. Die Vorlesung wurde frei, wenn auch nahezu druckreif gehalten, wie Dirk Baecker in seinem Vorwort berichtet, und sie wurde aufgezeichnet. Das vorliegende Buch ist die Transkription dieser Aufzeichnung, die nur sehr behutsam, wie der Herausgeber angibt, den Text der schriftlichen Form anpasst.

Herausgekommen ist dabei ein Buch, das auf wirklich ungewohnte, aber fesselnde Art und Weise in die Systemtheorie einführt und Lust macht auf Theorie und Systemtheorie. Dabei hat sich der Charakter der Mündlichkeit und der Charakter der Vorlesung auf eigentümliche Weise erhalten. Auch wenn man in dem Text keine kolloquialen Wendungen mehr findet, so ist ihm doch und sehr deutlich das Bestreben anzumerken, zu erklären, in einfachen und klaren Schritten voranzuschreiten, zu illustrieren, den Zuhörer mitzunehmen und zu vermitteln. Luhmanns Bemühen ist zu spüren, klaren Argumentationslinien zu folgen, durchaus auch mit dem Bestreben, konzeptionelle und begriffliche Verdichtungen herbeizuführen, diese dann aber auch gleich wieder mit Beispielen zu illustrieren und zu erläutern. Gerade deswegen verdient dieser Text auch wie kein anderer die Kennzeichnung als Einführung. Ganz anders als in anderen Texten Luhmanns, zumal in den großen Monographien seit den Sozialen Systemen 1983, liegt hier der Schwerpunkt nicht auf den für Luhmann typischen sprachlichen Verdichtungen von Begrifflichkeiten, die nur im Medium des Schriftlichen herzustellen und auch nur hier zu verstehen sind. Man findet hier nicht oder nicht so sehr den Zug zur Paradoxie und zur paradoxalen Pointe, wie man ihn aus Luhmanns Schrifttexten kennt. Geradezu erfrischend ist die einfache und klare Sprache, der es dem Leser deutlich erleichtert, dem Text zu folgen.

Hinzukommt, dass diese Vorlesung nicht selbst in die Reihe der – wenn man es so nennen will – schriftliche Theorieproduktion eingebunden war. Dieser Text hatte nicht den Zweck, der Systemtheorie einen weiteren Baustein hinzuzufügen, die Theorieproduktion voranzutreiben, sondern er wurde ausschließlich dazu verfasst, um vorgetragen zu werden und Zuhörern die Systemtheorie nahe zu bringen. Daraus ergibt sich auch eine veränderte Systematik. Die Vorlesung ist systematisch und stringent entlang einer fortschreitenden Leitlinie aufgebaut. Während die großen Monographien einzelne Bausteine in großen Einzelkapiteln wie ein komplexes Patchwork ausführen, haben wir es hier eher mit einer Perlenschnur zu tun, die den systematischen Aspekt zugleich mit einem genetischen verbindet.

Luhmann situiert die Systemtheorie zunächst im Feld der Soziologie (das ist immerhin ähnlich wie in der Einleitung zu den Sozialen Systemen) und geht auf die Vorläufer seiner Systemtheorie ein, insbesondere auf Parsons, dessen berühmtes AGIL-Schema er sehr klar und nachvollziehbar erklärt. Natürlich ist dies bereits eine Parsons-Interpretation auf dem Wege zur Luhmannschen Systemtheorie.

Im Hauptteil des Buches erläutert Luhmann die wesentlichsten Konzepte einer – wie er es nennt – Allgemeinen Systemtheorie; nacheinander geht er auf die Theorie offener Systeme, System als Differenz, operative Geschlossenheit, Selbstorganisation und Autopoiesis, strukturelle Kopplung, Beobachten, Reentry, Komplexität und die Idee der Rationalität ein. Darauf folgen fünf große Kapitel mit zentralen Theoriebausteinen der genuin Luhmannschen Systemtheorie, nämlich zu Zeit, Sinn, zur Differenz von psychischen und sozialen Systemen, zur Kommunikation und zur Emergenz von sozialen Systemen z.B. aus der (Bearbeitung der) doppelten Kontingenz. Es geht Luhmann um die Skizze einer allgemeinen Systemtheorie, was sich im formalen Charakter des zentralen Systembegriffs wiederspiegelt. Das System ist keine Ansammlung von Elemente, sondern das System ist reine Differenz, die Differenz System/Umwelt. Auf dieser Ausgangsbasis, die Luhmann sehr behutsam entwickelt, werden dann die theoretische Konsequenzen in Einzelschritten abgehandelt. Ein solches System muss, um System sein zu können, operativ geschlossen sein. Wenn solche Systeme aber operativ geschlossen sind, wird der Umweltkontakt immer nur systemspezifisch geregelt, und intersystemaische Beziehungen lassen sich als strukturelle Kopplung begreifen. Die Systeme, und hier sind Bewusstsein und Kommunikation, psychisches und soziales System gemeint, überschneiden sich nie, setzen sich aber wechselseitig strukturell für ihre je eigenen Operationen voraus.

Vorsicht ist in mehrfacher Hinsicht angebracht: So ist das Reentry-Kapitel nur eine Seite lang, aber die Thematisierung von Reentry-Figuren durchzieht das gesamte Buch. Nicht immer entspricht also die Kapitel- und Vorlesungsfolge einem systematischen Aufbau der Systemtheorie. Gerade im Versuch, die Systemtheorie in einfachen Schritten darzustellen, offenbart die Schwierigkeit, alle Theorieelemente in eine lineare Ordnung zu bringen, offenbart vielmehr die netzwerkartige Theoriearchitektur.

Gleichermaßen darf man die Historizität des Textes nicht außer Acht lassen, obschon er selbst sie kaum thematisiert. Luhmann formuliert, als ob hier wesentliche Kernsätze der Systemtheorie formuliert würden. Man übersieht dabei vielleicht allzu schnell, dass Systemtheorie nicht nur eine Theorie ist, sondern auch ein work in progress war, das solange gewachsen ist und sich verändert hat, solange Luhmann daran gearbeitet hat. Zugegebenermaßen ist das Buch relativ spät entstanden, aber dennoch im Vorfeld jenes opus magnum der Gesellschaft der Gesellschaft. Insofern besitzt das Buch durchaus auch einen Überblickscharakter über eine lange Entstehungsgeschichte des systemtheoretischen Theoriengebäudes. Zeitlos – bezogen auf diese Theorieentwicklung – ist diese Vorlesung allerdings nicht.

Dass diese Vorlesung in dieser Geschichte der Theorieentwicklung schon sehr spät angesiedelt ist, dass uns hier also ein ‚später’ Luhmann vorliegt, kann man z.B. an der spezifischen Bedeutung ablesen, die einzelne Theoriebausteine bekommen haben, z.B. der Beobachter, die Zeit, der Sinn, die strukturelle Kopplung. Aber auch daran, dass Kommunikation ganz explizit als sich selbst beobachtende Operation konzipiert wird, und auch daran, wie wichtig der Unterscheidungskalkül von George Spencer Brown (von dem Luhmann seinen Höhern noch erklärt, wie sie seinen Namen richtig in Bibliothekskatalogen suchen müssen) geworden ist. Oder daran, dass Sinn gerade deswegen eine so große Rolle in der Operationsstruktur von psychischen und sozialen Systemen spielt (weswegen sie zurecht als Sinnsysteme apostrophiert werden können), weil Sinn über die Medium/Form-Differenz konzeptualisiert wird. Sinn ist ein Medium, dass es ermöglicht, Sinn aus sich selbst heraus in bestimmten Formen hervorgehen zu lassen. Vor allem aber erkennt man den Stand der Theorie – damit direkt zusammenhängend – auch an der Bedeutung, die die Differenz von psychischen und sozialen Systemen gewonnen hat. Natürlich gibt es dabei immer noch die alten Abstoßungspunkte wie z.B. die Handlungstheorie oder der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft, die von Anfang an dazu dienten, der Systemtheorie eigene Konturen zu verleihen. Gerade hier sind die alten Kernsätze, die ursprünglichen Startpunkte der Systemtheorie immer noch spürbar: Gesellschaft ist kein System aus Individuen, die aktiv handeln, sowie das System keine Relation von Elementen ist. Gesellschaft ist auch kein System von Handlungen. Gesellschaft ist vielmehr sich selbst vollziehende Operation bzw. Kommunikation. Oder anders gesagt: Was Gesellschaft ist, ist das, was ein Beobachter beobachtet, wenn er Kommunikation beobachtet.

Anders jedoch als die Gesellschaft der Gesellschaft kann oder sollte man die vorliegende Vorlesung aber auch nicht als Summe des Werkes lesen. Zwar gibt die Vorlesung einen umfassenden Überblick über das Theoriegebäude der Systemtheorie, aber sie besitzt nicht jene zweite Ebene der Selbstthematisierung und Selbsterklärung, wie sie gerade die späteren Monographien besitzen. Hier hat Luhmann immer mehr die Systemtheorie erklärt, immer weniger eigentlich den Gegenstand, das soziale Subsystem der Gesellschaft, das im Titel angezeigt war. Gerade die Gesellschaft der Gesellschaft als letzte große, zu Lebzeiten Luhmanns publizierte Monographie (danach erschienen nur die Politik der Gesellschaft und die Religion der Gesellschaft posthum) macht nicht allein durch die Autoreflexivionsfigur des Titels auf diesen immer stärker werdenden Anteil der Selbstexplikation der Systemtheorie in ihrem Entwicklungsgang aufmerksam. daraus konnte eine Linie abgeleitet werden, in der ein idealer Fluchtpunkt erschien, an dem die Selbsterklärung der Systemtheorie mit der Erklärung der Gesellschaft operativ zusammen musste.

Genau dies fehlt bei der Vorlesung. Das macht es für den Einsteiger, der zunächst einmal mit berechtigtem Interesse kennenlernen will, auf welche Weise Systemtheorie Gesellschaft beschreibt, leichter, zu folgen. Durchgängig ist in der Vorlesung spürbar, dass Systemtheorie Gesellschaftstheorie ist und nicht autoreflexive Theorie der Theorie. Das ist einerseits auch gut so, denn so wichtig solche Autoreflexionsfiguren auch sind, sie gehören in jedem Fall nicht in die Anfangsgründe der Systemtheorie, und die stehen in der Vorlesung eindeutig im Vordergrund. Es gibt sogar Stimmen, die zunächst zurecht behaupten, dass dort, wo die Systemtheorie in solche Autoreflexionsfiguren ‚abgleitet’, sie immer stärker ihren soziologischen Charakter verliert. Wenn man allerdings behauptet, dass sie damit ihren Wert generell verliert, so ist dies aber hochproblematisch. Denn selbst dort, wo Systemtheorie nicht mehr Gesellschaftstheorie ist, ist ihr theoretisches Potential noch lange nicht vollständig ausgelotet.

In der Vorlesung findet sich davon nur ein indirekter Reflex, wo beispielsweise – nicht zuletzt im Kontext der Idee der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen – von jenen transzendentalphilosophischen Begründungsfiguren die Rede ist, die die Systemtheorie erbt und in sich aufnimmt und gleichzeitig transformiert. Luhmann gibt ganz klar an, dass er dieses Theorieelement „viel stärker“ machen will, als es noch in den Sozialen Systemen gewesen ist (hier S.274). Angedeutet wird allerdings nur am Rande, dass die strukturelle Kopplung selbst eine solche Begründungsfigur übernehmen könnte, wenn man davon ausgeht, dass hier eine wechselseitige Konstitution vorliegt. Mag sein, dass Gesellschaft einen Horizont darstellt und Bewusstsein eine Transzendentalie, gerade die strukturelle Kopplung beider Systeme macht deutlich, wie hier eine selbsttragende Theoriekonstruktion entsteht.

Doch damit ist man schon in einer Theoriedebatte drin, die viele Anfänger schon vor ihrem ersten Kontakt mit der Systemtheorie abschrecken kann. Um die Verständnisbarrieren, die Anfangshürden zu überwinden, mag es wohl zur Zeit keine bessere Einführung in Luhmanns Systemtheorie geben, als die vorliegende, die zudem noch von Luhmann selbst verfasst wurde. Damit nimmt das Buch eine wunderbare Zwitterstellung ein: es ist einerseits ein Buch zu Luhmanns Systemtheorie und es ist gleichzeitig ein Buch Luhmanns selbst, es ist Primär- und Sekundärliteratur zugleich und insofern einzigartig! Und man muss dem Verlag wirklich dankbar sein, dass er dieses Projekt verwirklicht hat. Es ist dem Buch zu wünschen, dass es außerhalb des Suhrkampspektrum seinen Platz im (auch privaten) Luhmann-Regal findet. Man darf – das ist hier mehrfach angeklungen – das Buch nicht direkt mit den großen Monographien messen. Dazu ist nicht speziell genug, nicht schwierig genug.

Das Buch ist vielmehr daran zu messen, inwiefern es einen Einstieg in die zentralen Texte der Systemtheorie bieten kann. In der Tatsache, dass Luhmann sozusagen in seine Theorie selbst einführt, liegen Vor- und Nachteile eng beieinander: Niemand ist wohl besser geeignet, die Systemtheorie so zu präsentieren wie ihr Erfinder selbst, aber gerade deswegen mag es auch an einigen Stellen problematisch sein. Denn Luhmann ist in Sachen Luhmann kein Unbeteiligter Exeget. Nicht alle Theoriebausteine sind unmittelbar mit dem, was man in anderen Texten Luhmanns lesen kann, in Einklang zu bringen. Zum Teil ist es vonnöten, immer auch den Stand der Theorieentwicklung mit zu berücksichtigen, was ein Anfänger wohl nicht kann. Hierzu hätte man das Buch umfangreich kommentieren müssen, worauf der Herausgeber, Dirk Baecker, gottseidank verzichtet hat, denn das hätte sicherlich den Flair und den Charakter der Vorlesung zerstört. So ist der Anfänger vielleicht mit einem Problem konfrontiert, das er später als eines der Hauptprobleme der Systemtheorie wieder erkennen wird, das Problem des Anfangs. Wir haben keinen natürlichen Anfang, weder mit unserer Theorie noch mit der Auseinandersetzung mit der Theorie. Erst später wird man im Rückblick den Anfang als solchen identifizieren können. Irgendwo muss man anfangen, anfangen zu beobachten. Und wenn man Systemtheorie beobachten will, so wird sich später erweisen müssen, dass ein Anfang mit dem vorliegenden Buch wohl nicht der schlechteste war. Und wer Systemtheorie schon so gut kennt, dass er über den Status von Einführungen hinaus ist, der kann mit diesem Buch einen neuen Anfang wagen.

Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. Hg. v. Dirk Baecker. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verlag 2002, ISBN: 3-89670-292-0, 24,90 €.


Verfasser: oliver.jahraus@gmx.de

   
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