Daniel Krause

 

Jens Malte Fischer: Gustav Mahler – Der fremde Vertraute

 

Unter den musikpublizistischen Neuerscheinungen der vergangenen Jahre hat v.a. eine für Aufsehen gesorgt: Jens Malte Fischers Gustav Mahler: Der fremde Vertraute. Die Rezensionen sind enthusiastisch, zu Recht. Eine profundere Darstellung hat Mahlers Musik, hat sein Leben niemals erfahren – trotz Adorno, Blaukopf, Eggebrecht. Fischer glänzt als Stilist: dass er schreiben kann, haben bereits die Großen Stimmen erwiesen, das deutsche Standardwerk zum Gesang. Kestings Großen Sängern – dem einzigen konkurrenzfähigen Werk – sind sie an sprachlicher Elaboriertheit weit überlegen (zugleich in der Abgewogenheit des Urteils).

Eines zeichnet Fischer besonders aus, heute wie damals: die Fähigkeit, den Leser zu 'führen’, zu unterhalten, ja zu umschmeicheln. Seriosität und Leichtigkeit, Humor und Emphase sind trefflich ausbalanciert. Die Musikalität seiner Prosa kann kaum genug gepriesen werden, zuvörderst die Fähigkeit, weit ausgreifende Sätze kunstvoll zu gliedern – ohne dass der Lesefluss jemals ins Stocken geriete (wenn er doch unterbrochen scheint, dann hat es guten dramaturgischen Sinn):

„[Franz] Schmidt, dem in den letzten Jahren eine gewisse Neubewertung als bedeutendster österreichischer Symphoniker neben und nach Mahler zuteil geworden ist, dessen großes Oratorium Das Buch mit sieben Sigeln aus dem Kreis des Esoterischen herausgetreten ist und dessen 3. und 4. Symphonie in der Tat das Gepräge des Außerordentlichen tragen – dieser Franz Schmidt ist nicht ganz ohne eigenes Zutun noch zu Lebzeiten Mahlers und erst recht nach dessen Tod als symphonischer Gegenspieler Mahlers aufgebaut worden, zuletzt gar als Verwalter des chauvinistisch interpretierten österreichischen Musikerbes im Gegensatz zum „jüdischen Kosmopoliten“ Mahler.“ (616f)

Man beachte auch folgendes Satzgebilde:

„Dieser Dr. Schuber war ein vielseitiger Mann, nicht nur Doktor der Medizin und Chirurgie, sondern auch Magister der Geburtshilfe und der Augenheilkunde, und diese staunenerregende Vielseitigkeit (eigentlich benötigte man außer Dr. Schuber keinen anderen Arzt im Ort, denn er war für alle Wechselfälle des Lebens bestens vorbereitet) wurde dadurch belohnt, daß er eben auch Badearzt war, und weil ihn das offensichtlich nicht ausfüllte, war er auch noch Chefarzt des K. K. Militär-Zöglings-Spitales daselbst.“ (119)

Hier wird der Ton der Stimme über siebzig Wörter getragen. „Portare la voce“, diese Wendung kommt dem Leser in den Sinn. Wann hätte man je – in einem 'Sachbuch’ zumal – ein derart großzügiges, weitatmiges Legato vernommen? Wer könnte so schreiben, sieht man von Wollschläger ab, dem Joyce-Übersetzer und Mahlerianer? Mag sein, dass Kaisers Metaphern bildhafter, plastischer anmuten, dass er im lyrischen Ausdruck, im Piano und Mezzopiano, feinere Abstufungen kennt. Doch keiner kann Fischers Phrasierungskunst überbieten.

Das fällt umso mehr ins Gewicht, als epische Dimensionen zu bewältigen waren: Fast 900 Seiten nimmt das Buch ein. So gilt es, im Großen und Kleinen sinnvoll zu gliedern: Der Fortgang der Vita wird durch Exkurse zu Mahlers Kompositionen, den Liedern und Sinfonien, skandiert. Mit wenigen Strichen wird die Eigenart dieser Musik nachgezeichnet, in klarerer, zugänglicherer Weise, als selbst Adorno und Eggebrecht es jemals vermochten. Ideologische Frontstellungen – zwischen 'absoluter’ und 'naturalistischer’ Musikauffassung – werden geschickt unterlaufen. Mahlers Musik in ihrem ambivalenten, zuweilen chimärischen Charakter kommt das besonders entgegen: Ihr episierender Zug wird gewürdigt, doch auch dem Sinfoniker wird Genüge getan. Nie wird die Vita vorschnell bemüht, Mahlers Kunst zu 'erklären’.

Gleichwohl bietet Fischer lebendige Sitten- und Zeitbilder, zum mährischen Herkunftsmilieu oder zu „Wien 1900“. Klischees über das „Schtetl“ oder die „Belle Epoque“ werden sorgsam vermieden. Zu Recht betont Fischer, dass Mahler der Geisteswelt Klimts, Olbrichs, Hoffmanns fremd gegenübersteht. Selbst Schönberg, Berg, Webern – Zemlinsky und Schreker zumal – scheinen weit eher geeignet, das Bild vom (vorgeblich) 'dekadenten’ Ästhetizismus jener Jahre zu stützen. Sorgfältig differenzierend, klischeefern fallen auch die Erwägungen zu Mahlers 'Judentum’ aus.

Dass Fischer zu unterscheiden versteht, erweist sich stets wieder: Verdammungsurteile sucht man vergebens, selbst wenn es um Alma geht, die viel gescholtene. Dem steht auch der feine, niemals verletzende Humor dieses Autors entgegen. Hier wird mit dem Florett gefochten, nicht mit dem Degen. Das gilt zumal für die kommentierte Mahler-Diskographie, mit der das Buch schließt. Die Meriten der Interpreten werden klug abgewogen, Bernsteins (auch Soltis und Kubeliks) Leistung wird unter allen herausgehoben. Fischers Stimmenkenntnis erlaubt ihm, auch Sängerleistungen präzis zu beschreiben. Wenige verfügen über ein derart genaues, dabei eingängiges Vokabular zur Charakterisierung stimmlicher Physiognomien. Dem allzu oft sinnfernen Wildwuchs der Rede über Gesang wird en passant Einhalt geboten.


Fischers schriftstellerische Vorzüge sind umso mehr zu rühmen, als er von Berufs wegen wissenschaftlicher Prosa verpflichtet ist. Diese steht nicht im Ruf guter Lesbarkeit. Fischer führt aber den Nachweis, dass Sorgfalt und Heiterkeit, Tiefe der Einsicht und glanzvoller Stil einander nicht ausschließen. Auch wird uns vor Augen geführt, dass 'Biographien’ weit weniger unzeitgemäß sind als manche behaupten. Ihnen haftet nichts Altväterliches, Dümmliches, Reaktionäres an.

Die Rede vom 'Tod des Subjekts’ hatte von je den Hautgout des Verstiegenen, ja des Frivolen. Zwar konnte sich an (deutschen) Universitäten das Vorurteil ausbreiten, Werke der Kunst seien nicht von den Künstlern her zu verstehen, der 'Autor’ sei eine unsachgemäße Kategorie. Doch spätestens seit Safranskis Philosophen-Biographien steht diese Meinung in Frage. Mit Fischers Mahler-Buch ist sie gründlich diskreditiert, zumal es erweist, dass Biographien die Zeitumstände, die 'Autonomie’ des Künstlerischen, all jene Dimensionen, die im Begriff des 'Autors’ nicht aufgehoben sein mögen, vollständig assimilieren können. Nicht von ungefähr dient Fischer ein Goethe-Wort als Devise, der Vorrede zu Dichtung und Wahrheit entnommen:

„Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abspiegelt.“

Es kann kein Zweifel bestehen, dass Fischer diesem Anspruch wie kaum ein zweiter gerecht wird. Die Rezensenten gehen nicht fehl, sein Mahler-Buch als die imponierendste musikpublizistische Leistung deutscher Sprache seit Adornos Beethoven und Hildesheimers Mozart zu preisen.

Der fremde Vertraute ist 2003 bei Zsolnay erschienen. Seit 2005 ist eine Lizenzausgabe bei Zweitausendeins auf dem Markt.



Verfasser: Daniel Krause, veröffentlicht am 06.01.2006

   
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