Adolf Wölfli / Begehren / Halluzinatorik / Surfen


Rainer Topitsch

Adolf Wölfli als Mediensurfer

Abstract: Adolf Wölfli (1864 -1930) gilt als einer der bekanntesten „schizophrenen“ Künstler. Sein Werk wurde daher vor allem unter Berücksichtigung seiner psychischen „Krankheit“ untersucht. Aber die aktuellen Diskussionen über moderne Mediennutzungsformen erlauben einen neuen Blick auf diesen Autor. Adolf Wölfli hat Medienangebote auf eine Weise genutzt, die heute allgemein verbreitet zu sein scheint.

„Es atmet, wärmt, ißt. Es scheißt, es fickt. Das Es. ... Überall sind es Maschinen [...].“ So beginnt der Anti-Ödipus von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Der Körper als „Wunschmaschine“, als Maschine des Begehrens. Gerade das „Surfen im Medienmeer“ (Scheffer), das einfach unterwegs ist, das nirgendwo beginnt und nirgendwo endet, scheint den Bewegungen des Begehrens, das sich nach Lacan immer auf etwas anderes richtet und sich nie erfüllt, am ehesten zu entsprechen. Surfen ist aber keine Erfindung der Popkultur der neunziger Jahre; es läßt sich auch anläßlich von sogenannten „psychopathologischen“ Texten und Kunstwerken beobachten - so etwa bei Adolf Wölfli.

Adolf Wölfli, der sein Leben im Kanton Bern zubrachte, war ein einfacher Knecht.1890 wird er wegen Notzuchtversuchen an zwei kleinen Mädchen zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach einem erneuten Versuch des sexuellen Mißbrauchs im Jahr 1895 weist man ihn wegen Unzurechnungsfähigkeit und Schizophrenie in die Irrenanstalt Waldau bei Bern ein, wo er sein restliches Leben verbringt. Um 1900 beginnt er mit seiner künstlerischen Produktion und schafft ein äußerst „komplisziertes Wärk“, ein multimediales Ereignis, das aus 25 000 Seiten Text, bildnerischen Darstellungen, Musikkompositionen und Fotos besteht. Adolf Wölfli, der auch mit „Adolf Wölfli. Gedicht“ unterzeichnet, entwirft mit diesem Monumentalwerk eine imaginäre Autobiographie. Die gleichsam endlose „Erzählung“ trägt den Titel „Von der Wiege bis zum Graab. Oder, Durch arbeiten und schwitzen, leiden, und Drangsal bettend zum Fluch“.

Im Mittelpunkt der Autobiographie stehen Berichte über die imaginären Reisen der Familie Wölfli und ihrer Freunde. Diese Reisegruppe, die Wölfli die „Schweizer Jäger und Natuhrvohrscher=Avaantgaarde“ nennt, besichtigt einen neu erfundenen Erdball und das Weltall, wobei es schon einmal vorkommt, daß Wölfli einen Strumpf verliert und daraufhin von Madrid nach Zürich wandert, um das verlorene Utensil bei der „Finderin“ abzuholen. Mit militärischem Drill hält Wölfli die „Avaantgaarde“ und die Leser zur Weiterreise an: Nur nicht an einem Ort verweilen! Ruhelos surft Wölfli durch eine imaginäre Welt.

Diese phantastische Welt entspringt weniger der „Wahrheit“ einer wie auch immer gearteten „ursprünglichen Natur“ als vielmehr der Welt der Medien. Während Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé in Wölflis Werk den Ausdruck einer vollkommenen reinen Unschuld sehen, hat uns Ralph Schröder darauf aufmerksam gemacht, daß Wölflis Schreiben vor allem von seiner Lektüre von Zeitschriften inspiriert ist. Rilke forderte anläßlich Wölfli noch, daß psychische „Krankheitssymptome zu unterstützen wären, weil sie den Rhythmus heraufbringen, durch den die Natur das ihr Entfremdete wieder für sich zu gewinnen und zu einem neuen Einklang zu melodisieren versucht.“ Freilich verweisen Wölflis Texte auf Unbewußtes und auf Verdrängtes. Allerdings sucht sich das Begehren Wölflis die Erfüllung seiner Lust in den Medien. Das Begehren drängt immer zur Realisierung einer Wirklichkeit, die in der Gegenwart eben noch nicht realisiert ist.

Gerade die Massenmedien ermöglichen das Erlebnis einer fiktionalen Welt als realer Präsenz. So ist zur Zeit ein Boom von „Mystery-Serien“, von Reportagen und Talkshows über sogenannte „unerklärliche Phänomene“ zu verzeichnen ist - über UFOs, Bachblüten und Fernheilung. Am 11. April 1997 sendet Pro Sieben sogar eine Talkshow zum Thema „Meine Katze kann hellsehen“. Massenmedien sind eben auch nur spirituelle Medien. Sie ermöglichen die Ästhetisierung des Daseins, so daß Wölfli sagen kann: „Engel seid Ihr Alle: Bis in Ewigkeit.“ Der Dadaist Johannes Baader, der sein Leben und Schreiben ebenfalls an den Medien orientierte, wurde nicht müde, seinen Leitsatz zu wiederholen: „Die Menschen sind Engel und leben im Himmel.“ (Siehe meinen Artikel: Johannes Baader - Das Leben als Medienereignis. In: Medien-Observationen)

Einer der meist verwendeten Begriffe Wölflis ist „Information“. Freilich verwendet er diesen Ausdruck in vielen Bedeutungen, die nicht dem normalen Gebrauch entsprechen (er spricht z.B. von „Engel in fliegender Innformattion“), so wie er überhaupt viele Fremdwörter in seine Texte montiert. Dies läßt sich im Hinblick auf Wölflis Vorliebe für den Klang ungewöhnlicher Wörter interpretieren. Nichtsdestoweniger deutet sich das Informationszeitalter in Wölflis Werk schon an.

Adolf Wölfli, der in der Irrenanstalt von der Außenwelt abgeschlossen ist, nimmt die Realität vor allem durch die verschiedenartigsten Medien wahr; seine Welt ist hochgradig durch Lektüre vermittelt. Er verarbeitet in seinem Werk mittels genauer oder verfremdeter Zitate literarische Klassiker, populäre Reiseberichte, Kalender- und Illustriertenartikel, die Bibel, Volkslieder und Schulbücher, eben alles Geschriebene, das in der Irrenanstalt greifbar ist. Die Stimmen verschiedenartigster Texte vermischen sich: „Wehr reittet so spät, durch's Eichen=Hain;/ Vohr Gottes holden, Engel;/ Ich glaube gewiß, Es ist der Kain; Drumm leg'/ ich mich zu'r Ruh./ Den Saamen v'rsäht , man sih't den Rain: Und/ Duh bist doch, ein Bengel;/ Die Haube zerriß, in großer Pain; Leb' wohl du/ alte Kuh. Gez. Engel, Beritteritanderitang.“

Von besonderem Interesse ist für Wölfli die Zeitschrift „Über Land und Meer. Allgemeine illustrierte Zeitung“ (Stuttgart 1858-1923), die es ihm mit ihren geographischen Beschreibungen ermöglicht, die entferntesten Gegenden der Erde kennenzulernen. Der Verleger dieser Zeitschrift avanciert bei Wölfli sogar zeitweilig zum Chef der gesamten „Natuhrforscher-Avantgaarde“. Wölfli nutzt dieses Medienangebot auf eine Weise, die das Berichtete mühelos auf seine eigene Person bezieht. Die Fiktionen der Medien werden somit für Wölfli real: Er hat Amerika selbst gesehen, obwohl er niemals dort war. Er „schlupft“ der Prinzessin Stephanie von Belgien, die als reale Person von 1864 bis 1945 lebte, zwischen die Beine, um sie „von Untten zu liebkoosen. Hahahahahahahaha.“ Adolf Wölfli kennt Stephanie von Belgien - worauf er selbst hinweist - von einer Abbildung aus der Zeitschrift „Über Land und Meer“.

Auch eine ganze Reihe ständig wiederkehrender Themen verweist darauf, daß Wölflis Text in hohem Maß von Illustrierten und Zeitungen seiner Zeit inspiriert ist. Es handelt sich um jene Themen, die auch in den Medien einen hohen Nachrichtenwert besitzen: Sensationen, Katastrophen, Verbrechen, Sex und Gewalt. Wölfli treibt diese Orientierung an Nachrichtenwerten auf die Spitze. Immerhin war auch er in hohem Maße an den „Einschaltquoten“ interessiert, konzipierte er doch sein Werk nicht als eine „therapeutische“ Beschäftigung für sich selbst, wie man denken könnte, sondern als Manuskript, das Anweisungen an Setzer und Verlag für die Veröffentlichung enthält und das entsprechend promoted wird; so wird der „liebe Leser“ aufgefordert: „kaufe Dihr in irgend einer Deutsch-schweizerischen Buchhandlung Das Buch mit folgendem Titel: Von der Wiege bis zum Graab: oder, Durch arbeitten und schwitzen, Leiden und Drangsal, bettend zum Fluch. Verfasser, Adolf Wölfli, Bern. Schweiz. Europa.“

Anläßlich des Textes ist eine ausgiebige zynische Lust des Autors an Katastrophenschilderungen zu konstatieren: Erdbeben, Eisenbahnunglücke, Brände usw. Eine Katastrophe jagt die andere, jedes Unglück wird von einem noch größeren übertroffen; die Idylle währt nicht lang. Die Lust an der Beobachtung des Unglücks wird nicht verschwiegen: „Wenn es irgendwo brennt, dann sind die Wölflis dabei, ausgerüstet mit 'etlichen praktischen, zusammenlegbahren alluminium=tischchen, und ditto Sessel zum schreiben und zeichnen'.“ (Schröder) Ausführlich werden bei Wölfli die verheerenden Schäden, die astronomischen Schadensummen und die phantastische Anzahl der Toten geschildert. Wie in der heutigen Medienwelt auch bedingt die Inflation von Katastrophen und Verbrechen die Banalisierung dieser Ereignisse. Der sexueller Mißbrauch einer Prinzessin und die darauf folgende Kreuzigung des schuldigen Ich-Erzählers wird nur noch beiläufig und völlig unspektakulär geschildert: „Als Wihr damals die genantte Gegend ausforschten und ausinspiziertten, inszeniertte ich an einer noch sehr jungen, aber schönen Gross-Gross-Keiserlichen Krohn-Prinzessinn untter gegenseittigem Einverständnis, ein Sittlichkeits-Delikt, wobei ich auch sogleich, ertapt wurde, was nun zu'r Folge hate, das ich polizeilich arrettiert, vohr den Richter gefüeert, da selbst verhöhrt und, zum sofortigen Kreutzes-Tood veruhrtheilt wurde. Das Uhrtheil wurde auch sogleich erbahrmungslos, an mir vollstreckt. Ich wahr eine gäntzlich verstümmelte Leiche: Und trotzdem, habe ich Tags darauf, die dortige, gross grosskeiserliche Krohn-Prinzessin Ormara, inmitten eines furchtbahren Meeres-Sturm vom Ertrinkens-Tood errettet.“

Wölflis Medien-Rezeption ist durch eine Nutzungsform gekennzeichnet, die sich gleichsam als „Surfen“ beschreiben läßt. Surfen ist eine kulturelle Praxis der Mediennutzung, die nicht mehr darauf hinzielt, ein Medienangebot (einen Text, einen Film usw.) als Ganzes zu rezipieren, und die zur Zeit vor allem von Jugendlichen gepflegt wird. „Man startet nicht an einem vorgegebenen Punkt und hört nicht an einem vorgegebenen Ende auf, sondern man spielt sich ohne besondere Medienpräferenz und mit geringer semantischer Präferenz ein in die anfangs- und endlosen und gleichermaßen gültigen Medienwellen.“ (Scheffer) Wölflis Werk verweist auf ein solches Surfen im „Medienmeer“ (Scheffer), im „fast endloosen Gross-Ost-Meer“ (Wölfli) - auf ein Surfen also, das nicht auf ein Medium oder auf eine Genre fixiert ist, das einigermaßen wahllos alle Diskurse vermischt, wobei die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion, zwischen Erhabenem und Banalem, zwischen Gut und Böse usw. nivelliert werden. Wölflis Welt ist eine segmentierte, fragmentierte und collagierte Welt, die ihr „Gemacht-Sein“ nicht mehr verbirgt.

Immer mehr bezieht der Mediensurfer Wölfli auch Reklameseiten aus Zeitschrifen in seine künstlerische Produktion mit ein. Vor allem in den „Heften mit Liedern und Tänzen“ (1917-1922), in den „Allbumm-Heften mit Tänzen und Märschen“ (1924-1928) sowie im 8404-seitigen Spätwerk, das Wölfli als „Trauer-Marsch“ bezeichnet und an dem er die letzten zwei Lebensjahre arbeitet, sind Werbeanzeigen integriert. Im „Trauer-Marsch“ stehen die angepriesenen Produkte im Kontext von phonetischer Poesie - rhythmische Lautgebilde, denen keine spezifische Bedeutung zueigen ist. Geht man davon aus, daß sich in phonetischer Poesie die Stimme des Begehrens manifestiert, dann richtet sich dieses Begehren nunmehr auf die Verheißungen der Warenwelt, auf Campbells Tomato Soup, auf Coca Cola, auf Packard-Automobile usw. und auf die in der Reklame abgebildeten Models. Die phonetische Poesie, die einst als religiöse Glossolalie auf die Erfahrung Gottes verwies, richtet sich nun auf die verschiedenartigsten Produkte des Alltags.

Gleichsam automatisch gleitet Wölfli durch die Welt der Zeitschriften. Surfen fungiert als „Automaatische Aktion“ - ein Begriff, den Wölfli u.a. immer wieder zur Beschreibung von Uhrwerken verwendet. Der Mensch als Anhängsel der Medien-Maschinen. Von automatischer Re-Aktion auf Medien-Angebote zeugt nicht zuletzt Wölflis Vorwegnahme der Techno-Kultur: „Ebjä!! Mathilde füehrte die Kinder in der Nähe des einten Geigerstuhls (Genanntter Saal hat nämlich zwei) inn die Eke, auf eine 15 Fuss Quadraatdurchmesser haltende Mettal-Platte, legte Ihnen die Hände Tantz-Kunst-gerecht ineinannder und, sofort schwangen sich Beide im entzükensten Reigen. Sie mussten, ob Sie wollten oder nicht. Automaatische Aktion. Ha-ha-ha-ha-ha-ha.“ Bisher stand die Wölfli-Forschung vor dem Rätsel, was es zu bedeuten hat, daß Wölfli ständig Absätze mit „Ist 16 Schlag Marsch“ und ähnlichen Bemerkungen beendet; das sind - so meine ich - die „Beats per Minute“, die im Hintergrund des Textes hämmern, aber auch immer wieder an die Oberfläche drängen. Das obstinate Trommeln der Maschinen, der Lärm der Druckerpressen, der Rhythmus des Schaltens in einer vernetzten Welt: „Zitt=Ring im, Chrütz Bling nimm; Pemm=/ bimm=bamm,=bomm; bumm“. Im Verborgenen des World Wide Webs rechnen die Rechner, wie auch Wölflis Text phantastische Rechnungen enthält - ein imaginäres Computerprogramm. Der Rhythmus der Maschinen ist der Widerhall einer strengen mathematischen Schrift: „Allgebrah ist Musik“, sagt Wölfli.

Surfen erscheint als automatische Manifestation des Begehrens, das sich immer auf etwas Anderes richtet. Der Surfer verweilt nur dort, wo das Begehren kurzzeitig befriedigt zu sein scheint. Da aber das Begehren prinzipiell niemals vollkommen erfüllt werden kann, muß auch das Surfen weitergehen: „Von einer Wellt zu'r Andern; Hat Uns der Herr gesanntt.“ Surfen hat keinen festgelegten Anfang, noch ein zwingendes Ende. Wölflis Text ist potentiell unendlich, er kommt von nirgendwo, er führt nirgendwo hin: Er ist unterwegs. Durch seinen collageartigen Charakter verbirgt dieser Text seine Unabgeschlossenheit nicht, zumal wenn der Dichter die Leser auffordert: "Dihr Chönnat deD'Liad'r=Thäxt zu dena Bild'r sälba'r dichta". Wölflis Text ist nur surfend erfahrbar, er widersetzt sich einer linearen Lektüre. Die sich über Seiten hinweg ziehenden Aufzählungen und Zinsrechnungen, die ständigen Wiederholungen, die Inkohärenz des Erzählten, die Desemantisierungen und die Länge des Werkes (25 000 Seiten) verhindern traditionelle Rezeptionsgewohnheiten. Der kohärente abgeschlossene Text entpuppt sich heutzutage als Makulatur. Davon zeugt Wölflis Unternehmung, die aktueller denn je zu sein scheint.



Abbildungsnachweis
Abbildungen aus: Wölfli. Dessinateur - Compositeur. Hg.: Adolf-Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern/Collection de l'Art Brut. Lausanne 1991.



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