Literaturdidaktik / Literaturwissenschaft / Literaturunterricht


Klaus Maiwald

Literatur, Lebenshilfe, Laptop - eine didaktische Observation

Abstract: Das Jahr 1999 bietet Anlass für eine ironische Observation, in der das Literaturdidaktische zugleich Perspektive und Gegenstand ist. Der Blick richtet sich auf die Literaturwissenschaft sowie auf das Verhältnis von Literaturdidaktik und Literaturunterricht. Die “empirische” Basis sind Kurzprotokolle von Unterrichtsstunden aus 50 Jahren über ein Hauptwerk der Nachkriegslyrik. Es erweist sich, dass die Literaturwissenschaft in ihrem Kampf um Gegenstand und Diskurshoheit von der Didaktik lernen könnte und dass die praktische Folgenlosigkeit literaturdidaktischer Theorie ein Mythos ist. Am Ende ein Ausblick auf die Zukunft von Literaturunterricht, -wissenschaft und -didaktik unter den Bedingungen totaler Medialität.


I

Die Zeit ist reif, in dieses Forum auch den Diskurs der Literaturdidaktik einzuflechten. Warum? Wir schreiben 1999. Sei ohne Sorge, ich will nicht dem grassierenden Milleniumsmystizismus huldigen, will nicht in Antizipation epiphanischen Seinsrausches ontisch erregter Vibration anheim fallen. Meine Beweggründe sind prosaisch. Prosaisch dergestalt, dass man schleunigst etwas ins Licht der Monitore stellen sollte, bevor einen die Weichware ins telematische wasteland des Jahres “00” bootet. Das Jahr 1999 ist freilich noch in weiterer Hinsicht von Belang. Was dem Herzen vieler kaum bewusst: Der Republikgeburtstag bedeutet auch 50 Jahre Schule, 50 Jahre Literaturunterricht, 50 Jahre Literaturdidaktik, davon übrigens ziemlich genau 25 im Zustand universitärer Installiertheit. Grund genug für leise Schauer?

Worum geht es mir aber substantiell? Im Folgenden ist das Literaturdidaktische zum einen Perspektive, zum anderen Objekt der Observation. Vom Standpunkt des Didaktikers werfe ich einen Blick auf die Literaturwissenschaft und auf den Literaturunterricht. Hoffend, dass der blinde Fleck nicht zu groß werde, unterziehe ich dabei auch die Literaturdidaktik selbst einer ironischen Beobachtung.

Ich schiele zunächst schüchtern zur Literaturwissenschaft hinüber. Was Didaktik ist und tut, galt jener meistens als schleierhaft, manchmal als suspekt, mitunter gar als sinnfrei. Aber da die Didaktik irgendwie (und wie man selbst ja auch) mit der Literatur befasst zu sein schien, ließ man sie gewähren. Etwa so, wie man sich wenig um die Dienstmagd kümmert, die irgendwo in der Dachkammer der eigenen herrschaftlichen Villa werkelt. Doch seit geraumer Zeit wird die grande dame selbst von jähen Verunsicherungen ihr Wohnrecht betreffend heimgesucht. Mehr als 150 Jahre tanzte sie elegant um eine Mitte, in der (wie betäubt auch immer) die große Dichtung stand - und hub dabei auch recht bald an, grazil um sich selbst zu kreiseln. Jetzt aber raunt es allerorten: Alles unter der Sonne sei doch irgendwie Text oder Medium oder Kommunikation oder Aisthesis oder so. Ob Stichstraße oder Stechlin - strukturell sei beides Kultur, also sei da prinzipiell kein Unterschied, weshalb man sich dem konzeptionell in ähnlicher Manier widmen müsse. Und die Literaturwissenschaft hat zu kämpfen, findet sie sich doch final ertappt bei dem, was sie lange gut zu verbergen wusste: Ihren Gegenstand, den gibt es gar nicht; den richtet sie sich nach eigenem Gutdünken stets selbst zu! Durch wen könnte der Bedrängten Trost und Hilfe werden? Ich sage: Durch die Literaturdidaktik.

Und wie steht es mit dem Literaturunterricht? Begraben will ich einen Mythos, nämlich den der Folgenlosigkeit didaktischer Theoriebildung für die Unterweisung unserer Jugend. In jenem Mythos ist die Literaturdidaktik, wenn schon keine solipsistische Entität, dann doch gewissermaßen ein selbstreferentielles System. Sie registriere, so die Klage, den Literaturunterricht doch lediglich als Irritation in ihrer Umwelt, die sie dann rein systemintern weiter prozessiere. Ich verzichte auf die weitere Ausbreitung zeitgemäßen, sozusagen theoretisch korrekten Vokabulars und stelle statt dessen die Frage: Wie verwandelt man einen Mythos zurück in Geschichte? Antwort: Indem man in selbige blickt. Zu diesem Zwecke fördere ich aus Archiven fünf Unterrichtsstunden zu einem der gewaltigsten Gewebe deutscher Poesie zu Tage.



II

Sommeranfang

Mit Frischem füllen sich die Keller.
Es sinkt der Öl- und Lichtverbrauch.
Die Nächte werden wieder heller.
Der Tag nimmt zu. Die Oma auch.

(H. Erhardt)

Ein Werk, fürwahr, von solch formaler Stringenz und semantischer Wucht, dass gerade Heranwachsende Gefahr laufen könnten, davor zu erstarren wie einst Lots Weib. Doch immer wieder waren es unverdrossene, zwischen A 13 und C 4 plangestellte Männer und Frauen, die solcher Petrifikation erfolgreich wehrten. Ja, DeutschdidaktikerInnen waren es, die die monolithische Hermetik derartiger Texte aufbrachen und ihnen immer neue kulturelle Relevanz einhauchten. Ihrem vor kaum etwas Halt machenden Denken und Tun verdanken es Myriaden junger Menschen draußen in den Schulen des Landes, dass ihnen Schätze zu Teil wurden, die da beispielsweise heißen: Lebenshilfe, Literaturkunde, Emanzipation, Lesefreude und Kommunikatkonstruktion. Ihr zögert? Dann lest, Zweifler!


1. Lebenshilfe: Eine Volksschule um 1950

Die Buben und Mädchen schlagen ihre Lesebücher (“Blumige Saat”. Verlag Volk und Wort 1946ff.) auf. Die Doppelseite ziert links ein weichzeichnendes Aquarell mit dem Titel “Wachsamer Hirte”: Hügellandschaft, tiefstehende Sonne, Baumgruppe, Schäfer mit Herde und Hund. Rechts das Gedicht. Der Lehrer trägt es vor. Die Kinder sind erlebnishaft angemutet und schweigen ergriffen. Aufgefordert durch den Lehrer, nennen sie Früchte des Sommers und erfahren von ihm Möglichkeiten ihrer sachgerechten Einkellerung. Ein Mädel trägt das Gedicht dann noch einmal vor. Zum Besseren in sich geführt, schreiben die Kinder sodann einen Aufsatz über das Thema: “Meine Oma ist dick und immer vergnügt!”


2. Literaturkunde: Eine Realschule um 1965

Das Gedicht befindet sich im Lesebuch “Struktur und Gattung”. Damit die Schüler den Text bearbeiten können, ist er mittels Matritze vervielfältigt worden. Der Lehrer teilt die aschfahlen, doch wohlriechend alkoholisierten Blätter aus. Zur Ausnüchterung dienen die unter dem Text stehenden Leitfragen und Arbeitsaufträge:

  1. Woran siehst Du, daß dies ein Gedicht ist?
  2. Unterstreiche das Reimwort zu “auch” mit blauer Farbe!
  3. Bestimme das Reimschema!
  4. Trage die Hebungen (=betonte Silben) im ersten und dritten Vers mit grüner Farbe ein!
  5. Handelt es sich um einen Trochäus?
  6. “Füllen” und “sinken” stellen einen Gegensatz dar. Finde weitere solcher Wortpaare und ringle sie mit Bleistift ein! Frage Deinen Lehrer nach dem Fachbegriff für “Gegensatz!”
  7. Was ist gemeint mit dem Satz “Der Tag nimmt zu”? Begründe!

Nachdem die Schüler all dies im Frontalunterricht oder in Einzelarbeit geklärt haben und die Ergebnisse in den Heften festgehalten worden sind, werden sie mit folgender Hausaufgabe entlassen: Betrachte in Deinem Lesebuch die Auszüge aus Shakespeares “Sommernachtstraum” und Stifters “Nachsommer”! Was ist dort anders als im Gedicht?


3. emanzipation: eine hessische Gesamtschule 1972

Der Text befindet sich in der Sektion “gegen den strich” des Lesebuches “textProteste”. Die Schüler lesen ihn still und geben in einer Spontanphase ihrer Empörung Ausdruck. Sodann werden je nach Förderzug Arbeitskollektive gebildet, die den Text im Hinblick auf folgende Arbeitsanweisung untersuchen:

  • Kollektiv A: Unterstreicht den Satz “Die Nächte werden wieder heller” und diskutiert darüber!
  • Kollektiv B: Weist am Text nach, wie hier die Leser in volkswirtschaftlich gewünschte Sparsamkeit hineinmanipuliert werden! (Beachtet besonders die ersten beiden Zeilen!)
  • Kollektiv C: Zeigt auf, wie hier das falsche Bewußtsein der weiblichen Hauptfigur (“Oma”) systemaffirmativ zur Repression des Unterschichtlesers funktionalisiert wird!

Im Anschluss an die Arbeitsphase stellen die Kollektive ihre Ergebnisse vor. Es wird darüber diskutiert und abgestimmt, welches in die Hefte aller übernommen wird. Anschließend ein Lehrervortrag über den Autor als Symbolfigur des restaurativen Kinos der 50er und 60er Jahre, mit dem die Kulturindustrie die sozio-ökonomische Enteignung der Arbeiterklasse vernebelte. Die Stunde schließt mit einem Hinweis auf das nachmittägliche Projekt: Wir lesen Texte von Freiligrath und Becher an den Fließbändern unserer Stadt!


4. Lesefreude: Eine Hauptschule 1988

Der Unterricht beginnt mit einem Brainstorming zum Wort “Sommer”. Sodann wird der Text ohne Titel präsentiert. Die SchülerInnen sammeln mögliche Titel, die an der Tafel festgehalten werden. Sodann können sie zwischen drei Aufgaben wählen:

  1. Versetzt Euch in die Oma und schreibt die Geschichte aus ihrer Sicht!
  2. Stellt das Sinken des Energieverbrauchs in einem Standbild dar!
  3. Malt ein Bild zu einem Wort Eurer Wahl!

Danach werden die eingangs gemachten Titelvorschläge verhandelt, indem man sie mit dem Originaltitel konfrontiert. Als Hausaufgabe sollen die SchülerInnen den Text so verändern, dass er ihnen noch mehr Spaß macht. (Wichtig ist dabei aber nicht das Ergebnis.)


5. “TEXT” in körperbezogener Kommunikatkonstruktion - Eine Grundschule an der Schwelle zum neuen Jahrtausend

Die SchülerInnen haben die Tische zur Seite geschoben. Sie stehen im Kreis auf ihren Stühlen und halten sich mit den Händen nach oben an selbigen. Der/die LehrerIn hat die Buchstaben, die das Wort “Sommeranfang” bilden, auf bunte Kärtchen gemalt und trägt diese am Leib. Er/sie dreht sich langsam um die eigene Achse. Die SchülerInnen rufen Wörter, die sie aus den Buchstaben konstruieren. Fällt das Titelwort, klatscht der/die LehrIn in die Hände, die SchülerInnen springen von den Stühlen und verteilen sich im Raum (Mit Frischem füllen sich die Keller). Auf erneutes Klatschen erstarren sie in ihrer jeweiligen Position. Nun geht der/die LehrerIn herum und lässt aus einer ausgehöhlten Feldfrucht Kärtchen ziehen, auf denen jeweils ein Gedichtwort steht. Die Kinder müssen sich ihr Wort einprägen. Dann wird der Raum verdunkelt (Es sinkt der Öl- und Lichtverbrauch). Jedes der Kinder spricht nun immer wieder und immer lauter sein Wort. Der/die LehrerIn betätigt während des Crescendos den Dimmer (Die Nächte werden wieder heller). Er/sie hat sich in der Dunkelheit mit einem Kissen ausgestopft. (Die Oma auch). Auf einen Wink bricht das Fortissimo der SchülerInnen ab und die Buchstabenkärtchen fallen vom LehrerInnenpullover zu Boden. Die Kinder lösen sich aus ihrer Erstarrung und laufen auf den am Boden verteilten Kärtchen herum: “TEXT” wird begehbar! In diese Aktivität hinein ertönt aus der Sprechanlage des Klassenzimmers: Verblüht sind Dahlien und Ginster / Die Rechnung steigt für Öl und Licht / Die Nächte werden wieder finster / Der Tag nimmt ab. Die Oma nicht. Die SchülerInnen setzen sich dann auf die immer noch im Kreis stehenden Stühle und verhandeln nun die Alterität dieser implizit literarisierenden Diskrepanzerfahrung mit dem Ziel eines konsensuell viablen Kommunikats. Sie dürfen dabei sprechen, sollten aber, um vorschnelle Diskursschließungen zu vermeiden, keineswegs den Begriff “Winter” verwenden. Damit sie ihre Äußerungen als reine Schallkörper wahrnehmen, haben sie einander die Rücken zugekehrt. Eine Hausaufgabe entfällt.

***

Wie Hans Pfeiffer zu seiner Feuerzangenbowle kehre ich aus fabulierten Schulstuben zu meinen Eingangsüberlegungen zurück. Was zeigen die Protokolle? Der Literaturdidaktik gelingt womöglich einfacher als der mühsam laborierenden Literaturwissenschaft, auf die Verflüchtigung der Literatur nicht nur zu pfeifen, sondern sie zum Movens des eigenen Diskurses zu machen. Denn die Literaturdidaktik musste sich stets akut dessen bewusst sein, dass “Text” oder “Literatur” recht exklusive Kategorien sind, und daher das Augenmerk auf die kontextuelle Vielgestaltigkeit kulturell-ästhetischer Praxis richten. Hierbei geriet sie fortwährend in Kontakt mit diversen Bezugswissenschaften. Jene leben mit uns gewöhnlich in Symbiose, trachten aber bisweilen auch als Rudel hungriger Wölfe mit geifernden Lefzen nach unserer Einverleibung (insbesondere dann, wenn wir nicht mit ihnen heulen). Weil sie also reichlich Übung darin hat, tut sich die Didaktik, so scheint mir, auch leichter im produktiven Umgang mit den üppig aus dem Boden (und wie sie selbst vielleicht gelegentlich ins Kraut) schießenden medien-, kultur-, kommunikations- usw.-wissenschaftlichen Diskursen.

Und der Mythos der um sich selbst kreisenden Literaturdidaktik? Ich wünschte, es hätte zu seiner Erschütterung weniger satirischer Mittel bedurft. (Wenngleich ich meine, dass ein wenig Selbstironie der Wissenschaft generell nicht schaden könnte.) Sie bewegt sich schon immer wieder ein wenig, die sagenumflorte “Praxis”. Ohne Frage: Viel von dem, was die Literaturdidaktik aus ihrem Füllhorn gießt, verdunstet entweder auf den staubigen Wegen in die Klassenzimmer, oder es wird dort bedenklich verpanscht. Dass dem so ist, zeigten die Unterrichtskarikaturen; warum es so ist, führe ich nicht weiter aus. Freilich: Weder ausgebliebene noch “unterkomplexe Applikationen” (Jahraus) entheben uns der Aufgabe, diese Praxis weiter bewegen zu wollen.



III

Die Frage stellt sich indes, ob es diese zu bewegende Praxis bald überhaupt noch geben wird: Lehrer und Lehrerinnen? Muffige Klassenzimmer voller mit Sentenzen und Kasuallyrik gekerbten Sitzmöbeln? Texte in zerfransten, reich glossierten Lesebüchern? Schüler und Schülerinnen mit Wurstbroten im Ranzen und Pickeln im Gesicht? Vermutlich nicht.


Mediale Totale: Ein Eduterminal im Jahre 2010

Der Ediuser (= Educationally involved user) hat sich unter der Website www.edutainme.com in den Edu-Server seiner Kommune eingeloggt. Da auf seinem tv (= text voucher) noch Credits sind und er noch Aps (= activity points) zu sammeln hat, hat er auf dem Icon “Wanna Rhyme?” geklickt. Der Text erscheint vielfarbig, blinkend und in dreidimensionaler Rotation. Mit bestimmten Anwendungen können Größe, Farbe, Typ und Rotationsbewegung der Schrift manipuliert werden (je 5 Aps). Hyperlinks zu den Begriffen “Keller”, “Öl” und “Oma” sowie die E-mail Adresse heinz@demised-virtualpoets laden den User zu weiteren Recherchen ein (je 10 Aps). Um die für die Beendigung des Edu-Programms notwendige Anzahl an Aps zu erreichen, kann der User nun entweder die Schriftkonfiguration in seine eigene Homepage ziehen (wo sie eine Stunde lang installiert bleiben muss) oder aber einen Chatroom aufsuchen und sich dort ein wenig mit pensionierten EO`s (Educational Operators /“Lehrer”) unterhalten (je 20 Aps). Ist die erforderliche Aps-Zahl erreicht (in der Regel nach insgesamt 30 Minuten), verkünden eine Fanfare und ein elaboriert gestaltetes Schriftband: “This program has been brought to you by MacroSoft - the SoftBrain People!” die erfolgreiche Beendigung des Edu-Programms. Datenhelm und -handschuh des Users sind somit für den Rest des Tages wieder zum Gebrauch nach Lust und Laune freigegeben.

***

Soll man über solche Visionen avancierter ästhetischer Praxis jubil- oder lamentieren? Beides könnte ich mit guten Gründen. Wo aber wird wohl die Germanistik abbleiben? Vielleicht kommen Literaturwissenschaft und -didaktik - dann völlig losgelöst von jedweden Materialitäten - zu sich (und zeigen dem Weltgeist, wie man das anstellt). Vielleicht werden sie aber auch rüde aus dem totgesagten Park staatlich finanzierter Wissenschaften exiliert und müssen Asyl in einem sicheren Drittmittelland beantragen? Vielleicht findet sich etwas dazwischen? Vielleicht allem und allen zum Trotz irgendwas mit Büchern?



Ausführlichere Angaben zum Thema über e-mail beim Verfasser des Artikels: medienobservationen@lrz.uni-muenchen.de

   

    Sämtliche Beiträge dürfen ohne Einwilligung der Autoren ausschließlich zu privaten Zwecken genutzt werden. Alle Rechte vorbehalten.
© Medienobservationen 1999.