Literatur / Neue Medien / Internet / Bildwahrnehmung


Bernd Scheffer

Franz Kafka ans Telephon!
Warum die Literatur zu den neuen Medien gehört und ihr vor der Zukunft nicht bange sein muß

Literatur muß spätestens jetzt, am Ausgang des Jahrhunderts, in der Hauptsache gerade für das offen sein, was scheinbar gar nichts mit ihr zu tun hat: Sie muß offen sein für die Erfahrungen, die andere Medien bieten. Bei den kulturkonservativen Verteidigern der Literatur, auch bei den meisten Schriftstellern kursieren, getarnt als Argumente, unglaubliche Ahnungslosigkeiten über die neuen und damit aber auch über die alten Medien. Diese kulturkonservativen Beobachter blicken gleichsam nur noch aus den Heckfenstern ihrer alten Vehikel, und so sehen sie nicht einmal die Schlußlichter der längst abgefahrenen Züge. Wenn etwa jemand den neuen Medien die Möglichkeit abspricht, überhaupt „ideell Neues" zu bieten, so gibt es wohl nur ein einziges Motiv für derlei Behauptungen: daß da wieder einer versucht, sein altes, antiquarisches Wissen als aktuell zu verkaufen. Die gegenwärtigen Diffamierungen der Medien sind zu Recht als schlichtweg „neurotisch" bezeichnet worden: Immerhin verdrängen sie ja Einsichten, die offenkundig verfügbar sind. Dauernd wird Literatur als großartiges, als exklusives Versprechen präsentiert; jedoch (wenn überhaupt) nur in äußerst seltenen Fällen wird das einmal gehalten, was fortlaufend versprochen wurde. Literatur ist zum einzigen Mediengebot geworden, das sein Renomée von der seltenen Ausnahme, nicht aber von der Regel ableitet. Freilich haben nicht alle, die die neuen Medien feiern, allein deshalb schon recht. Die Fragen, die sich anläßlich der Arbeiten von Vilém Flusser und Friedrich Kittler ergeben, sind weitaus brauchbarer als die dort proklamierten Antworten – allein schon wegen der Selbsthypnotisierung, der diese Autoren unterliegen. Wenn es auf Differenzierung ankommt, dann knicken auch solche Thesen wie die vom „Ende der Gutenberg-Galaxis" leicht ein und reduzieren sich auf das, was alle immer schon gewußt haben, daß nämlich die Druckmedien keine Alleinherrschaft mehr haben. Die neuen Medien sind mit alten Medien vielfältig verbunden. Die „Lesbarkeit der Welt" war immer schon „multimedial": Nicht nur der Blick auf Gegenwart und Zukunft, auch die historiographische Analyse zeigt nicht nur die Alphabet-Schrift, vielmehr entdeckt sie dominant Bilder und Töne, auch sprechende oder zu lesende Körper, und das heißt hier eben weit mehr als nur „sprechen" und „lesen" im engeren Sinne.

 

Einsteins Zunge

Es gibt nicht hier die Literatur einerseits und dort die Medien andererseits. Wenn man Sprache mit allen Konsequenzen als ein Medium versteht, dann zeigen gerade die technischen, die elektronischen Medien jetzt mit voller Deutlichkeit, was für Sprache und Literatur eigentlich schon von Anfang an gegolten hat: jedes Medium, auch Sprache, bringt über seine technischen Eigenschaften spezifische Form- und Inhaltsveränderungen mit sich; jedes Medium, auch Sprache, bringt Simulationen hervor und erzeugt neue Welten, hat bereits das Problem von „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" – ohne daß sich dann noch Echtheit, Authentizität jemals garantieren ließen. Der vielleicht bedeutendste Roman über die Geschichte der Bundesrepublik liegt gar nicht in Buchform vor, sondern besteht aus Bildern und Tönen und viel aus Musik: Edgar Reitz' Heimat und Zweite Heimat. Allein schon die lange Kette von Hinweisen zur Bildlichkeit von Sprache spricht gegen die strikten kulturkonservativen Polarisierungen zwischen Schrift- und Bildkultur, und vor allem hätte man sich – durchaus wahrnehmungstheoretisch fundiert – endgültig klar zu machen, daß Bildwahrnehmung grundsätzlich auch sprachlich codiert ist: Marilyn Monroe auf einem Luftschacht, Willy Brandt kniet, Einsteins Zunge – diese kurzen Formeln, gesprochen oder geschrieben, reichen aus, um die entsprechenden Bilder zu sehen. Das Internet ist vor allem auch dies: Ein gigantisches Schriftmedium, und wer darin nicht zu lesen und zu schreiben versteht, hat sich jetzt schon abgekoppelt. Computergestützte interaktive Medien sind nicht mehr nur etwas für wenige Spezialisten: Es sind Massenmedien mit einer Verbreitung, die schon jetzt die Zahl aller nur belletristisch Interessierten bei weitem übersteigt – aber diese neuen Medien sind ja nicht nur populär, sondern auch höchst anspruchsvoll und herausfordernd: Sie ermöglichen intelligente und multimediale Aktivität: Genau das ergibt eine unübertreffliche Schule für die Literaturproduktion und deren (inter-)aktive Rezeption. Ein Teil der avancierten Literatur ist ja ohnehin nur noch im Internet zu finden.


Die Clip-Schule

Mag sein, daß man sowas braucht zur Finanzierung eines Literaturhauses: Ausstellungen über Michael Ende und Thomas Mann. Wer aber nicht nur die Literatur im Auge hat,der wird sehen, daß eine andere Literatur vieles vorweggenommen und gelehrt hat, was dann erst bei den anderen Medien vollends sichtbar geworden ist. Mit der avancierten Literatur des 20. Jahrhunderts sind die alten Kategorien von Autor, Werk und Rezipient längst geschwunden, bevor dann Videoclips die Frage nach ihnen endgültig sinnlos gemacht haben. In der modernen Literatur (mit Kafka etwa, oder Joyce) zeichnete sich seit langem das ab, was fälschlicherweise als Erfindung der anderen Medien gilt: Franz Kafka hat den Anrufbeantworter mit Schriftausdruck ersonnen – er nannte ihn „Phonoparlographen" – und dieser Phonoparlograph sollte die Kommunikation autonom machen vom Bewußtsein, sollte mit Felice Bauer selbsttätig verkehren und den armen Franz Kafka in Ruhe lassen. Literatur erfindet, wenn sie sich nicht in der Hauptsache auf sich selbst beschränkt, die neuen Medien und deren Theorien: Die avancierte Literatur präsentiert längst vor der elektronischen Ausbreitung die Idee der Textverarbeitungsprogramme; denn die große Literatur des 20. Jahrhunderts ist zitathaft, fragmentarisch, enzyklopädisch und multimedial – und grenzüberschreitend hin zur bildenden Kunst und zur Musik, in einer Intensität, daß man schon umgekehrt zurückfragen muß, was denn eine Literatur taugt, die solche traditionellen Grenzen wahrt, obwohl die seit mehr als hundert Jahren offen stehen – für eine Literatur jedenfalls (und nur sie ist wirklich bedeutsam), die ihre Mittel, die ihre Medien kennt und entsprechend handelt. Die Unterschiede zwischen Mensch und Maschine sind zwar gänzlich nicht weggefallen, aber jedes ernsthafte Nachdenken fördert eher Ähnlichkeiten als Unterschiede zutage – vielfach nachzulesen eben auch in der Literatur seit Oswald Wieners Roman Die Verbesserung von Mitteleuropa von 1969; dort werden „Biomodule" erklärt. „Literatur im engeren Sinne" – das ist es ja gerade, was nicht mehr interessiert. Eine Literatur, die es sich nicht leisten will, für das offen zu sein, was mit ihr scheinbar nichts oder noch gar nichts zu tun hat, wird trotz massenhafter Verbreitung belanglos bleiben. Ein Schriftsteller, der nicht wahrhaben will, daß es Kunst- und Medienangebote gibt, die mit Literatur noch nichts zu tun haben – vom Tanztheater bis zur elektronischen Installation – sollte sein Heil auf Veteranentreffen suchen. Literatur ist nicht genug. Literatur in Zukunft ist die Literatur, die sich – eher der Form nach als im Inhalt – außerliterarische mediale Erfahrung leistet.



Der Text ist die leicht gekürzte Fassung einer Rede (SZ, Feuilleton, 09.06.1997), die Prof. Bernd Scheffer am 7. Juni 1997 im Münchner Literaturhaus anläßlich der Eröffnung gehalten hat. Die Überschriften stammen nicht vom Verfasser selbst.
Ausführlichere Angaben zum Thema über Post und e-mail bei der Redaktion: medienobservationen@lrz.uni-muenchen.de

   

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