Rainald Goetz / Literatur / Web-Site / Techno / Kultur


Thomas Doktor und Carla Spies:

text as text can
- Die neue Erzählung "Rave" von Rainald Goetz und ihre mediale Umwelt


Abstract: Ende März erschien die Erzählung "Rave" von Rainald Goetz. Daß hier die textuelle Rekonstruktion einer Augenblicksästhetik durchgespielt wird, überrascht weniger als ein Blick auf die mediale Umwelt, die der Autor um die Erzählung arrangiert hat.

 

Techno: blitzende Stroboskoplichter, tiefe Bässe, beats, beats, beats und die wogende Menge. Erhaben am Rande der Tanzfläche der DJ, Herr der Regler und Archivar des Plattenkoffers, der medialen Speichereinheiten, die es gilt, im richtigen Augenblick aneinander oder gegeneinander auszuspielen. Techno in der medialen Umwelt von Techno: Razzien in Clubs, öffentliche Diskussionen über Drogenmißbrauch, Hörschäden und Verdummung, also die Fortsetzung eines Diskurses, den im Nachkriegsdeutschland schon der "King" oder die Beatles mit elementaren Ereignissen gefüttert haben und dessen Inhalt unter der sinnträchtigen Signatur "Jugendkultur" firmiert.

Seit Ende März gibt die Erzählung "Rave" von Rainald Goetz Kunde von den Nachtlebennächten und ihren "kaputten" Heroen. In drei Teilen collagiert der kleinformatige Suhrkampband Fragmente der Nachtlebengesprächsfetzen, Szene-Szenen, ästhetischen Kriterien und der beinahe schon obligaten Haßtiraden gegen diejenigen, die schreibend die Feuillletons und Lifestyle-Rubriken der Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten unter anderem eben auch über die sogenannte Jugendkultur füllten, aber eben ihre "Intellektualität", ihre Egomanie und ihr eitles Gespreize auch unter dem Eindruck der Musik - wenn sie schon einmal um der Recherche willen einen Club betreten - nicht zu hintergehen bereit und/oder in der Lage seien.

Die Erzählerfigur changiert zwischen dem meist präsentischen "Ich" und einem "man", das allerdings viel weniger eine verallgemeinernde Anonymität der Vielzahl konturiert als das selbst different zu sich gedachte und erzählte Ich. Differenz ist schon allein der Logik der Nachzeitigkeit geschuldet: Diese Nachzeitigkeit wirft sich zwischen der erzählten Zeit und der Erzählzeit auf, sie ergibt sich aber auch in der notwendigen Ungleichzeitigkeit von Körper, Bewegung, Tanz versus Rede, Denken, Schreiben - Ausnahmen bestätigen die Regel.

Wer die Erzählung auf frühere Texte des Autoren verpflichtet sehen möchte, greift hier zu kurz: "DasRichtigeAuswählen sei die HauptSauArbeit an der ganzen Arbeit." hieß es 1983 in "Irre". Nun kann "Irre" unter anderem als Entwicklungsroman verstanden werden, der die Hauptfigur vom Mediziner zum Autoren werden läßt. In "Rave" ist die Erzählerfigur längst Literat und beschränkt sich darauf zu sagen, was gesagt werden kann, wenn man sich auf eine binnensystemische Position der "raving society" begibt: Anekdoten, Szene-Legenden, Drogen, Partys, Wahrnehmung, Sehen, Hören, Fühlen und Beobachten: Objekte sind die Phänomenologie der Party und ihrer Teilnehmer sowie die Umwelt des Systems Party, insbesondere in Gestalt der Medienrepräsentanten, die gleichzeitig die Party als Umwelt der Medien beobachten. Aufgrund dieser Positionierung der Erzählhaltung greift auch der Vorwurf fehl, die Erzählung sei dem Szene-Jargon derart verfallen, daß keine Differenzierungen mehr zum Ausdruck kommen könnten. Text as text can: nach wie vor stellt sich auch die neue Erzählung die Frage nach ihrer als Text bedingten Möglichkeit sprachlicher Vermittlung:

"Man kann sich diese Schwingungsstrecke Seele Hirn hoch Wort durch Herz gar nicht weit genug vorstellen. Wahrscheinlich ist der Saturn das hier zuständige Distanzgestirn."(S. 256)

Der Text weiß um diese Distanz und um die permanente Fließbewegung in der sich der sogenannte "Sinn" und die "Sprache" zueinander bewegen - immer dauernd wieder neu. Deshalb ist die Beschränkung auf eine binnensystemische Position nur konsequent. Diese Position erlaubt eben nur davon zu erzählen, wovon sie erzählen kann. Was banal klingen mag, erscheint uns hier doch evident genug, um gegen das so weitverbreitete Mißverständnis anzugehen, ein Text und sein Autor seien ein und dasselbe. "Rave" ist ein Text: Eine Erzählhaltung arrangiert, collagiert und dispergiert die erzählten "Inhalte". Das Leben von Dr. Dr. Rainald Goetz ist psychophysische Umwelt des Textes und mit seinem "Inhalt" nicht zu verwechseln. Andernfalls provoziert man Kurzschlüsse, etwa der Art, wie sie - unter der Rubrik "Jugendkultur" [sic!] - Ende März im "Spiegel" zum besten gegeben wurden:

"So führt er [Goetz] [...] durch seine eigene Technogeschichte, springt vom Dancefloor behende zur Theorie der Kritik, spricht von Musik und Drogenrausch - alles ganz persönlich, pedantisch genau und nebulös zugleich."

Nein! "Rave" rekonstruiert die genannten Themen und Inhalte ohne seine Konstruktivität verleugnen zu wollen. Daß die erzählten Fragmente in irgendwelchen in der Techno-Szene agierenden Realbiographien Analogien finden, ist nicht Gegenstand der Erzählung.

Gegenstand ist hingegen die an Rolle und Funktionalität des DJs durchgespielte Frage des richtigen Timings und der je richtigen Gegenwarts- und Augenblickserfassung und -erzeugung auf dem Dancefloor. Analog zu den Fragen nach Voraussetzung und Vollzugsweisen, die der Text an sich selbst richtet, gilt auch für den DJ die Kunst der richtigen Auswahl und des richtigen Arrangements. Oder anders herum: Der Text rekonstruiert in seiner Bauweise, den Wechsel von beats, break, Wechsel etc., den im Kontext der Musik die übereinanderliegenden und einander ablösenden Tonträger auf den Plattentellern erzeugen:

"Es gibt bei der Produktion eines derart real prozessual entstehenden Kunstwerks, wie der vom DJ-Handwerk hervorgebrachten, sich über den Zeitraum mehrerer Stunden einer Nacht erstreckenden Augenblicklichkeitskunst, fast keinen Fehler, der nicht durch ein korrigierendes Manöver abzufangen wäre, oder gar - natürlich der, im Fall eines Großmeisters gar nicht so unseltene Idealfall - zu überführen in die Vorbereitung einer völlig neuen, auf genau diesem einen Fehler beruhenden Neurichtigkeit." (S. 84f.)

Die textuelle Rekonstruktion der Prozessualität und Ästhetik der so bezeichneten Kunst besteht aber ebensowenig allein in der Erzählung "Rave", so wie auch ein DJ-Set nicht mit einem Plattenspieler und einer Platte bestritten werden könnte: Hier lohnt ein Blick in die "Randdaten" des Textes, genauer in die Angaben auf dem Vorsatzblatt von "Rave". Unter den Rubriken "In Arbeit" und "Bereits erschienen" finden wir nämlich ein mediales Geflecht verzeichnet, das mehr als eine Analogie zu der am DJ exemplifizierten Ästhetik aufweist, also gleichsam das zweite Plattenlaufwerk des als Text rekonstruierten DJ-Sets und seiner Praxis: Das Theaterstück "Jeff Koons", eine weitere Erzählung mit dem Titel "Dekonspiratione", "Abfall für alle" als Web-Site, die Fortsetzung der triple-CD "Word" (1994) als 7-teilige 12-inch Edition sowie Poetikveranstaltungen und Interviews werden als "In Arbeit" befindlich verzeichnet. Das zeitliche Kontinuum der unter "Bereits erschienen" aufgeführten Veröffentlichungen beginnt 1994 und umfaßt die seither erschienenen Artikel und ein Interview. Die thematische Analogie zwischen diesen Beiträgen besteht in Techno im allgemeinen, in Stellungnahmen zu DJ Sven Väth, Westbam oder der Love Parade im besonderen. Unter anderem wird hier auf den Aufsatz "Westbam. Die Ordnung der Ekstase" verwiesen, der den im März 1997 bei Merve erschienenen Band "Mix, Cuts & Scratches" von Westbam "mit Rainald Goetz" eröffnet. Der Aufsatz enthält gleichsam die Programmansage für die derzeitigen Veröffentlichungen:

"Wir reden auch von der Zukunft des Arrangierens, hier der Idee für den Text:

der live gedroppte, aus direkter Mitteilungserregung heraus groß aufgesprochene Gedanke unterwirft sich später der wortverordneten Orgie von Schriftzensur, in der er sich selbst vielfach verhört, bis der Sound stimmt, das Erzählen und Argumentieren auch schriftlich richtig klingt. So ist mit Techno und seinem Denken ein neuer Gleichzeitigkeits- und Gegensätzlichkeits-Schub in das ganze System des Populären infundiert worden, der die Gegenwart erfrischt hat." (S. 9f.)

Einerseits wird mit der Veröffentlichungschronik in "Rave" gerade nicht auf eine Historizität der Autorschaft abgezielt, die spätestens seit "Irre" (1983) veröffentlicht -das besorgte der Verlag im Klappentext -, sondern auf Texte, die entweder wie "Rave" die binnensystemische Position beziehen, oder in deren Umwelt, etwa der sogenannten Pop-Theorie anzusiedeln sind. Andererseits wird "Rave" selbst in einen bereits laufenden Prozeß integriert, wird so als Bestandteil eines "prozessual entstehenden Kunstwerks" ausgewiesen.

Ausgespart sind allerdings ebenfalls die Techno beinhaltenden Texte in "Kronos" (1993) sowie der 1998er Remix des Goetz´schen Theaterklassikers "Krieg" im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, der im Januar Premiere hatte. Gerade letzterer arbeitet "Rave" insoweit zu, als Goetz gemeinsam mit Klaus Jankuhn, der für gewöhnlich mit Westbam zusammenarbeitet, eine CD mit vier Tracks für die Hamburger Bühnen-Kompilation produzierte. Analog kann auch an die Inszenierung des "Gefallenen Bürgers" gedacht werden, den Regisseur Anselm Weber als DJ über den Rednerpulten des (alten) Deutschen Bundestages in Szene setzte und dessen Regler die Sequenzen aus der 88er Fassung von "Krieg" öffneten und schlossen.

Über zukünftige Projekte wollen wir hier keine Prognosen abgeben. Gegenwärtig spielt das andere Plattenlaufwerk - um im Bild zu bleiben - unter der angegebenen Internetadresse Texte, die unter dem Titel "Abfall für alle" mit Datierungsbeginn im Februar täglich ergänzt werden.

Um noch einmal auf die bereits genannte Rezension im "Spiegel" zurückzukommen: Rezensent Patrick Walder bemängelte dort unter der Hand den Ausschluß der Kritikfähigkeit, die sich die Apotheose der Party einhandele.

Diejenigen, die "Rave" und "Abfall für alle" parallel "mixen", "scratchen", also lesen, haben aber nun die Möglichkeit, so sie wollen, selbst zu synthetisieren, wie sie die Texte in den verschiedenen Medien gegen- oder füreinander ver- und behandeln wollen.

Das unter Rainald Goetz firmierende Ich in "Abfall für alle" bewegt sich in einem System, das dem Party-System aus "Rave" als eine von vielen möglichen Umwelten zugeordnet ist. Es ist die Umwelt eines Schreibenden, eines medienobservierenden Kulturmenschen, eines "Intellektuellen", wenn man so will. Erst diese Konstruktion, die Texte in zwei verschiedenen Medien zeitlich simultan installiert, bestimmt die Position des textinternen Lesenden zwischen beiden Medien, Texten und Systemen.

Wer mag, darf die so entstehende Konstellation durchaus als eine dialektische begreifen, die ihre mediale, textuelle Antithetik synthetisierend auf die Lesendenposition hin fokussiert. Der Erzähler in "Abfall für alle" macht in diesem Zusammenhang unter dem auf den 16.02.1998 datierten Eintrag darauf aufmerksam, daß diese Konstellation ohnehin jederzeit durch Lektüre antithetisch zueinander stehender Texte jedweder Art, Provenienz und zeitlicher Herkunft erzeugt werden könne:

"Man würde sich einfach mehr GLEICHZEITIGKEIT der ganzen Widersprüche wünschen, einen viel offeneren Krieg der Positionen, eine schnellere Wucht der Kollisionen der gegensätzlichen Sichten, Haltungen, Ideen, Perspektiven.

Andererseits besteht genau dieses Imaginarium ja in der ganz realen Tatsache des Vorliegens und Vorhandenseins aller dieser Texte IN ECHT. Man muß es ja nur bestellen und lesen, fertig. Und dann speist sich das zurück, über den eigenen Kopf, in die Realität des Diskurses, via Abfall zum Beispiel, so wie hier."

Ein vehementeres Credo für - oder heißt es gegen? - Literatur hätte sich wohl auch der Rezensent im "Spiegel" kaum wünschen können. Der Reiz der Medienkonstruktion Buch - Web-Site besteht genau in einer solchen simultanen Widerspruchsbildung. Auch innerhalb von "Rave" ist diese Oppositionsstruktur konstitutiv: Den Titel der 1997er CD Veröffentlichung "We´ll never stop living this way" von DJ Westbam zitierend, hält auch "Rave" an dem Vitalismus des simultanen Drogen-Dancefloor Ereignisses fest, setzt aber die Zerstörtheit der Szene und ihrer Partizipienten immer wieder dagegen:

"Der Zerstörte: Lähmung jetzt.

Unruhe.
Innere Qualen.
Wissen, daß man wenigstens das Richtige tut: mitmachen.
Mitmachen: schön." (S. 270)

Fazit: Let´s never stop reading this way!





Der vorliegende Artikel setzt die Betrachtungen fort, die die Verfasser 1997 veröffentlicht haben: Thomas Doktor/Carla Spies: "Gottfried Benn - Rainald Goetz. Medium Literatur zwischen Pathologie und Poetologie." Westdeutscher Verlag 1997.



Ausführlichere Angaben zum Thema über e-mail bei den Verfassern: doktotzw@mailhost.rz.ruhr-uni-bochum.de

 

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