Daniel Krause

Örkény Istváns Egyperces Novellák oder: Die Moral der Kürze.
Versuch einer Annäherung.

Örkény István zählt zu den herausragenden ungarischen Autoren der Moderne. Ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod ist er im Ausland nahezu unbekannt. Das ist bedauerlich, denn Örkény ist Wittgensteins Bruder im Geiste. Beide treten ein für die Moral der Kürze. Wir gehen Örkénys Eigenart nach – und seiner Bindung an die ungarische Kultur. Unser Augenmerk gilt den Egyperces Novellák (Minutennovellen).

Ungarn

Unter den Nationalliteraturen des östlichen Mitteleuropa hat die ungarische im 'Westen’ am meisten Beachtung erfahren, weit mehr als die tschechische oder polnische. Ein halbes Dutzend ungarischer Autoren zählt zum Kanon der Gegenwartsliteratur. Besonders im deutschen Sprachraum ist Ungarn präsent. Das hat mit alten historischen Bindungen zu tun. (Darüber hinaus mit vorzüglichen Sprachkenntnissen der Ungarn; sie erleichtern den Zugang zur deutschen Öffentlichkeit: Nádas Péter spricht akzentfreies Deutsch.) Der Nobelpreis für Kertész István im Jahre 2002 hat ein Übriges getan. (Kenner halten ihn keineswegs für den besten ungarischen Literaten.) Kertész unterhält einen Wohnsitz in Berlin, Konrád György präsidierte der dortigen Akademie. Esterházy Péter ist häufiger Gast deutscher Symposien, für Dalos György gilt Ähnliches. In jüngster Zeit hat Márai Sándors Wiederentdeckung (befördert von Reich-Ranickis Literarischem Quartett) Ungarns Ruhm beim deutschen Publikum gemehrt. Was ist es, das an Ungarns

Dichtern fasziniert? Gewiss nicht jene Qualitäten osteuropäischer Literaturen, die manchem im 'Westen’ wohlige Schauer verursachen: Gefühlsanarchismus, religiöse Verzückung, lustvolle Depravation. Da muss man Russlands (des 'Wilden Ostens’) Dichter konsultieren, von Dostojewski bis Sorokin. Fürs Gnostische wiederum sind die Autoren des byzantinischen Raumes zuständig: Cioran verschreibt sich den Bogumilen. Eliade wendet sich dem Mythos zu. Doch Ungarn ist kein Teil des Ostens. (Seltsam, dass der Klappentext der Minutennovellen Örkény der „osteuropäischen Moderne“ zuweist.) Habsburg hat es verhindert. Die alte Kulturgrenze zwischen österreichischem und türkisch-russischem Raum verläuft (seit des Prinzen Eugens Zeit) durch die Karpaten. Sie scheidet Siebenbürgen von den rumänischen Fürstentümern. (In mancher Hinsicht bis heute.) Zwar gibt es in Ungarn 'Modernisierungsrückstände’ – allzu lang bleibt es agrarische Oligarchie, die Zwischenkriegszeit gehört den Faschisten –, doch die Eliten blicken heute wie damals nach Westen.

Dabei muss Ungarn als Sonderfall gelten: Mit den slawischen Nachbarn teilt es das Schicksal der Fremdherrschaft. Noch 1848 wird eine Erhebung blutig niedergeschlagen, mit Hilfe des Zaren. Der „Ausgleich“ im Jahre 1867 begründet aber Ungarns Autonomie. Er schafft die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Das sorgt für (hypertrophes) Selbstbewusstsein – und eine gefährliche Fallhöhe. Die Magyaren steigen zur kulturellen und politischen 'Führungsmacht’ des europäischen Südostens auf. Die Okkupation durch den wenig geschätzten russischen Nachbarn wird ihnen besonders erniedrigend scheinen, und im Gegensatz zu den meisten Nachfolgestaaten muss Ungarn 1918 bedeutende Gebietsverluste verkraften. Das Staatsgebiet wird zerlegt. Zwei Drittel gehen in Trianon verloren, darunter die 'Stammlande’: Oberungarn (Slowakei) – hier liegt die alte Hauptstadt Pozsony (Bratislava) – und Siebenbürgen (Rumänien). Trianon und die verlorenen Jahrzehnte unter seinen Besatzern, sie begründen die tragische Identität Ungarns. (Vielleicht darf man sagen: Das Tragische ist die Identität Ungarns.) Dergleichen kann ins Selbstmitleid führen (man lausche Kaffehausgesprächen). Zugleich kann es die Dichtkunst befördern: Das Elend schärft den Blick aufs Leben. Das betrifft auch den jüdischen Beitrag zur Literatur Ungarns. Er fällt gewichtiger aus als in der übrigen Welt. (Die 'Juden’ machten ein Viertel der Einwohnerschaft Budapests aus, weit mehr als in Prag oder Wien).

Das jüdische Element, die 'Orientierung’ nach Westen (ein Paradox, recht besehen), die tragische Identität, sie geben Ungarns Kultur ihre besonders Note.


Örkény

Örkény István ist in Ungarn ein 'Klassiker’. Kundige stellen ihn über Kertész und Esterházy. Erst in den letzten Jahren wird ihm im Ausland bescheidene Aufmerksamkeit zuteil. Übersetzungen der Egyperces Novellák sind erschienen. Sie geben Zeugnis von einer Prosa, die sich auf Augenhöhe zeitgenössischer ästhetischer Debatten findet – ohne viele Worte darüber zu machen. Von einem Literaten, der eine eigene Handschrift kreiert hat. Was wäre das Kennzeichen großer Kunst, es sei denn dieses: Jemand bringt einen eigenen Tonfall hervor; lässt eine Stimme von unverkennbar neuer Eigenart hören; bringt einen besonderen Klang in die Welt. Örkénys Stimme ist ohne Zweifel unerhört und unverkennbar. Magyarisch und 'jüdisch’ ist daran nichts – es sei denn der Sinn fürs tragisch Absurde. Ungarns Dichtern ist das Absurde mehr als ein zeitdiagnostisches Schlagwort (wie weiland Frankreichs Existenzialisten), es ist ein Lebensgefühl seit Jahrhunderten, besonders unter den 'Juden’: Örkény muss Zwangsarbeit leisten für Ungarns Armee, dann sperren die Sowjets ihn ein. Er kann der Geschichte nur „wenige freie Stunden abtrotzen“: „Vielleicht ist das der Grund dafür, daß ich mich stets um Wortkargheit, Kürze und Genauigkeit bemühte, immer auf der Suche nach dem Wesentlichen, oft hastig und bei jedem Klingeln zusammenzuckend, denn weder vom Postboten noch von anderen Besuchern konnte ich mir Gutes erhoffen.“ (Örkény 2003, 6)

Die Kürze selbst der 'Minutennovelle’ prädestiniert dieses Genre zum Medium eines absurden Weltgefühls. So wird es zu Örkénys bevorzugter Äußerungsform, denn: „Absurd ist das Ganze, so wie es ist. […] Selbst wenn er [Örkény] es gewollt hätte, von der Groteske und dem Absurden hätte er sich nicht befreien können. Sein Verstand funktionierte nun mal so. Die Widersinnigkeit einer für äußerst sinnvoll gehaltenen Welt erschien ihm derart offensichtlich, daß er nicht einmal versuchte, sie […] ernst zu nehmen.“ (Konrád in: Örkény 2003, 161) Die 'Minutennovelle’ immunisiert gegen die wohlfeile Versuchung, 'Zusammenhänge’ zu stiften. Man darf von narrativen Aphorismen sprechen. Sie bleiben hermetisch – das beste Antidot gegen 'Sinnstiftung’ durch Literatur oder Philosophie. (Wird Örkény darum im Lande Hegels so wenig geliebt?) Vergessen wir nicht, dass der 'kakanische’ Raum sich resistent gegen die Lockung des Idealismus zeigt. Fichte, Schelling, Hegel, selbst Kant, standen hier nie hoch im Kurs. Das hat (zunächst) banale Gründe: Die Katholizismus verhindert, dass eine unabhängige Universitätsphilosophie sich etablieren kann (wie in den protestantischen Ländern). Allein im engen Anschluss an die Naturwissenschaften, als deren 'Propädeutik’ und Methodenlehre, kann Philosophie sich behaupten. Der (Neo-)Positivismus ist die „österreichische Philosophie“. (Selbst Freud nimmt Maß an den Naturwissenschaften, zumindest am Anfang seiner Entwicklung.) Brentanos, Machs, Wittgensteins, des Wiener Kreises, Karl Poppers metaphysikfeindlicher philosophischer Minimalismus ist Örkény so unähnlich nicht. Es scheint, dass das ordnungs- und spekulationsfeindliche Klima 'Kakaniens’ den großen, weltumspannenden Roman – nach Thomas Manns oder Joyces Art – so wenig begünstigt wie metaphysische Systeme.

Der Mann ohne Eigenschaften bleibt ein Fragment, ähnlich Örkénys Versuche im Genre. (Konrád: „Der Roman braucht das Strömen der Worte, etwas, das leicht in den Verdacht geraten kann, Kuskus [Brei] zu werden“. (Ebd., 161)) Die österreichisch-ungarische Feindseligkeit gegen Systeme und hochmögend-idealistische Sinnenverachtung hat philosophischen wie literarischen Ausdruck gefunden. Örkény ist Wittgensteins Bruder im Geiste: Nicht viele Worte machen. Nicht „die Sprache sprechen“ lassen. Konrád, der Örkény kannte, berichtet: „Alles Langatmige machte ihn irgendwie ungeduldig. […] Sich bei einer Frage aufzuhalten, die ihm gelöst oder hoffnungslos erscheint, macht einen geistreichen Menschen nervös.“ (Ebd., 162) Statt dessen: Splitter von Wirklichkeit aufgreifen, Erscheinungen auf den Punkt bringen. Lieber ein Satz, exakt formuliert, als tausend Seiten Wortgewitter. Das ist das Ethos des Schreibens in Örkénys (und Wittgensteins)Verstande: „Gründliches Feilen am Text, dessen wurde er nie überdrüssig. Ein Satz […] verlangt immer wieder, sich um ihn zu kümmern, solange er seine ideale Form noch nicht erreicht hat. Um die für Satzpflege aufgewendete Zeit tat es Örkény nicht leid.“ (Ebd., 162) Gerade heute gilt es daran zu erinnern, zu Zeiten, da manche Romanciers gepriesen werden, weil sie verstehen zu „fabulieren“. Der üppige Inhalt soll allzu oft Mängel der Form legitimieren. Das Wesentliche aller Kunst: Genauigkeit verfällt. Die Kunst der Andeutung – sie scheint vergangen.

Örkény kann uns (womöglich) kurieren. Wer käme sonst in Frage? Hat Örkény seinesgleichen? Kafka ist nicht weit, gewiss. In unseren Tagen mag man an Achleitner denken, den Autor der einschlafgeschichten. Kein Zufall, dass er – gleich Wittgenstein – der Architektur sich mit Leidenschaft zuwendet. (NB: Es war ein Architekt, ein Österreicher überdies, der die geniale Prägung „Ornament und Verbrechen“ erfand.) Doch fehlt ihm Örkénys Dringlichkeit und ätzender Humor. Die Ähnlichkeit ist oberflächlich. Örkény bleibt ein Solitär. Auch darin gleicht er Wittgenstein. Nirgends tritt das so deutlich hervor wie in den Minutennovellen, dem Genre, das er neu – nach seinem Bilde – schafft. Formal sind sie überaus disparat, aber eines ist ihnen – und Wittgensteins Schriften – gemein. Kein formales Merkmal. Ein spirituelles: Die Moral der Kürze. „Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen.“ Das sagt Wittgenstein. 'Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich kurz und knapp aussprechen.’ So könnte Örkénys Wahlspruch lauten.


Wir werden geschwätzig. Der Meister hat das Wort:

Der Sinn des Lebens

Wenn wir viele Kirschpaprikas auf einen Faden auffädeln, bekommen wir einen Paprikakranz.
Wenn wir sie allerdings nicht auffädeln, bekommen wir keinen Kranz.
Dabei sind es genauso viele Paprikas, sie sind genauso rot, genauso scharf. Und trotzdem sind sie kein Kranz.
Sollte es nur der Faden sein, der den Ausschlag gibt? Es ist nicht der Faden. Dieser Faden ist, wie wir wissen, ein nebensächliches, drittklassiges Dings.
Was ist es dann?
Wer sich darüber Gedanken macht und darauf achtet, daß seine Gedanken nicht in alle Richtungen abschweifen, sondern in die richtige Richtung voranschreiten, kann großen Wahrheiten auf die Spur kommen.


Az élet értelme

Ha sok cseresznyepaprikát madzagra fuzünk, abból lesz a paprikakoszorú.
Ha viszont nem fuzzük fel oket, nem lesz belolük koszorú. Pedig a paprika ugyanannyi, éppoly piros, éppoly eros. De mégse koszorú.
Csak a madzag tenné? Nem a madzag teszi. Az a madzag, mint tudjuk, mellékes, harmadrangú valami.
Hát akkor mi?
Aki ezen elgondolkozik, s ügyel rá, hogy gondolatai ne kalandozzanak összevissza, hanem helyes irányban haladjanak, nagy igazságoknak jöhet a nyomára.


Eine Auswahl aus den 'Minutennovellen’ erschien unter dem Titel Egyperces Novellák (Budapest 1977 und 1991). Eine vergleichbare Zusammenstellung wurde 2003 unter dem Titel Minutennovellen bei Suhrkamp vorgelegt, in Mora Terézias kongenialer Übersetzung. „Der Sinn des Lebens“ findet sich auf S. 107. Konrád György hat ein luzides Nachwort verfasst.
Friedrich Achleitners einschlafgeschichten sind 2003 bei Zsolnay erschienen.




Kontakt: Daniel.Krause1@gmx.de Veröffentlicht am 06.10.2006

   
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