Daniel Krause

„Von Blut viel Ströme fließen…“ – Hans Wollschlägers Kreuzfahrerbuch.

Viel ist in unseren Tagen von „Heiligen Kriegen“ die Rede und „Kreuzfahrern“. Gewalt und Glaube bilden seltsame Allianzen. Grund genug, an einen beinahe vergessenen 'Klassiker’ moderner Geschichtsschreibung zu erinnern: Hans Wollschlägers Geschichte der Kreuzzüge. Manches wird uns vertraut scheinen. Grund zur Hoffnung finden wir nicht.

„Von Blut viel Ströme fließen…“

Hans Wollschläger ist keine Berühmtheit. 'Man’ kennt ihn nicht. Am ehesten werden die Übersetzungen zur Kenntnis genommen: Joyce, Poe, Hammett, Chandler. Dennoch geht ihm ein Ruf voraus, unter Eingeweihten. Manchem gilt er als virtuosester Prosaist in der Generation der Siebzigjährigen. Als eminenter poeta doctus. Als manieriertester und musikalischster unter Deutschlands Autoren. Er exzelliert unter den Mahler- und Karl-May-Gelehrten. Auch tritt er als wortmächtiger Anwalt der Tiere hervor und – neben Karlheinz Deschner – als unnachsichtigster und beredtester Gegner der Kirche. Sein antiklerikaler Affekt kommt erstmals 1970 zur Geltung, im historiographischen Frühwerk: Die Bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem. Geschichte der Kreuzzüge.

Als Meisterwerk dichterisch ambitionierter Geschichtsschreibung und politisch geschärfter Polemik hat dieser 'Tatsachen-Roman’ in der neueren deutschen Literatur kaum seinesgleichen. Im angelsächsischen Raum, mehr noch in Frankreich, wird selbstverständlich anerkannt, dass Geschichte erzählt, 'gedichtet’ werden muss. Fernand Braudel und Jacques Le Goff sind Epiker eigenen Rechts. In Deutschland stehen 'Geschichtserzähler’ im Ruf der Unzuverlässigkeit, wissenschaftlich wie politisch. Hier herrscht die 'Hans-Ulrich-Wehler-Kultur’ hochseriöser, kritischer Historiographie. Golo Mann und Joachim Fest hatten es schwer – auch wenn das Publikum sie liebte… (NB: Jener Verdacht ist nicht aus der Luft gegriffen: Kantorowicz’ Kaiser Friedrich der Zweite war Hitlers Bettlektüre...) Früher verhielt es sich anders: An den 'Altvordern’ deutscher Geschichtswissenschaft lässt sich die Schwere des Verlusts ermessen. Die Römische Geschichte brachte Mommsen den Nobelpreis für Literatur ein. Auch Ranke, Droysen, Gregorovius wären zu nennen.
Wollschläger schließt sich an diese Traditionen an – unter veränderten ideologischen Vorzeichen. Kaum mehr als 200 Seiten benötigt er, um eine Szenenfolge mittelalterlicher Geschichte vor Augen zu stellen, die keinen Leser unbeteiligt lässt. Die ersten Zeilen des Vorworts schlagen jenen unnachsichtigen Ton an, der alles Weitere bestimmt:

„Die Geschichte der Christlichen Kirche ist mit jenem ganz besonderen Saft geschrieben, dem auch in ihrer Lehre die finsterste Bedeutung zukommt: sie ist die Geschichte eines Schlachtfelds. Seit Konstantin das Kreuz zum Feldzeichen seiner Garde machte, war der christliche Gott ein Kriegsgott, war die angebliche Religion der Liebe eine Todesreligion.“ (Wollschläger 1973, 9)

Eine kompromisslos 'undialektische’ Darstellung. Man fragt sich, ob solches heute, 2006, noch publiziert werden könnte, zu Zeiten, da allerorten die Verletzung „religiöser Gefühle“ beklagt wird (zu Recht oder Unrecht) – auch um den Preis der Meinungsfreiheit. Man möge aber dies bedenken: Über Jahrhunderte ist Kirchengeschichte zuvörderst Apologie. Polemische Interventionen, seien es die Bewaffneten Wallfahrten oder Deschners Kriminalgeschichte des Christentums, können ausgleichend wirken. Als Korrektiv sind Einseitigkeiten allemal wünschenswert:

„Trotz des ungeheuren Quellenmaterials – für keinen Abschnitt der mittelalterlichen Geschichte liegt ein ähnlich reicher Urkundenschatz vor –, trotz einer riesigen Sekundärliteratur auch begegnet man heute immer wieder noch jenem Phänomen, das als „christliche Geschichtsschreibung“ hinreichend bezeichnet ist: einem verhornten Gemisch aus Retusche und gespielter Ahnungslosigkeit, das besonders in Schulbüchern, Nachschlagewerken und kurzinformierenden Darstellungen gedeiht. […] Handelt es sich vielleicht wirklich um „eine Folge des kirchlichen Aufschwungs und der religiösen Verinnerlichung“, wie der 'dtv-Atlas zur Weltgeschichte’ ahnungslos verbreitet? Handelt es sich wirklich um den „großartigsten Ausdruck“ der „Einheit des christlichen Abendlandes“, wie der 'Ploetz’ retuschiert?“ (Ebd., 9f)

Wollschläger ist es nicht darum zu tun, das Christentum in toto zu diskreditieren. Am Anfang steht ein Jesus-Wort:

„Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn alle, die das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen.“ (Ebd., 5)

Nicht der Glaube steht zur Diskussion, sondern des Glaubens 'real existierende’ Vergesellschaftungsform:

„Um was es sich handelt bei der Geschichte der Christlichen Kirche […] – Sie werden, was immer Ihr Glauben darüber sagen mag – am Ende einiges mehr darüber wissen…“ (Ebd., 10)

In der Tat: Selbst der übelwollendste Leser wird die Authentizität der Quellen nicht bestreiten. In jahrelangen Recherchen hat Wollschläger hunderte Dokumente zusammengetragen. Viele, die hier zu Wort kommen, richten sich selbst. Gleich zu Beginn lesen wir dieses „Kreuzfahrerlied“:

„Vom Blut viel Ströme fließen,
indem wir ohn’ Verdrießen
das Volk des Irrtums spießen –
Jerusalem, frohlocke!

Des Tempels Pflastersteine
bedeckt sind vom Gebeine
der Toten allgemeine –
Jerusalem, frohlocke!

Stoßt sie in Feuersgluten!
Oh, jauchzet auf, ihr Guten,
dieweil die Bösen bluten –
Jerusalem, frohlocke!“ (Ebd., 11)

Auch die höchsten Würdenträger desavouieren sich. Wollschläger liefert ein atemverschlagendes Porträt Urbans des Zweiten als eines Monstrums der Macht – ein bitterer Höhepunkt der Lektüre. Er resümiert:

„Mit Urban kam der Physiognomie des mittelalterlichen Papsttums ein weiterer stechender Zug hinzu: der kalt geduldiger, gelassen verschlagener, vollkommen amoralischer Diplomatie.“ (Ebd., 12)

Wollschläger lässt es nicht bei Charakterporträts und moralischen Betrachtungen bewenden. Er ist auf der Höhe der Zeit: Sozialgeschichte fließt ein, quellenkritische Studien, auch reine Ereignisgeschichte steht ihm zu Gebote. Keines dieser Verfahren wird als alleiniges Richtmaß historischer Wissenschaft präsentiert (wie es allzu oft in akademischen Diskursen geschieht). Einige Ungenauigkeiten können selbstredend nicht ausbleiben. Es wurde bemängelt, die Rolle der byzantinischen Kaiser würde nicht angemessen dargestellt. Freilich: Dergleichen Einsprüche fallen kaum ins Gewicht – umso weniger, als Wollschlägers literarische Brillanz ihresgleichen nicht findet. Sie zeigt sich auch in Details, selbst in der Zeichensetzung. Eine besondere Bewandtnis hat es mit dem Doppelpunkt. Kaum ein anderer Autor setzt ihn derart virtuos ein. Wollschläger hilft er, zu verdichten und raffen. Wohlkalkulierte Steigerungen werden gestaltet, Kadenzen. Wie Satzperioden gliedernd rhythmisiert, man möchte sagen: 'phrasiert’ werden, das verrät dieses Dichters umfassendes Künstlertum. Hans Wollschläger, der Organist, kann viele Register ziehen… (Wir glauben gern, dass er Mahlers Zehnte vervollständigen konnte.) Dabei nutzt er auch einfache Mittel: Zitate werden bruchlos in den Haupttext einmontiert, erkenntlich einzig durch die Kursivierung. Das garantiert die Kontinuität der Melodie und 'thematischen Arbeit’. Ein vielstimmiger Chor der 'Wiedergänger’ kommt zu Gehör, vom Mittelalter in die Gegenwart, ein Pandämonium von Irrsinn und Verworfenheit. Wollschlägers Satzperioden überspannen die Jahrhunderte und Kontinente. Sie haben Thomas-Mannsche Qualitäten. Niemals freilich scheint diese Prosa richtungslos, unartikuliert:

„Längst schon reichen die rationalen Begriffe der Zeitpolitik – selbst die irr-rationalen – nicht mehr hin, die vom römischen Syndikat bestimmten Verhaltensweisen der Völker zu erklären; längst schon hatte die Pervertierung aller Maßstäbe des Menschenbenehmens, die vollkommene Entwertung aller Werte durch das Lehrsystem der Katholischen Kirche, das kollektive Bewußtsein so unauflöslich besetzt, daß man zuweilen Bedenken trägt, selbst die einfachsten moralischen Merkmale für die Scheidung von Schuld und Unschuld zu verwenden: die Abwesenheit jeglicher Tateinsicht versagt dem Richtenden die Zuständigkeit.“ (Ebd., 187)

Das Fazit freilich fällt lakonisch aus. Weshalb viele Worte machen, wo Zahlen für sich selber sprechen?

„Wie ließe sich Bilanz ziehen? Über 22 Millionen Tote –: gibt es überhaupt eine andere Bilanz?“ (Ebd., 224)

Mögen Wollschlägers Invektiven überzogen erscheinen – die Zweifel an der humanisierenden Kraft der Vernunft sind seither gewachsen –, die Frage nach der 'Schadensbilanz’ der katholischen Kirche bringt er mit beispielloser Schärfe und Brillanz zu Bewusstsein – längst vor dem Schuldbekenntnis des verstorbenen Papstes. Darin liegt die unvergängliche Kraft seines 'J’accuse’. Gerade in Zeiten, da religiöse Ideen – seien sie christlicher oder muslimischer Inspiration – die weltpolitische Agenda bestimmen und Kreuzzugsrhetorik wiederersteht, werden Interventionen nach Wollschlägers Art dringend benötigt.


Hinweis

Die Bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem. Geschichte der Kreuzzüge. ist 1973 als Diogenes Taschenbuch erschienen. 2003 hat der Wallstein Verlag Göttingen eine Neuausgabe besorgt.


Kontakt: Daniel.Krause1@gmx.de Veröffentlicht am 15.03.2007

   
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