Désirée Martin

Liebeskonzeptionen im zeitgenössischen Liebesroman.

Michel Houellebeqcs „Plattform“

 

Die Gattung des Liebesromans hat in den letzten Jahren nicht nur eine Renaissance erfahren, sondern auch tief greifende Veränderungen. Die Fülle an Neuerscheinungen lässt auf ein nicht enden wollendes Bedürfnis nach fiktionaler Liebeserfahrung schließen, stößt dabei aber auf ein zunehmend individualisiertes und emanzipiertes Lesepublikum. Eva Illouz und Niklas Luhmann präsentieren die Liebe als Kategorie romantischer Fiktion, die erst mit Hilfe von kopierten Mustern in außeralltäglichen Situationen entsteht. Doch das für Liebesromane gewöhnliche Happy End bleibt in Romanen wie Michel Houellebecqs „Plattform“ aus. Die darin vorgefundene Liebesvorstellung schöpft sich einzig und allein aus der Notwendigkeit eines intakten Sexuallebens. Die Verbindlichkeit und Stabilität der vormodernen Liebe, wie wir sie aus „Pride and Prejudice“ kennen, hat sich somit aufgelöst. Was bleibt, ist die exklusive Verbindung zweier Menschen.


Die Erfahrung des Außeralltäglichen sieht Eva Illouz in ihrem Buch „Der Konsum der Romantik“ als den utopischen Kern der romantischen Liebe. Inmitten all jener Prozesse, die im Kapitalismus auf eine stärkere Rationalisierung sozialer Lebensbereiche drängen, stelle die Idee der bedingungslosen Vereinigung zwischen Mann und Frau den einzigen Fluchtpunkt einer Überschreitung der herrschenden Ordnung dar. Zwar galt die transgressive Tendenz der Liebe auch schon in früheren Zeiten, jedoch gab es keine herausragende Verschränkung von Konsum und Liebesbeziehungen. Illouz vertritt die These, dass „ die moderne Liebeserfahrung vom Geld und der Warenwelt unterhöhlt worden ist.“ (2003, 107) Der Textur des Alltagslebens sei der kohärente und homogene Sinn abhanden gekommen, was sich in der Existenz der Warenwelt, der Massenmedien, der ungezügelten Jagd nach Vergnügen und einer aufgelösten Subjektivität bestätigt. Daraus leitet Illouz die Frage ab, inwieweit die Konsumsphäre die Fähigkeit der Menschen untergräbt, authentische romantische Erfahrungen zu machen.

Bereits im 19. Jahrhundert wird Gustav Flaubert von dem Ansatz geleitet, dass es die Medien sind, die unsere Vorstellungen von Liebe prägen. In der Figur von Madame Bovary setzt Flaubert diesen Ansatz literarisch um: Emma Bovary versucht verzweifelt, ihr profanes Eheleben in Einklang zu bringen mit einer Vorstellung, die angefüllt ist mit den romantischen Fiktionen, die sie gelesen hat. Da sich bei ihr die Vorstellungen von Liebe und die real erfahrene Liebe vermischen, ist sie nur noch in der Lage, Liebe als Kategorie romantischer Fiktion zu erfahren. Madame Bovary (1874) illustriert damit den Zusammenbruch der Grenze zwischen der Realität und ihrer fiktionalen Darstellung. Durch die mediale Darstellung der Liebesromantik wird das Dargestellte mit der eigenen Fantasie ineinander verwoben. Dadurch wiederum wird der Glauben verbreitet, „dass die Fiktion sich unserer romantischer Erfahrung bemächtige“ (Ilouz 2003, 152). Solch eine romantische Erfahrung kann beispielsweise der Kauf eines Kinotickets an der Abendkasse sein oder aber das gemeinsame Bestellung des Essens in einem Restaurant. Illouz bezeichnet dies als „ erlernte Praktiken, in denen das Konsumieren zum symbolischen Ausdruck des Verliebtseins wird“ (2003, Vorwort). Diese Kommerzialisierung des romantischen Ideals räumt also dem Konsum eine immense Bedeutung für die Konstruktion postmoderner Liebesbeziehungen ein. Als Beispiel hierfür wäre das Rendez-vous zu nennen, das nach idealtypischen Vorstellungen erst einmal den Zugang zu Freizeit und genügend Geld voraussetzt, also die Fähigkeit des Konsumierens. Das dazugehörige Essen in einem Restaurant bewertet Illouz als modernes Ideal, das als bloßer Akt des Konsums den romantischen Augenblick darstellt und erzeugt. 01 Nach Einschätzung der Autorin ist also die postmoderne Lage der Liebe „ durch die ironische Wahrnehmung, dass man nur das wiederholen kann, was bereits gesagt wurde, und dass man nur als Schauspieler in einem anonymen und stereotypen Stück agieren kann“ (Illouz 2003. 183), gekennzeichnet. Die Zeichen der Liebe in Romanen sind demnach realer als die blasser wirkende Wirklichkeit. Deren Inszenierung bindet mehr als deren bloße Abbildung. Illouz geht noch einen Schritt weiter und erklärt, dass „ das Modell der Liebe als intensives und spontanes Gefühl an Einfluss verloren hat, zum Teil deshalb, weil es heute als ein Modell befreiter Sexualität subsumiert wird.“ (2003, 271). Dieser Ansatz wird für Houellebeqcs Werk von Bedeutung sein.

Niklas Luhmann schreibt in seinem Buch „Liebe als Passion“: „Das Medium Liebe selbst [ist] kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren […] kann. (1996, 23). Bei aller Betonung der Passion einer Liebe ist es für Niklas Luhmann doch der Charakter eines Verhaltensmodells, der die Liebe prägt und auszeichnet. Dieses Modell erfährt eine Bedeutungssteigerung, die dazu führt, dass sie „ das Lernen des Liebens, die Interpretation der Anzeichen und die Mitteilung kleiner Zeichen für große Gefühle ermöglicht; und es ist der Code, der Differenz erfahrbar werden lässt und die Nichterfüllung mitexaltiert. “ (1996, 24) Diese Vorüberlegungen führen letztlich zu der Annahme Luhmanns, dass Literaturentwürfe die Wirklichkeit adaptieren: „(...) literarische […] Darstellungen der Liebe [wählen] ihre Themen und Leitgedanken nicht zufällig, sondern [reagieren] damit auf ihre jeweilige Gesellschaft und auf deren Veränderungstrends.“ (1996, 24) In der Romanliteratur sieht Luhmann eine Kontingenz der Liebe, die dem Moment des möglichen Scheiterns großen Spielraum einräumt und die Unwahrscheinlichkeit, dass es zu einer Liebesbeziehung kommen könnte, schon inkludiert. Kommt es in einem Roman dennoch zu einer Annäherung, tut sich ein Sonderhorizont intimer Kommunikation auf, was wiederum zu intensiverer Weltwahrnehmung führt.

„Liebe totalisiert“ (Titus Heydenreich 1987, 73) Dabei wir Liebe freilich überfordert, wenn die Erwartungen an die Liebe wachsen, sinken parallel dazu die Möglichkeiten ihrer Erfüllung. Die Liebe entsteht zwar wie aus dem Nichts, gleichwohl entsteht sie gerade erst mit Hilfe von kopierten Mustern, kopierten Gefühlen, kopierten Existenzen – und mag dann in ihrem Scheitern genau dies bewusst machen. Diese Bewusstmachung lässt die Liebenden eingestehen, dass die Sehnsucht nach Harmonie nicht zu stillen ist. Das Erkennen führt in einem nächsten Schritt dazu, dass „ für Liebe, Sexualität und Ehe eine neue Einheitsformel gesucht und in der Idee persönlicher Selbstverwirklichung gefunden wird.“ (Luhmann 1996, 150) Die Liebe erscheint auch bei Luhmann als jener Verwirklichungsraum menschlicher Selbstwerdung, in dem auch die soziale Identität ihre Form zu finden vermag. Auch bei Luhmann bedarf es außeralltäglicher Situationen, um Liebe entfalten zu können. Der Liebesroman, der stets die Exklusivität und Einmaligkeit einer Begegnung inszeniert, wird zum Muster von Selbstfindung und Selbstbildung.

Ein Musterbeispiel eines solchen Liebesromans ist „Pride and Prejudice“ (1813) von Jane Austen. Der Romanklassiker erzählt die Geschichte der Familie Bennet, die hocherfreut ist, dass sich der reiche Junggeselle Mr. Bingley in ihrer Nachbarschaft niederlässt. Durch diese Nähe erhofft vor allem Mutter Bennet, ihre fünf Töchter Jane, Elizabeth, Lydia, Mary und Kitty verheiraten zu können. Elizabeth lernt auf einem Ball den arrogant wirkenden Mr. Darcy kennen. Zwischen ihnen baut sich trotz aller Gegensätze sofort eine innere Spannung auf und sie verlieben sich nach einiger Zeit. Die Figuren Elizabeth und Darcy bilden eines der großen Traumpaare der Literaturgeschichte. Elizabeth ignoriert ihren Stand weitgehend und setzt ihre Klugheit und Aufrichtigkeit ein, um in der Gesellschaft zu bestehen. Die Liebeserfahrung wird bei Elisabeth und Mr. Darcy zum wesentlichen Element im Prozess der Persönlichkeitsentfaltung, sie bietet einen Schlüssel für die Charakterentwicklung der einzelnen Figuren.

Die Liebe als Romanmotiv setzt grundsätzlich jede Figur in Bewegung und fungiert analytisch betrachtet als Katalysator einer Handlung. Sie löst Personen wie etwa Mr. Darcy aus ihrer Selbstbezogenheit und vermittelt die Erfahrung der Gefühlserweiterung. In der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts werden vermehrt Figuren dargestellt, die schwanken, zögern, sich in der Liebe verirren oder die nicht in der Lage sind, eindeutige Entscheidungen zu treffen. Die Erfüllung der Liebe in zeitgenössischen Romanen versagt, weil die Figuren in ihrer Selbstbezogenheit verharren und eben damit „Transzendenz“ nicht mehr erreichen können. 02 Die fortlebende romantische Liebe erwartet die Erfahrung intensiven Gefühls, uneingeschränkter Sinnlichkeit, sofortiger Belohnung, spontanen Vergnügens und Spaßes, und das alles in hochgradig ästhetischen Umgebungen fern des Alltags - aber genau diese romantische Vorstellung, die sich aus Romanen wie „Pride and Prejudice“ überhaupt erst speist, scheitert radikal in der heutigen Beziehungswirklichkeit. Die häufig auftretende Bindungsphobie in neueren Romanen zeigt sich an einer Identität, die weitgehend auf der Bestätigung von Autonomie beharrt und sich weigert, die Wahlfreiheit für andere Lebensstile bzw. die Aussicht‚ einen noch besseren Partner zu finden, aufzugeben. Beispielhaft zu erwähnen sind die weiteren Romane von Houellebecq wie etwa „Elementarteilchen“ oder aber Michael Lentz’ „Liebeserklärung“, Dieter Wellershoffs „Der Liebeswunsch“ und Peter Stamms „Agnes“. Kennzeichnend für das noch heute nachlebende romantische Ich ist der Versuch, die lokal begrenzte und flüchtige Liebesaffäre auf Dauer stellen zu wollen, ein übergreifendes Narrativ dauerhafter Liebe mit der fragmentarischen Intensität der Affären zu versöhnen.

Neuere Liebesromane enden nicht mehr mit einem Happy End. Gerade deshalb benötigt der Liebesroman ein Mittel, das dem Leser einen Abgleich bzw. eine Identifikation immer noch ermöglicht. Romane, insbesondere Liebesromane bieten ihren Leserinnen und Lesern nunmehr verstärkt eine Beobachtung des Unbeobachtbaren: Indem Leser an einer Liebesgeschichte teilhaben, schieben sich seine Grenzen der Erfahrung und der Wahrnehmung hinaus - durch die Verwechselbarkeit von Realität und Fiktion. Der fiktive Roman und die reale Liebe ästhetisieren die Wirklichkeit. Hierin lassen sich romantische Erwartungen auch verteidigen: “ To attack this very old genre in its form, so joyful in its celebration of freedom, is to discount and perhaps even to deny, the most personal hopes of millions of women around the world.” (Regis 2003, 207)

Die Lektüre des gegenwärtigen Liebesromans bestärkt die Vorstellung, dass unsere Identität auf Erzählungen gründet: Erzählte Liebesgeschichten haben „ das Gewebe unseres Alltagslebens so tief durchdrungen, dass wir den Verdacht hegen, sie hätten unsere Erfahrung von Liebe verändert.“ (Illouz 2003, 154) Zwischen der durch Medien erzeugten Realität und der unabhängig von den Medien erfahrenen Wirklichkeit lässt sich ohnehin kaum trennen. Die Wirklichkeit wird immer schon so gesehen, wie sie sich durch die Medien vermittelt wird. Reiner Matzker spricht dabei von einer „ Authentizität des Simulierten“. (2000, 12). Demnach fabriziert das Medium Realitäten innerhalb des Realen; es findet eine Realitätsverdopplung statt, die Luhmann als „ transzendentale Illusion“ bezeichnet. Aufrechterhalten kann die Illusion aber nur werden, indem deren Wahrheitsgehalt nicht hinterfragt wird.

Um den Wahrheitsgehalt der Liebe dreht es sich auch in Michel Houellebecqs 2002 erschienenem Roman „Plattform“. Michel, der Protagonist, ist Beamter im Pariser Kulturministerium und verspricht sich von einer Reise nach Thailand ein wenig Abwechslung durch käuflichen Sex. Houellebecq skizziert damit den gegenwärtigen Homo sexualis: einen manischen Lustsucher, der das eigentliche Sein in eine lustgesättigte Selbsterfahrung umsetzt. Durch die Akzentuierung des hohen Stellenwerts der Sexualität in der Gesellschaft verweist Houellebeqc auf deren Warencharakter und skizziert gleichsam mit dem Marktgesetz, dem Wettbewerbs- und Konkurrenzprinzip der Sexualität wesentliche Parameter der Marktgesellschaft. Die sexuelle Befreiung, ursprünglich als Triumph über die Entfremdung in der autoritären Gesellschaft gefeiert, entpuppt sich in den Augen Houellebecqs als letzte und entscheidende Strategie des freien Marktes zur Zerstörung des Paares und der Familie. Die Welt als Supermarkt, so der Titel seiner Essaysammlung, beschreibt den Konsum der allgegenwärtigen Sexualität, deren Rhythmus einer Maschine mit unterschiedlicher Laufgeschwindigkeit gleichkommt, erzeugt. Die nüchterne, technisch ausgerichtete Beschreibung der sexuellen Handlungsabläufe versinnbildlicht bei Houellebeqc die anfängliche Liebesunfähigkeit und Einsamkeit seiner Figuren, einhergehend mit der Auflösung aller gesellschaftlichen Bindungen. Um den Eindruck der Fiktion zu verwischen und die Illusion von Wirklichkeit zu erzeugen, greift Houellebeqc auf ein facettenreiches, stilistisches Instrumentarium zurück, beispielsweise die Präsentation von Fakten anhand derer sich ein Aktualitätsbezug herstellen lässt.

Die beiden Liebesvorstellung der beiden Protagonisten Michel und Valerie beruht allein auf der Notwendigkeit eines intakten Sexuallebens. Liebe wird hier nicht über Romantik (wie Illouz meint), sondern über Sex definieren. Für Houellebecq ist die romantische Liebe bedeutungslos. Er begibt sich demnach auf die wiederum scheiternde Suche nach anderen Möglichkeiten, die eine Liebesbeziehung mit Sinn erfüllen könnten. Die Perspektivlosigkeit löst sich freilich nur kurz auf, denn mit dem Tod Valeriés stürzt Michel erneut in die volle Sinnlosigkeit seines Daseins ohne Liebe: „ Und wenn ich schon die Liebe nicht begreife, was nützt es mir dann, dass ich das übrige begriffen habe?“ (Plattform 338)

Die eng aneinander geknüpfte Verbindung von Liebe und moralischer Tugend ist verloren gegangen. Die Verbindlichkeit und Stabilität der vormodernen Liebe hat sich aufgelöst. Geblieben ist allenfalls die Möglichkeit einer exklusiven Verbindung zwischen zwei Menschen, die anderen gegenüber nicht konsensfähig ist. Diese exklusive Verbindung beinhaltet ein Moment der Selbstzerstörung - im Wunsch nach Steigerung. Steigerung ist jedoch immer nur kurzfristige Zufriedenheit gewährleistet, da der Wunsch nach mehr schon inkludiert ist. Am Beispiel von „Plattform“ lässt sich zeigen, wie kurz die Zufriedenheitsphasen andauern. Wie befremdlich die Liebeskonzeption in Houellebecqs „Plattform“ aber auch immer sein mag, so leistet sie doch die Mitteilung des Unmitteilbaren, und so liest man selbst bei Houellebecq einigermaßen erstaunt: „ Alles kann einem im Leben passieren und vor allem nichts. Aber diesmal war in meinem Leben wirklich etwas geschehen: Ich hatte eine Geliebte gefunden, und sie machte mich glücklich.“ (Plattform S. 165)


Literatur

Houellebecq, Michel : Plattform. Reinbek: 2003.

Heydenreich, Titus (Hrsg.): Liebesroman – Liebe im Roman. Eine Erlanger Ringvorlesung. Erlangen: 1987.

Illouz, Eva : Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt a.M.: 2003.

Luhmann, Niklas : Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Baden-Baden: 2003.

Regis, Pamela : A Natural History of the Romance Novel. Philadelphia: 2003.


Fußnoten

Ebd., S. 72. [zurück]

Ebd., S. 249. [zurück]


Kontakt: Désirée Martin; Veröffentlicht am 24.07.2007

   
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