Elektronisches Publizieren |
Dr. Volker Titel
Der neumediale Zug fährt seit geraumer Zeit. Es ist
ein Hochgeschwindigkeitszug – sagen manche. Und was geschieht
mit dem Buch, Inbegriff linearer Standhaftigkeit? Die Produzenten des
Buchs sind unsicher. Sie verharren zum Teil, sich gegenseitig aufmunternd
und jene sinnlich-realen Vorzüge des alten Materialobjekts hervorhebend,
die heute und künftig das Buch mit Einband und dem Duft der Druckerschwärze
unersetzbar machten. Aber, sie wollen auch nichts verpassen, fahren
mit und geben gar bisweilen die Richtung vor. Das Potenzial der Digitalisierung
scheint gewaltig. In vieler Munde ist dabei der Begriff Electronic
Publishing. Er, nicht anders die deutsche Übertragung “Elektronisches
Publizieren”, hat das Problem, relativ unterschiedliche Phänomene
zu bezeichnen, die zwar aus buchtheoretischer Sicht durchaus gemeinsame
Bezugspunkte haben, zunächst aber, und vollends in der Praxis,
zu differenzieren sind. Die Konfusion hat historische Ursachen. Nachdem bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Mikroformen als “Zwischenschritt bei der Entwicklung neuer Speichermedien für Texte und Abbildungen” (1) zur Anwendung kamen, bezeugt “Digiset”, ein von Rudolf Hell entwickeltes Fotosetzgerät mit CRT (Cathode Ray Tube)-Technik, schon Mitte der 1960er Jahre das anbrechende Zeitalter der Digitalisierung im Fotosatz. Der nächste Schritt war digitales Speichern für den Schriftsatz, und das, was “bis in die 80er Jahre noch das Geheimnis der Jünger Gutenbergs war, die Ästhetik der Seite, [wurde] zu einem öffentlichen Gut.” (2) Die Druckindustrie geriet mit der Zunahme elektronischer Herstellungsverfahren in den Strudel verkürzter Technologieinnovationszyklen, die zunächst eine deutliche Verdichtung der Arbeitsschritte von der Druckvorstufe bis hin zum distributionsfertigen Werk bewirkten. Binnen weniger Jahre wurde ein weiterer Trend eingeleitet, der den Begriff “Herstellung” nicht nur mit Blick auf das Verfahren, sondern auch hinsichtlich der Instanzen veränderte: Die “Ästhetik der Seite” wurde zunehmend eine Sache der PC-bestückten Schreibtische in den Verlagen. “Desktop Publishing”, geleitet von mit hoher Frequenz verbesserten Text- und Layoutprogrammen, prägt seither das Geschehen der verlegerischen Herstellungsabteilungen.
Ein weiterer wichtiger Schritt auf dieser Ebene war die Einbeziehung der Autoren, die sich – noch zögernd gegen Ende der 1980er Jahre, ein halbes Jahrzehnt später bereits nahezu obligatorisch – auf die elektronische Manuskriptübergabe einließen. Hiermit ist umrissen, was den Begriff des Electronic Publishing zuerst charakterisierte: die verfahrens- bzw. produktionsoriente Ableitung aus der computergestützten Herstellung von Printmedien. Zweifellos hatte die Etablierung dieses Digitalen Workflows Auswirkungen nicht nur auf die Manuskriptverarbeitung. Über das Schreiben am Computer entstand früh eine Debatte, die sich etwa an dem von Michael Heim (3) konstatierten “on-screen-thinking” entzündete und in Theorien gipfelte, die, wie bei Flusser (4), im Kontext postmoderner Deutungen vom Verschwinden der subjektiven Autorschaft kündeten.
Nahezu zeitgleich mit dem Einbeziehen des Autors in die “elektronische Kette” rückte der Nutzer in den Blick der digitalisierten Produktion literarischer Erzeugnisse. Die Überlegung war, mit der Einkehr des PC in Büros und private Haushalte einen Markt für digitale Veröffentlichungen zu etablieren. Die Kette begann sich zu schließen, neben Spiel- und Lernprogrammen wurden auch buchtypische Inhalte auf Magnetbänder, Disketten und immer häufiger auf CD-ROM gebannt und den sich mehrenden Distributionswegen anvertraut. Eine neue Dimension des Begriffs erhob sich, “Elektronisches Publizieren” bezog sich nun auch auf die Produktebene: “The world has already made a cultural commitment to CD-ROM.” (5) Das Ungeheure dieser Entwicklung lag allerdings zunächst weder in der massenhaften Anwendung noch in der unmittelbaren ökonomischen Relevanz. Zwar schien der prognostizierte schnelle Anstieg bei der Computernutzung speziell für Wissenschafts- und Lexikonverlage neue Gewinnpotenziale freizusetzen. (6) Die Akzeptanz und also die Kaufbereitschaft der potenziellen Kunden blieb jedoch hinter den Erwartungen zurück. Das Epochale der neuen Erfindungen lag vielmehr in den prinzipiellen Möglichkeiten der Digitalisierung. Texte und Bilder fanden neue Träger nicht nur für die zwischenzeitliche Vermittlung bis hin zum Druck – magnetische, optische, magneto-optische Speicherung wurde zur Grundlage einer Rezeption, die multimedial gestaltet sein konnte. Häufig artikulierte Hinweise darauf, dass für eine befriedigende Kopplung von Text, bewegtem Bild und Ton die Speicherkapazitäten, Prozessorenleistungen und die Qualität der Ausgabegeräte zumindest für die Nutzung durch eine breitere Öffentlichkeit nicht hinreichend seien, wurden nahezu im Halbjahrestakt durch Markteinführungen bzw. Neuversionierungen von Hard- und Softwareprodukten immer weiter in die Defensive gedrängt. (7) “Multimedialität” (8) wurde zum Schlagwort der 1990er Jahre – 1995 von der Gesellschaft für deutsche Sprache konsequent zum “Wort des Jahres gewählt” – das Buch begann potenziell einen Grenzgang. Doch auch ohne diesen Grenzgang offenbarte die digitalisierte Vorhaltung von Texten auf Diskette oder CD-ROM neue Möglichkeiten, indem sie die Verweissysteme des Buches effektivierte und durch unmittelbare Suchfunktionen erweiterte. Zudem wurde der Eingriff in den Text erheblich vereinfacht – mehr denn je stand der Inhalt eines Buches zur Disposition, zur augenblicklichen Manipulation durch den Leser bereit. “Elektronische Bücher bahnen sich den Weg”, so titelte das Börsenblatt im November 1992 seinen Bericht über die Gründung des “Arbeitskreises Elektronisches Publizieren” (AKEP). (9) Der Markt sei dabei, namentlich durch den Siegeszug der CD-ROM, in “völlig neue Dimensionen” (10) vorzudringen. Als Indikator für die Wahrnehmung des Themas in der deutschen Buchbranche kann die Frankfurter Buchmesse gelten. (11) Im Jahre 1984 warf der Themenschwerpunkt “Orwell 2000” einen Schatten der Unsicherheit gegenüber dem Kommenden voraus. Dennoch gab es etwa von dieser Zeit an zahlreiche Informationsveranstaltungen über Anwendungsmöglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung im innerbetrieblichen Prozess – Zeugnisse jenes frühen Begriffs von Electronic Publishing. Zu Beginn der 1990er Jahre mischte sich auf der Frankfurter Buchmesse häufiger als zuvor die produktorienzierte Ebene in die Debatten um elektronisches Publizieren. “Frankfurt goes Electronic” hieß im Jahre 1993, knapp ein Jahr nach Gründung des AKEP, offiziell das Motto, zentral in Messehalle 1 präsentiert.
Eine weitere, grundlegendere Dimension des Begriffs rüstete in dieser Zeit zum Take-off. Die Freigabe der Hypertext Markup Language begünstigte die Nutzung des World Wide Web als graphische Benutzungsoberfläche im Internet. Die nun grundlegend verbesserten Möglichkeiten der Online-Übertragung von Schrift- und Bild-Daten (12) sowie die sich mehrenden, potenziell globalen Verlinkungsoptionen brachten die mediale Existenz des digitalen Buches an den Rand der Virtualität. Ein Buch als CD-ROM konnte zumindest als fassbares Produkt wahrgenommen, verpackt und verkauft werden. Nun jedoch schien der klassische Bucheinzelhändler überflüssig. Aber mehr noch: Warum der Umweg über die Buchbranche? Text-, Bild-, Ton-, Filmbearbeitungsprogramme, den Internetauftritt unterstützend, liefern günstige Voraussetzungen für die selbständige Veröffentlichung elektronischer Publikationen, vorbei an Verlagen, Sortimentern oder gar Zwischenbuchhändlern. Alte Klagen insbesondere wissenschaftlicher Autoren verschaffen sich erneut Gehör: “Scientific communication is increasingly driven by factors that have little to do with researchers and more to do with commercial publishers’ profits.” (13) “Returning Scientific Publishing to Scientists” war und ist ein Motto, das, je nach Standpunkt, die aktuellen Debatten um Chancen und Gefahren wissenschaftlichen elektronischen Publizierens begleitet. Inwiefern von einem “demokratischen Internet” die Rede sein kann, bleibt, selbst abgesehen von Monopolisierungstendenzen im Soft- und Hardwareangebot, grundsätzlich fraglich. (14) Fest steht jedoch, dass sich durch das World Wide Web die Möglichkeiten, “graue Literatur” herzustellen und zu verbreiten, fulminant erweitert haben. Aber die Buchbranche bleibt auslotend im Boot, wo sie schon jetzt, kaum ein Jahrzehnt nach der Öffnung des Internet, elektronische Publikationen online und/oder offline vermarkten kann. Im Zeitschriftensegment, nicht nur, aber besonders dem wissenschaftlichen, etablieren sich anerkannte Angebote. (15) Auch wenn die Anfang der 1990er Jahre offensichtlich zu hoch gesteckten bzw. zu kurzfristig formulierten Erwartungen an den Erfolg des digitalen Buches bisweilen vorläufiger Ernüchterung gewichen sind, die Potenziale weiten sich aus, zumal die digitale Datenvorhaltung bei den Verlagen schon aus unternehmensstrategischen Erwägungen heraus dazu einlädt, den Umgang mit den erworbenen Inhalten offen zu halten, möglichst ausgabenneutral Content Management zu betreiben. (16)
Die im Vorstehenden skizzierte mehrdimensionale Bedeutung von “Electronic Publishing” hat in der Forschung zu verschiedenen Vorschlägen für eine Differenzierung des Begriffs geführt. Ein Grundmuster ist dabei die Unterscheidung von technischen bzw. technologischen Aspekten und solchen, die auf das Produkt und dessen Veröffentlichung zielen. Die Voraussetzungen hierfür sind jedoch disparat. Riehm (1992) geht von drei hauptsächlichen Varianten elektronischen Publizierens aus: einer produktionsorientierten, die auf computerunterstützter Herstellung auch von Printmedien beruht, einer distributionsorientierten, die sich auf elektronisch gestützte Verteilung bezieht und einer publikationsformorientierten, die den multimedialen Charakter betont. (17) Für Frühschütz (1997) dagegen hat sich der Begriff des Elektronischen Publizierens bereits vom gedruckten Buch gelöst, er kennzeichnet dessen “Entmaterialisierung im elektronischen Medium”. (18) Dies als Basis, erkennt auch Frühschütz zwei grundlegende Unterscheidungsmerkmale: zum einen technische, namentlich elektronische Fragen, zum anderen die Funktion der Veröffentlichung im Sinne öffentlichen Kommunizierens. (19) Dieses digitale Verständnis bestimmt seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend das Problemfeld. Ohne Erklärungsnot thematisieren etwa Baubin und Hofbauer (1997) die technischen Entwicklungen und Marktchancen digitaler Publikationen, sehen Differenzierungsbedarf vor allem in “customer segments”, “technology penetration” und “distribution channels”. (20) Müller (1998) konzentriert sich hingegen wieder auf die Gegenüberstellung von technologischen Aspekten, diese jedoch unabhängig vom Ausgabemedium, und elektronischen Produkten, wobei er vorschlägt, den technologischen Aspekt als “Elektronisches Publizieren” zu bezeichnen, die digitalisierte Verbreitung aber “Elektronische Publikation” zu nennen. (21)
Die Frage ergibt sich, was wird mit dem Buch und seiner Wissenschaft angesichts der immer mehr umsichgreifenden “elektronischen Kommunikation”? Eine der Vorraussetzungen buchwissenschaftlichen Tuns droht durch Entschwinden des Objekts zu zerfallen. Kann ein Buch, das nicht auf “unterschiedlich materialisierten Schriftträgern” (28) daherkommt, noch Buch sein? Wie ist es, wenn sich ein buchtypischer performativer Langtext (29) als elektronische Publikation im World Wide Web auf doppelte Multimedialität einlässt? Ist das Internet bzw. das darin befindliche World Wide Web ein Medium, das sich dem Buch gegenüberstellen ließe? Im Kontext der Diskussionen um die “Medienkonkurrenz” ist dieser Gedanke weit verbreitet. Es ist aber viel spannender: Wir erleben eine informationstechnologische Revolution: “Die Speerspitze dieser Revolution stellen die sich explosionsartig entwickelnden elektronischen Netzwerke dar, allen voran das Internet, das inzwischen fast mystische Bedeutung gewonnen hat.” (30) Es ist eine mediale Revolution ohne neues Medium: “Das Internet ist kein neues Medium, sondern eine neue Informationstechnologie, welche alle bisherigen Medien integrieren kann.” (31) Das Neue ist die komplexe Hybridstruktur, die multimediale Präsenz ermöglicht, nicht erzwingt. Wenn dies aber so ist, dann bleibt erneut die Frage nach dem Schicksal des ins elektronische Netz integrierten Buches. Haben wir das “Ende der Gutenberg-Galaxis” erreicht? Wenn ja, bedeutet dies die Implementierung eines “Wissensdesign[s], das Daten gleichsam frei begehbar macht” (32) und eine Typographie, “die vom Buchdruck der Gutenberg-Galaxis genausoweit entfernt ist wie vom Broadcasting einer narkotischen Kulturindustrie” (33) ? Sollte aber selbst eine Zustimmung zu diesen Thesen möglich sein, diese Zustimmung verlangte nicht den Abschied vom Buch. Vorausgesetzt, man beschränkt sich nicht auf das materiell fassbare, gar gedruckte Buch. Ungeachtet der sinnvoll möglichen Einschränkung in je speziellem Forschungsinteresse ist gerade für medienvergleichende Fragestellungen ein weiter Zugang fruchtbar, der das Buch zunächst als “materielles bzw. physisches Objekt oder elektronisches Speichermedium” (34) begreift. So, wie es wichtig ist, die Existenz des Buches nicht auf den Druck zu beschränken, um “hinter die Gutenbergschwelle zurückgehen” (35) zu können, so ist es wichtig, über diese hinauszublicken.
Bücher als Zeichenträger sind sind Bestandteile
einer Schriftlichkeit, die in der Folge von Gutenberg wesentlich massenmedial
geprägt ist. Die Digitalisierung von Büchern bedeutet nun
für Sprach- und Bildzeichen, dass sich deren feste Bindung zum
Schreib- bzw. Bedruckstoff löst. Was folgt hieraus? Das World Wide
Web bietet die Möglichkeit, lineare Textstrukturen aufzubrechen
und multimedial zu präsentieren. Verweissysteme und Suchoptionen
erlauben selektiven Zugang. Ist dies aber systematisch
ein Unterschied zum gedruckten Buch? Titelblätter, Inhaltsverzeichnisse
und diverse Register sind Verweissysteme innerhalb des Buches, (36)
Literaturhinweise, teilweise als unmittelbare Anmerkungen am linearen
Text, sind potenzielle Knotenpunkte literarischer Netzwerke. Umgekehrt
kann aus der Möglichkeit der Hypertextualität und multimedialen
Präsentation etwa im World Wide Web nicht ein Wesenszug der darin
publizierten Bücher hergeleitet werden. Auch wenn ein Autor seinen
Text intern und extern durch Verlinkungen bis zur weitgehenden Verflüssigung
überlagern kann, und auch wenn ein Leser diesen Text in der Tat
bis auf Sequenzen dekonstruieren kann – die Frage bleibt: Warum
sollte er das tun? In welchem Maße beide – Autor und Leser
– von den Optionen Gebrauch machen, dies ist nicht per Definition
vorgegeben. Dies zeigt letztlich “dass sich
die Abgrenzung der Print- von digitalen Texten längst nicht so
radikal darstellt, wie vielfach postuliert.” (37)
Fußnoten (1) Klaus G. Saur: Elektronische Medien. In: Bodo Franzmann, Klaus Hasemann, Dietrich Löffler, Erich Schön (Hg.): Handbuch Lesen. München 1999, S. 281. (zurück) (2) Helmut Schanze: Digitalmedium Buch. In: Ders. (Hg.): Handbuch der Mediengeschichte. Stuttgart 2001, S. 421. (zurück)
(18) Jürgen Frühschütz: Dynamik des elektronischen Publizierens. Frankfurt am Main 1997, S. XIV. (zurück)
(20) Vgl. Thomas Baubin, Thomas Hofbauer: Market and technology developments. In: Brian and Margot Blunden (Ed.): Electronic Publishing strategies. Leatherhead 1997, S. 25–68. (zurück)
(22) Alexander Haldemann: Electronic Publishing. Strategien für das Verlagswesen. Wiesbaden 2000, S. 19. (zurück)
(33) Ebd., S. 199. (zurück) (34) Ursula Rautenberg: Buch. In: Dies. (Hg.): Sachlexikon des Buches (Anm: 27), S. 83. (zurück)
(37) Natalie Binczek, Nicolas Pethes: Mediengeschichte der Literatur. In: Schanze (Hg.): Mediengeschichte (Anm. 2), S. 294. (zurück)
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