Magdalena Zorn

Das Offene bei Stephane Mallarmé. Wie steht es um den Dialog zwischen Musik und Literatur?

Der französische Dichter Stephane Mallarmé vollzieht in seinem Oeuvre eine überaus spannende Entwicklung: Sie reicht von einer Literatur, die zunächst offen ist gegenüber den mannigfaltigen Abschattungen des Bedeutungsgehalts bis hin zur Konzeptualisierung eines offenen Buches, das selbst seine äußere Gestalt erst durch den Gestaltungswillen des Lesers erhält. Die Offenheit seiner Kunst bleibt über weite Strecken beeinflusst von seinem produktiven Verhältnis zur Musik. So formuliert er in einigen seiner Äußerungen die Gewissheit, wonach eine freie, referenzlose Sprache nur durch die Musikalisierung ihrer Strukturen erreichbar sei. Was hat es aber mit dem äußersten Refugium der Freiheit, der Formoffenheit im Livre auf sich, woraus schöpft es seine Kraft und welche Idee steht dahinter?

Der Dichter erscheint gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend isoliert inmitten einer kapitalistischen Gesellschaft, umgeben von einer technisierten Welt, in der die Handelsgüter trotz ihrer wachsenden Komplexität allgemein „verständlich“ und für viele Menschen verwertbar sein müssen. Eine Stereotypie, die allem Handeln in menschlichen Gemeinschaften naturgemäß innewohnt, wird verstärkt durch die massenhafte, zweckgerichtete Produktion nach Normen. Diese Normen suggerieren Objektivität, zwingen den Menschen zur Pendelbewegung zwischen der Absolutheit der Dinge und einer hermetisch verschlossenen Individualität und drängen ihn immer mehr, seine Existenz in den von ihm konstruierten Maschinen zu verorten. Ein Prozess der Entfremdung in das Objekt – das lateinische Etymon von Objekt, „das Entgegengeworfene“, erhält hier besonderen Stellenwert – stellt sich ein. Am Arbeitsplatz scheinen die Maschinen alles Disparate und Vereinzelte im Subjekt für Momente zu beherrschen. 1

So wäre die Situation vorstellbar, in der der französische Dichter Stephane Mallarmé die Notwendigkeit erkennt, auch die Sprache von ihrer „leichtfasslichen repräsentativen Geldwertfunktion“2 zu befreien. Die Vormacht des Absoluten gegenüber dem Unvereinbaren, sich Widersprechenden ist offenbar bis in das Sagen vorgedrungen, weil sich sogar die dichterische Rede entlang ihrem Normalmaß ausbreitet, anstatt, wie es im Hinblick auf die konkrete Lebensrealität so notwendig wäre, ein Reservoir an denkbaren Alternativen zu bieten. Die Referenzlosigkeit wird zum Kriterium seiner Dichtung schlechthin, weil nur eine offene Poetik es vermag, die Freiheit der Gedanken im Innersten des Menschen wachzurufen. Seine Dichtung, die nicht mehr teilnehmen will an einer „reportage universelle“(Mallarmé) und sich somit ihres Informationscharakters entledigt, offenbart einen Bruch, der sich im Kern der Sprache vollzogen hat und der für die Moderne und die Dekonstruktion konstitutiv werden wird. Wenn George Steiner eine „fundamentale Antinomie zwischen dem Anspruch der Sprache auf Selbstständigkeit“ – womit eine Befreiung von der Herrschaft der Vernunft und der Referenz angesprochen wäre – „[…] und dem interesselosen Streben nach Wahrheit“3 erkennt, dann haben wir es hier sehr früh mit einer Hälfte von Sprache zu tun, die sich dem Diktat der Aufklärung und einer Verdinglichung im wissenschaftlichen Denken widersetzen und Wahrheit, sofern sie nicht darin besteht, dass es viele Wahrheiten gibt, liquidieren will. 4

Das Normalmaß von dichterischer Sprache, von dem oben die Rede war, bleibt lange Zeit der Reim. Er ist das Resultat einer Reduktion der Vielheit sprachlicher Strukturen auf bestimmte konventionelle Verfahren, die eine Form-Inhalt-Beziehung regulieren. Anhand der Konvention des Reims erläutert Eco in seiner berühmt gewordenen Anekdote über den Schlagerdichter die Problemlage, die sich für den Literaten ergibt, der in einem sprachlich erstarrten System operiert: Der Schlagerdichter, der aufgrund eines bedingten Reflexes auf „Herz“ immer „Schmerz“ schreiben muss, ist nicht nur im System des Reims entfremdet, sondern liefert gleichzeitig die Bestätigung für eine ganze Konsumentengemeinde, die auf den Reim wartet und sich nur an ihm erfreut. 5 Eco führt ebenso humorvoll wie eingängig vor Augen, dass eine wesentliche Abhängigkeit zwischen dichterischer Aussage und ihrem thematischen Hof einerseits und der Struktur einer Sprache andererseits besteht. Denn in einer zur Konvention gewordenen Form wie dem Reimschema wird die subjektiv-dichterische Freiheit bis zu einem gewissen Grad unterdrückt. Der Reim, der dem Dichter einstmals die Möglichkeit gewährte, seinem Ausdrucksbedürfnis einen Rahmen zu geben, wird nun zum Symbol der Verdinglichung und macht ihn zum Gefangenen eines gesetzten Systems. Das auf diese Weise organisierte sprachliche Material droht zu hohlen Formen zu verkommen. Phrasen tauchen auf, wo früher ein sinnvoller Strukturzusammenhang stand. Der Künstler einer kritisch-aufklärerisch gesinnten Moderne nun, der den „Respekt vor einer unwandelbaren Ordnung der Dinge“6 verloren hat und die „Welt als Krise“ (Pousseur) akzeptieren will, kann nicht anders, als die traditionellen Muster der Form, des im Kunstwerk zeitlich durchschrittenen „Lebensraums“, aufzubrechen. So wird letztlich Form zum Engagement für die Welt von heute. 7

Indem Mallarmé die sprachlichen Strukturen seiner Dichtung aufsprengt, ist er gewissermaßen geistiger Vorläufer dessen, was nach ihm auf dem Gebiet der Musik, in der freien Atonalität der Zweiten Wiener Schule – um eines der bedeutendsten Beispiele zu nennen – eine erste Zuspitzung erfährt: Eigentlich ist es das Ergründen des Zusammenhangs zwischen Struktur und Bedeutung, das zu einer Wende in den Erscheinungsweisen der Künste führt. Bezeichnend ist nur, dass Mallarmé für ein Durchleuchten der sprachlichen Infrastruktur zum Zweck der „Trennung der dichterischen Sprache von der Worthülsenkommunikation“8 auf die Musik zurückgreift. Er findet dort auf struktureller Ebene etwas vor, das Pousseur als „die einzige Art ‚musikalisch’ zu handeln […]“ bezeichnet: „die hörbaren Formen zu ‚tätigen’.“9 Die Überlegenheit einer syntaktischen Komponente der Musik, die damit angesprochen ist – sie tätigt ihre Formen und verweist in erster Linie auf sich selbst – verantwortet gleichzeitig eine Verdunkelung ihrer semantischen. 10 Sie spricht eben nicht in Begriffen und diese Form der Sprachlosigkeit lässt Mallarmé für eine befreite Literatur hoffen: Wenn es, wie die Musik, keine Bedeutungen mitteilt, „gewinnt das Sagen, zuvörderst Traum und Gesang, beim Poeten, vermöge konstitutiver Notwendigkeit einer den Fiktionen geweihten Kunst, seine Virtualität zurück.“11

Die Vorstellung, dass Musik „Idee selbst“12 sei, „Gestalt des göttlichen Namens“13 oder ein „Medium offenbarter Intuition […] nicht zu tief für Tränen, doch fürs Denken selbst“, 14 wurde immer wieder aufgegriffen. Die Schwierigkeit, Musik als Sprache in ihrer Abgrenzung zur meinenden Sprache analytisch zu greifen, liegt im Umgang mit den Analysekriterien: An der Herausforderung, das Trennende zwischen Musik und Sprache klar zu umreißen, haben sich die Denker vergeblich abgemüht, bis sie schließlich einer kompromisslosen Lösung ausgewichen sind. Obwohl Musik – in der Epoche der Klassik ist dies besonders offensichtlich – dem Gestus der meinenden Rede entlehnt ist, da sie Satz, Halbsatz, Interpunktion, Frage, Ausruf und sogar Parenthese kennt, entsprechen ihr dennoch keine Begriffe. 15 In ihr bleibt das Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat ungeklärt. Andererseits ist es kein Geheimnis, dass die Beziehung zwischen Sagen und Gesagtem auch in der meinenden Rede einer Unentscheidbarkeit (Frey) unterliegt. Die Wörter „demokratisieren das Intime“16 und können sich nur dem annähern, was einmal Vorstellung war. Obwohl wir also meinen, Musik und wörtliche Rede vollkommen unterschiedlich zu begreifen, können wir keine scharfe Trennlinie zwischen ihnen ziehen. Denn ebenso wie uns Musik etwas mitteilt, sich an unsere Vorstellungen und Sehnsüchte, an unsere Moral und unser Menschsein richtet, verschweigt uns Sprache trotz ihres begrifflich-kommunikativen Wesens etwas von ihrem Sinn. Wie sehr Musik letztendlich von der meinenden Sprache verschieden ist, bleibt im Dunkeln.Denkbar ist, dass gerade in der Unmöglichkeit, Musik in Worte zu fassen, das Wesentlichste ihrer Idee liegt.

Mallarmés Musikalisierung der Sprache lebt jedenfalls, weit davon entfernt Lautmalerei zu sein, von dieser strukturellen Idee, nichts als die „zu Zeiten raren oder vervielfältigten Beziehungen zu erfassen […]. 17 Die Versuchsreihen in seinem Igitur auf die Wortpaare l`heure – le heurt, echo – ego, plus – plu, sowie seine Beschäftigung mit den 26 Phonemen des phonologischen Systems des Französischen, geben eindrucksvolles Zeugnis von einem Ergründen dieser Beziehungen. Sie sind Vorstufen für eine „Instrumentation des Wortes“, die in seinen Prosatexten und Gedichten auftaucht. Durch die bewusste Integration sprachlich-struktureller Elemente werden die Texte zum virtuellen musikalischen Raum: „Schocks, Glissandi, grenzenlose sichere Bahnen, mancher Zustand der Fülle, der sich alsbald entzieht, eine köstliche Unfähigkeit zu enden, diese Engführung, dieser Einfall -; ohne den Tumult der Klänge, die, auch noch umgießbar in Traum.“18 Und sein Strukturgedicht Un Coup de dés gleicht durch das Verhältnis von Schwarz und Weiß sowie durch die Fixierung seiner räumlichen und zeitlichen Modi einer musikalischen Partitur. Mallarmé richtet sich im Vorwort an einen Leser, der laut lesen will und liefert Hinweise zu Lesetempo und Leserichtung, dynamischen Abstufungen und Intonation. 19

Es ist paradox, dass sich im äußersten Formvollzug eine semantisch offene Sprache ergibt. Mallarmé tastet sich in Un coup de dés – „Ein Würfelwurf wird niemals den Zufall auslöschen“ – bis an die äußersten Ränder des Nicht-Zufälligen, Fixierbaren heran. Durch die bewusste Hereinnahme des Zufalls wird er gewissermaßen eliminiert: Es ist kein Zufall mehr, dass die Möglichkeiten der Interpretation einer potentiellen Unendlichkeit unterliegen. Er geht in seinem Livre noch einen Schritt weiter, vom semantisch offenen Kunstwerk, bei dem sich der Leser seine eigene Bedeutungswirklichkeit konstruiert, hin zum „Kunstwerk in Bewegung“. 20 Dank der Veröffentlichung dieses Nachlassdokumentes durch Jacques Schérer 21 wissen wir von der Planung eines totalen, „offenen“ Buches. Obwohl Mallarmé es bereits 1866 erstmals erwähnt, hat er es nie realisiert. Das Buch, von dem die Rede ist, wird äußerlich als geometrischer Körper aufgefasst, dessen Abmessungen der Zahl der Zeilen einer Seite, ihrer Länge und der Größe der Zeilenabstände entsprechen. Der Prozess der sich bei der Buchkonzeption nun in Gang setzt, betrifft vor allem die Planung der Lektüren. Verschiedene Größen gilt es in einer Sitzungs- oder Interpretationsphase zu formieren: die Anzahl der Bögen, der beteiligten Leser, der zu veranstaltenden Lektüren und der Plätze, der Preis für einen Platz, die Dauer der jeweiligen Sitzung, sowie die Anzahl der Sitzungen pro Jahr. 22 Zeller führt ein Beispiel für eine mögliche Realisierung an:

„Auf ein doppelt gefaltetes Blatt sind erste und letzte Seite (eines Textes) geschrieben, Ausgangs- und Endpunkt liegen demnach fest. Die Verbindung zwischen beiden wird durch sechs bewegliche Bogen hergestellt, deren jeweiliger ‚Inhalt’ derart konzipiert und fixiert worden ist, dass jede (mittels Permutation) erzielte Gruppierung dieser interkalierten Bogen beide Punkte zu verbinden vermag, jede Interpretation nach Maßgabe der Sprache des Buches und ihrer Regeln eine sinnerfüllte sein wird.“23

Mallarmé, der Konstrukteur des Buches, schafft eine Basis der „Gleichwahrscheinlichkeit“, die als Grundlage für unzählige Kombinationsmöglichkeiten dient. Dabei bleibt jedes Resultat durch den Leser wandelbare Identität eines identischen Buches. Der Leser hat die höchste Stufe der Freiheit erreicht, denn er selbst generiert die Strukturen des Buches. Das Buch, wie es in seiner äußerlichen und inhaltlichen Einmaligkeit während einer Interpretation entsteht, würde es ohne ihn nicht geben. Seine dem Augenblick verpflichtete, formende Kreativität wird zur apriorischen Bedingung von Kunst.

Revolutionär verfährt Mallarmé im Livre vor allem deshalb, weil er den Interpreten als „Künstler“ vollkommen freisetzt. Auch die Grenzen zwischen Rezeption und Interpretation sind hier nicht mehr aufrecht zu erhalten, da beide Haltungen zum einzig möglichen Modus der Partizipation an Kunst verschmelzen. Die Forderungen, die vom Buch an den Leser gehen, erlauben ihm keinen Moment der stillen Teilhabe, der Untätigkeit mehr. Rilkes Utopie, „denn da ist keine Stelle / die dich nicht sieht", 24 sagt viel über die Tiefsinnigkeit des Mallarméschen Projektes aus. Sein Konzept bleibt jedoch lediglich Idee und wird erst über 90 Jahre später auf dem Gebiet der Musik in die Tat umgesetzt. Es ist Pierre Boulez, der in seinem 1956 entstandenen, 1957 veröffentlichten Vortrag Alea („Die Würfel“) das theoretische Fundament für eine sinnverwandte Kompositionsästhetik legt. Obwohl Boulez zur Zeit der Arbeit an seiner 3. Klaviersonate keine Kenntnis des Livre hat, 25 ähneln sich die Entwürfe in ihrer zugrunde liegenden Idee auf verblüffende Weise. Der Komponist sieht darin einen ersten Teil (Antiphonie, Formant I) vor, in dem zehn Abschnitte in Form von zehn einzelnen Blättern beliebig kombinierbar sind. Ein zweiter Teil (Formant 2, Trope) setzt sich aus vier zirkulär strukturierten Abschnitten zusammen, weshalb mit jedem begonnen werden kann. Im Unterschied zum Livre liegt die Entscheidungsfreiheit in aleatorischen Kompositionen beim vermittelnden Interpreten, der die vom Komponisten bereitgestellte Formtotalität einem „klassischen“ Rezipienten vermittelt.

Die Ähnlichkeiten zwischen Mallarmés letzter künstlerischer Utopie und den gegen Ende der 50er Jahre entstandenen aleatorischen Kompositionen weisen den Weg ins Innere einer „Sprachkrise der Musik“. Die Tonalität – sie regelt die Beziehungen zwischen den Tönen, formuliert auf der Mikroebene die Bedingungen für konsonierende und dissonierende Klänge und legt auf der Makroebene die Gesetze der harmonischen Fortschreitung fest – die als übergeordnetes System bis in das 20. Jahrhundert die oberste Bedingung struktureller und klanglicher Relationen in der Musik bleibt, verschwindet zunehmend aus der kompositorischen Praxis. Sie war als musikalisches Strukturmodell auch Abbild bestimmter gesellschaftlicher Tendenzen, die eine musikalische Avantgarde bewusst durchbrechen wollte. 26 Ihr Kernelement, der Spannungsbogen Tonika-Dominate-Tonika beschränkte sich vorrangig auf eine Dialektik von harmonischer Krise und Entspannung. Selbst wenn der Komponist versucht hat, die Krise hinauszuzögern und sie anhalten zu lassen, wirkte die Entspannung – wie die zumeist mehrmals bestätigte Tonika am Ende einer Symphonie – desto intensiver. 27 So begibt sich der Komponist, entfremdet an eine konventionelle Struktur, an eine „optimistische Welt“ (Pousseur), auf die Suche nach einer neuen Grammatik, die ihm künstlerische Freiheit gewährt. Auch die kompositionsästhetische und kompositionstechnische Entwicklung im 20. Jahrhunderts liest sich daher als ein Versuch aus der Tradition auszubrechen und Konventionen zu negieren. Dass dabei neue Systeme errichtet wurden, die, wie es die Zwölftonkompositionen der Zweiten Wiener Schule belegen, nicht weniger strengen Regelungen unterliegen, trifft genau die Thematik. Ebenso wie Mallarmé, konzentrieren sie die Formen zunächst nach innen hin, in eine semantische Weite. Die so erhoffte Loslösung von der Vernunft und der Referenz – der Einwand, dass jeder avantgardistische Akt, sobald er sich wiederholt, wieder in Referenz übergeht, verschärft die Problemlage des Künstlers 28 – erfordert eben die äußersten planmäßigen Strategien. In der 3. Klaviersonate von Pierre Boulez wird diese Offenheit exemplarisch radikalisiert und auf eine zusätzliche Ebene übertragen: Boulez etabliert eine Offenheit zweiten Grades, da der Interpret die Großform des Musikstückes selbst mitbestimmt.

Rudolf Zeller versucht in seinem Aufsatz über „Mallarmé und das serielle Denken“ nicht nur die Gemeinsamkeiten zwischen dem Livre und aleatorischen Stücken von Boulez und Karlheinz Stockhausen zu belegen, sondern vielmehr noch, die Fortschrittlichkeit des Livre latent auch auf Mallarmés produktives Verhältnis zur Musik zu gründen. Die Frage, von der er sich leiten lässt ist nämlich die „nach den Spuren der Musik, die sie etwa im Entwurf des ‚Buches aller Bücher’ hinterlassen haben könnte.“ 29 Eine Feststellung, die er gleich im Anschluss daran trifft, bezieht sich auf einen möglichen „Dialog zwischen den zeitgenössischen Musikern und dem Dichter des ‚Faun’ und der ‚Hérodiade’“:„Die Nähe des Mallarméschen Dichtens und Denkens zur Musik entspricht somit einer ‚Parallelaktion’ der scheinbar so literaturfernen, strikt autonomen seriellen Musik.“ 30 Beide Gedanken werden sofort abgebrochen, hätte er sich konsequent auf sie eingelassen, wären ihm die Leerstellen in seiner Argumentationskette möglicherweise klar geworden: Einerseits der bewusste Anachronismus, wonach die Musik es gewesen sein könnte, die Mallarmé zu seinem kühnen Vorhaben im Livre verleitet hat – auf dem Weg dorthin, wie es Un coup de dés bezeugt, gewiss. Andererseits die Annahme, dass sich die jeweilige „Beweglichkeit“ der Werke der Beschäftigung mit dem jeweils anderen Medium verdankt. Dabei sprechen alle Anzeichen gegen die Tatsache, dass die Gemeinsamkeiten zwischen Livre und der 3. Klaviersonate auf spezifisch sprachliche oder musikalische Eigenschaften zurückzuführen sind. Es scheint vielmehr, dass sich hier in Musik und Literatur zu verschiedenen Zeitpunkten die Notwendigkeit ergeben hat, die Schranken des geschlossenen und allein vom Künstler imaginierten Werkes zu durchbrechen. Dass Mallarmé wichtige Anregungen aus der Musik seiner Zeit erhalten hat und Boulez groß von Un coup de dés dachte, ist aufschlussreich für die Fruchtbarkeit einer Auseinandersetzung aus intermedialer Perspektive. Dass sich im Kunstwerk in Bewegung aber nicht mehr in erster Linie die gegenseitige Beeinflussung der Künste, sondern vielmehr eine in Musik und Literatur gleichsam für sich existierende, tiefere Sehnsucht nach Freiheit und Toleranz manifestiert, ist sehr wahrscheinlich. Das entscheidende Moment, das Eco in seiner Abhandlung über das offene Kunstwerk in Literatur, Musik und Bildender Kunst glaubwürdig herausstreicht, wäre übersehen: es ist eben nicht Kunst um der Kunst willen, die ihr ästhetisches Prinzip zuweilen im verschwisterten Medium auffrischt und modifiziert, sondern „Form als Engagement“ für eine Gesellschaft, die es auf diese Weise gilt, auch von ihrem Gegenteil zu überzeugen. Diejenigen, die wie Mallarmé und Boulez, begangene Pfade verlassen um sich dieser Fremdheit zu stellen, verdienen unsere größte Bewunderung.

Literaturangaben

Adorno, Theodor W.: Philosophie der Neuen Musik. In: Gesammelte Schriften Bd. 12 / hrsg. von. R. Tiedemann, unter Mitarbeit von G. Adorno. Erste Auflage, Frankfurt am Main 1975.

Adorno, Theodor W.: „Fragment über Musik und Sprache“. In: Steven Paul Scher: Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebiets. Berlin 1984, S. 138 -141.

Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk / Originalausgabe: Opera aperta. Mailand 1962 / aus dem Italienischen von G. Memmert. Erste Auflage, Frankfurt a. M. 1973.

Frey, Hans-Jost: Studien über das Reden der Dichter. Mallarmé, Baudelaire, Rimbaud, Hölderlin. München 1986.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes / vi, C, c ( Das Gewissen. Die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung) / Theorie-Werkausgabe. Frankfurt a. M. 1970.

Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung / Edition „Emigrant“ Lichtenstein. Amsterdam 1955.

Mallarmé, Stephane de: Sämtliche Dichtungen. Französisch und deutsch mit einer Auswahl poetologischer Schriften / übersetzt von C. Fischer und R. Stabel / hrsg. von F.-R. Hausmann, E. Gräfin Mandelsloh und H. Staub. München, Wien 1992.

Mallarmé, Stephane de: Kritische Schriften (Französisch und Deutsch) / übersetzt von G. Goebel / erläutert von B. Rommel. Gerlingen 1998.

Pousseur, Henri: „Musik, Form und Praxis. (Zur Aufhebung einiger Widersprüche). In: die Reihe. Informationen über serielle Musik / hrsg. von H. Eimert, unter Mitarbeit von K. Stockhausen / Heft VI „Sprache und Musik“. Wien 1960, S. 71-86.

Schérer, Jacques: Le „Livre“ de Mallarmé. Premières récherches sur des documents inédits / préface de Henri Mondor. Paris 1957.

Steiner, George: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe / Originalausgabe: Dix raisons (possibles) à la tristesse de pensée. Paris 2005 / aus dem Englischen von N. Bornhorn und mit einem Nachwort von D. Grünbein. Frankfurt a. Main 2006.

Zeller, Hans Rudolf: „Mallarmé und das serielle Denken“. In: die Reihe. Informationen über serielle Musik / hrsg, von H. Eimert, unter Mitarbeit v. K. Stockhausen / Heft VI „Sprache und Musik“. Wien 1960, S. 5-29.

Zima, Peter V.: Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard. Würzburg 2005.

Fußnoten

Hegel vertritt die Ansicht, dass die Situation der Entfremdung, unabhängig von konkreten historischen Entwicklungen, die einzige Bedingung für unser Menschsein darstellt. Die Weigerung des Menschen, sich auf seine Umgebung einzulassen, käme einer Resignation der „schönen Seele“ gleich [s. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes / vi, C, c (Das Gewissen. Die Schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung). Frankfurt a. M. 1970, S. 464 ff.]. Auch Umberto Eco sieht diese Grundbedingung des Menschseins als gegeben. Seine Untersuchung des offenen Kunstwerks gründet jedoch auf der Annahme, dass die Entfremdung in das Ding der modernen Industriegesellschaft vor allem aufgrund seiner zunehmenden Abstraktion vom Menschlichen eine Dramatisierung erfahren hat (s. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk / aus dem Italienischen v. G. Memmert. Frankfurt a. Main 1973, S. 256 f.). [zurück]

Stephane Mallarmé: „Vers-Krise“. In: Kritische Schriften (Französisch und Deutsch) / übersetzt v. G. Goebel / erläutert v. B. Rommel. Gerlingen 1998, S. 229. [zurück]

George Steiner: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe / aus dem Englischen v. Nicolaus Bornhorn u. mit einem Nachwort v. Durs Grünbein. Frankfurt a. Main 2006, S. 37. [zurück]

Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1955, S. 13: „ Denken im Sinne der Aufklärung ist Herstellung einheitlicher, wissenschaftlicher Ordnung […]. Nichts wird von der Vernunft beigetragen als die Idee systematischer Einheit […].“ Bei Adorno, dem „Anwalt des Nicht-Identischen“ (Albrecht Wellmer) geht die Skepsis gegen die sprachlichen Formen wissenschaftlicher Kommunikation so weit, dass seine philosophischen Texte zu komponierten Musikstücken werden. [zurück]

Eco 1973, S. 259. [zurück]

Ebda., S. 262. [zurück]

S. ebda., S. 268. Eco gründet die Formaffinität des modernen Kunstwerks auf diese These. [zurück]

Peter V. Zima: Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard. Würzburg 2005, S. 112. [zurück]

Henri Pousseur: „Musik, Form und Praxis. (Zur Aufhebung einiger Widersprüche). In: die Reihe. Informationen über serielle Musik / hrsg. v. H. Eimert unter Mitarbeit v. K. Stochhausen / Heft VI „Sprache und Musik“. Wien 1960, S. 76. [zurück]

Vgl. Th. W. Adorno: „Fragment über Musik und Sprache“, in: Steven Paul Scher: Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebiets. Berlin 1984, S. 138 ff. [zurück]

Mallarmé 1998, S. 229. [zurück]

Ebda., S. 229. [zurück]

Adorno 1984, S. 139. [zurück]

Steiner 2006, S. 77. [zurück]

Vgl. Adorno 1984, S. 138. [zurück]

Steiner 2006, S. 27. [zurück]

Mallarmé, „Die Musik und die Litterae“. In: Kritische Schriften (Französisch und Deutsch) / übersetzt v. G. Goebel / erläutert v. B. Rommel. Gerlingen 1998, S. 105. [zurück]

Ebda., S. 107. [zurück]

Vgl. Stéphane Mallarmé. Sämtliche Dichtungen. Französisch und deutsch mit einer Auswahl poetologischer Schriften / übersetzt v. C. Fischer und R. Stabel / hrsg. v. F.-R. Hausmann, E. Gräfin Mandelsloh und H. Staub. München, Wien 1992, S. 223 f. [zurück]

Eco 1973, S. 42. Der Autor führt diesen Begriff ein, um den Unterschied zum semantisch offenen Kunstwerk zu verdeutlichen. [zurück]

Jacques Schérer: Le „Livre“ de Mallarmé. Premières récherches sur des documents inédits. Paris 1957. [zurück]

Vgl. Hans Rudolf Zeller: „Mallarmé und das serielle Denken“. In: die Reihe. Informationen über serielle Musik / hrsg, v. H. Eimert unter Mitarbeit v. K. Stockhausen / Heft VI „Sprache und Musik“. Wien 1960, S. 15. [zurück]

Ebda., S. 14. [zurück]

Rainer Maria Rilke. Sämtliche Werke / hrsg. v. E. Zinn / Bd. 1. Wiesbaden 1955, S. 557. [zurück]

Vgl. Zeller 1960, S. 13. [zurück]

Vgl. Pousseur 1960, S. 71 f. Vgl. ebenso Eco 1973, S. 261. [zurück]

S. Pousseur 1960, S. 71. [zurück]

Eco 1973, S. 266 f. [zurück]

Zeller 1960, S. 12. [zurück]

Ebda., S. 13. [zurück]


Kontakt: Magdalena Zorn Veröffentlicht am 16.10.2006

   
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