Reality-TV / Gerichtsmedizin / Voyeurismus / Medienethik / Ekel und Grauen


Oliver Pfohlmann

Schmackhafte Bohnen aus dem Leichenmagen
Über den erstaunlichen Erfolg der Fernsehserie "Autopsie"

Abstract : Die Kriminalistik-Reihe "Autopsie" präsentiert Tod, Verwesung und menschliche Abgründe in wohl bislang nicht gesehener Aufdringlichkeit. Rezeptionspsychologisch erklären lässt sich der Erfolg der Serie, wenn man aufzeigt, welch raffiniertes Spiel mit heterogenen Affekten und Lustquellen sie im Zuschauer erzeugt.


Verwesende Körper haben mich schon immer fasziniert. Früher mehr noch als heute. Kein noch so billiger Gruselfilm, der mich mit Mumien, Zombies und sich im Licht der Morgensonne in Staub auflösenden Vampiren nicht begeistern konnte. Die Phantasie, einmal nachts heimlich auf dem Friedhof ein Grab auszuheben oder eine Gruft zu öffnen, Standardmotiv in jedem Dracula-Film, hat mich lange beschäftigt.

Heute kann ich die Reste meines makabren Voyeurismus nach Belieben befriedigen. "Autopsie - Mysteriöse Todesfälle" heißt eine seit Monaten auf RTL II mit Erfolg laufende Serie (1). Getarnt als Dokumentationsreihe über die Arbeit von Kriminologen und Gerichtsmedizinern, werden darin Leichen aller Art präsentiert, in jedem nur denkbaren Stadium der Verwesung und Auflösung. Aufgeschwemmte Wasserleichen. Abgetrennte, von Tieren im Wald angefressene Gliedmaße. Exhumierte Gifttote. Mumifizierte. Einschusslöcher in Großaufnahme, Schnittwunden. Verkohlte, kaum noch als Menschen identifizierbare Leiber, wie sie von den Einsatzkräften gerade sorgfältig vom Containerboden gekratzt werden. Erdrosselte Männer, verstümmelte Frauen. Zu Tode geprügelte Kinder. Und alle echt.

Als einmal der vergammelte Mageninhalt eines Exhumierten in Großaufnahme gezeigt wurde (seine letzte Mahlzeit bestand aus Bohnen), wurde mir, zu meiner eigenen Überraschung, schlecht. Ich war nahe daran, umzuschalten. Den Anblick eines Dreijährigen auf dem Obduktionstisch, mit verschwollenem Gesichtchen, blauen Flecken, Blutergüssen überall am kleinen toten Leib, werde ich wohl nicht mehr los.

"Autopsy" (so der amerikanische Originaltitel) ist der vorerst letzte Ausläufer der Doku-Welle. Eine bizarre Mischung aus "Akte X" und "Aktenzeichen XY". Die "spektakulärsten" Fälle der jüngeren amerikanischen Kriminalgeschichte werden mit Hilfe von Polizeivideos, Gerichtsfotos und Interviews mit Angehörigen und den beteiligten Kriminologen wieder aufgerollt. Eine Mischung aus wissenschaftlicher Neugier, "cooler" Faszination und kaum verhohlener Lüsternheit bestimmt die Darstellung, wozu die Gänsehautstimme Franziska Pigullas, der deutschen Synchronsprecherin von Akte X-Agentin Dana Scully, im Off maßgeblich beiträgt. Nach all den Notärzten und Feuerwehrmännern erfährt nun auch der Rechtsmediziner die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Schließlich liefern seine Obduktionsbefunde häufig die entscheidenden Hinweise zur Ergreifung des Täters. Keine noch so raffinierte Mordmethode, die er nicht entdeckt. Stolz geben sie Auskunft: Dr. Michael Baden von der New York State Police und die Stars der amerikanischen wie deutschen Pathologieszene Routiniert erläutern sie, wie sich anhand von Oberschenkelknochen das Geschlecht bestimmen lässt oder warum sich auch unter noch so hohen Temperaturen im Zahnschmelz für eine DNA-Analyse brauchbares Gewebe erhalten kann.

Der Erfolg der Serie stellt ein faszinierendes Skandalon dar. Zunächst ein moralisches: Wer möchte schon, ob ermordet oder nicht, im mehr oder weniger desintegrierten Zustand im Fernsehen landen? Haben Tote keine Würde? Und was sind das für Angehörige, die eine derartige Zurschaustellung geliebter Menschen noch mit Interviews und Videoaufnahmen vom Ermordeten unterstützen(2).

Sicher: Die Welt, wie die Serie sie präsentiert, gleicht zunächst der von "Aktenzeichen XY", jener von Bösewichten aller Art bevölkerten Welt des "Derrick"-Fans. Wenn Gut und Böse jemals klar geschieden waren, dann hier, wo es nur drei Arten von Menschen gibt: Opfer, Täter und die Vertreter von Recht und Gesetz. Eine Motivforschung, die etwas anderes ergäbe als materielle oder sexuelle Beweggründe für einen Mord, gibt es auch in "Autopsie" nicht. Und nie kommt es vor, dass einmal aufgrund von Indizien, die in die Irre führen, der Falsche ins Kittchen wanderte.

Doch ist das nur die halbe Wahrheit. Das Verstörungspotenzial dieser Serie sollte trotz der ständig wiederholten Siege der Gerechtigkeit nicht unterschätzt werden. Eine derart aggressive und öffentlich-serielle Präsentation von Tod, Sterblichkeit und Verwesung dürfte es im Fernsehen noch nicht gegeben haben. Ein Memento mori der Trashkultur. Kaum vorstellbar, dass sich der Durchschnittsfernsehkonsument freiwillig ansieht, wie auch er eines Tages, madenzerfressen, in der Kiste liegt. Dem aus unzähligen Filmen und Romanen bekannten Motiv der schönen, vorzugsweise weiblichen Leiche, den die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen als Versuch erklärt, narzisstische Wünsche nach eigener Unversehrtheit zu befriedigen (3), spricht diese Serie Hohn. Die fortwährende Konfrontation mit den realen Endstufen menschlicher Existenz verschafft dem so gern verdrängten Lebensende eine schwer erträgliche Präsenz (4). Gepaart mit all den geldgierigen Ehefrauen, die ihren Gatten jahrelang Rattengift ins Essen mischen, den Rabenmüttern, die nach und nach alle ihre Kinder umbringen, und all den serial killers, kann dies einem auch noch den letzten Rest des so genannten Urvertrauens in die Welt austreiben.

Wer (außer einem selbst) sieht sich also diese Serie an? Und warum? Kehrt hier der in zivilisierten Gesellschaften verdrängte Tod via TV wieder?(5) Für die Menschen früherer Zeiten mag der Anblick von Leichen zum Alltag gehört haben; der Kunstwissenschaftler Hans D. Baumann erinnert an jene Sitte des 19. Jahrhunderts, "Leichenschauhäuser zu besuchen und die Kadaver mit demselben Interesse zu begutachten, das wir heute Tieren im Zoo und Exponaten im Museum entgegenbringen."(6) Wird in "Autopsie" also ein heutzutage frustriertes Bedürfnis kompensatorisch befriedigt, von dessen Existenz man sich in jedem Krimi beim obligatorischen Blick des Kommissars aufs Mordopfer überzeugen kann?

In der "Zielgruppe" der 14- bis 29-jährigen erreicht die Serie einen durchschnittlichen Marktanteil von über 13 %(7). Inzwischen ist ein erstes Buch zur Serie erschienen(8), der Sender hat das amerikanische Konzept adaptiert und präsentiert, wenn auch vorerst etwas weniger explizit, Mordfälle aus deutschen Landen.

Die spezielle Affinität bestimmter Altersgruppen für das Horrorgenre ist bekannt. Betrachtet man "Autopsie" aus der Perspektive einer "kulturwissenschaftlichen Hedonistik" (Thomas Anz)(9), so stellt diese Serie eine raffinierte Mixtur zur Befriedigung ganz unterschiedlicher Bedürfnisse dar, ein sich hinter dem dokumentarischen Deckmäntelchen verbergendes Spiel mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Affekten und Lustquellen, das wohl nicht zufällig gerade Jugendliche fasziniert. Dazu gehört gewiss eine Form "erhabener" Lust, sich von dem dargestellten Grauen nicht überwältigen zu lassen. Mit virtuellen Mutproben versichert man sich der eigenen Überlegenheit. Lust bereitet auch jene Erfahrung, dass sich der Schrecken dort, man selbst sich aber hier, in Sicherheit und damit: am Leben befindet.(10)

Hinzu kommt die Spannungsdramaturgie, mit der in "Autopsie" die Fälle präsentiert werden. Das zum Miträtseln einladende "Who dunnit?" des Krimis verbindet sich mit der für Detektivromane charakteristischen Lust am Puzzlespiel aus Indizien und unscheinbaren Details.(11) Die Raffinesse, mit der die Sherlock Holmes' in weißen Kitteln den Tätern auf die Schliche kommen, und der Einsatz von Hightech zur Verbrecherjagd begeistern. Nicht zu vergessen die "moralische Lust": das Gefühl von Befriedigung, wenn der Täter überführt und verurteilt, die sittliche Ordnung wiederhergestellt ist.(12) Dass es häufig das exhumierte, also wie in unzähligen Gespenstergeschichten "ruhelos" aus seinem Grab wiederkehrende Opfer ist, das - z. B. durch Giftrückstände, die sich nachweisen lassen - seinen Mörder noch Jahre später der gerechten Strafe zuführt, dürfte diese moralische Lust noch verstärken. Doch dürften noch ganz andere Regungen im Spiel sein. Wahrscheinlich wird mit "Autopsie" auch der, wie es Sibylle Tönnies einmal formulierte, "Voyeurismus mit sadistischen Anteilen" (13) bedient. Gemeint ist damit die vielleicht gar nicht so seltene Schaulust beim Anblick der Resultate gewalttätiger Exzesse, die uns, all unserem Entsetzen, unserer Abscheu zum Trotz, nicht mit den Opfern, sondern mit den Tätern verbindet: "Der Mensch, der archaische Restbestände weiterführt, baut gewisse Anteile seines Selbstbewußtseins darauf auf, daß er ein potentieller Töter ist. Diese Tatsache zu ignorieren heißt, ihr Vorschub zu leisten. [...] Die Abbildung von Tötungshandlungen berührt tiefere Seelenschichten, in denen nicht nur politisch korrekte Empfindungen, sondern auch Lust frei wird."(14)

Dies alles zusammengenommen, mag dann auch den Anblick halb verdauter Bohnen im Magen einer Leiche schmackhaft machen.

 



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