‚Dickens statt Kant’ oder: Richard Rorty und die Moral der Künste

Es gibt eine Legitimationskrise der Ethik. Die Meinung, moralische Vorschriften könnten verbindlich gerechtfertigt werden, wird kaum noch vertreten – zumindest unter Philosophen. Richard Rorty, der Protagonist des amerikanischen Neopragmatismus, zieht eine radikale Konsequenz: Nicht Philosophen sind für Ethik zuständig. Der Versuch, ethische Maßgaben zu ‚begründen’, muss von vornherein als verfehlt gelten. Ethik ist eine Domäne der Literatur. Romane von Dickens oder Flaubert wecken unser Mitgefühl. Sie schaffen Solidarität. Das ist die sozialethische Dimension der Literatur. Darüber hinaus bereichern sie unsere Selbst- und Welterfahrung. Das ist die individualethische Dimension. Kurzum: Literatur entfaltet eine solche ethische Kraft, dass der (vermeintliche) Bankrott der Moralphilosophie nicht zu bedauern ist.