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Franz Kafkas und Ernst Jüngers Käfer – Käfermysterium und existentielle Wahrnehmung

Dass Ernst Jünger, von seinen frühen Tagen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs an, ein genauer Beobachter von Insekten war, der sich später zu einem veritablen Entomologen entwickelte und seine subtilen Jagden immer mehr verfeinerte, ist bekannt. Damit scheint Kafkas Käfer aus seiner Novelle Die Verwandlung zunächst nichts zu tun zu haben. Auffällig ist jedoch, dass auch Kafka das Ungeziefer genau beobachtet und beschreibt, genauer jedenfalls, als es nötig gewesen wäre, um eine literarische Metapher für problematische Familienverhältnisse zu inszenieren. In meinem Essay will ich zeigen, dass sowohl für Jünger als auch für Kafka der Käfer eine existenzielle Bedeutung gewinnt, die sich in beiden Fällen auf die Metamorphose des Käfers stützt, aber dann in entgegengesetzte Ausprägungen führt. In der Metamorphose des Käfers wird für Jünger die eigene Entwicklung in die und über die bürgerliche Gesellschaft hinaus sinnfällig, während in Kafkas Novelle die letztlich tödliche Verwandlung Gregor Samsas die Unfähigkeit zur Verwandlung und Entwicklung ihres Autors anzeigt.

Dieser Artikel erschien am 31.10.2023 in der Zeitschrift Medienobservationen.
Er ist durch die DNB archiviert. urn:nbn:de:101:1-2023102412271295487125

DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/20114

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Amakasu, für Film zuständig. Stil und Medienreflexion in Christian Krachts Die Toten (2016) mit einem Seitenblick auf Bertoluccis Der letzte Kaiser (1987)

In Christian Krachts Roman Die Toten spielt der Film eine eigentümliche Rolle. Der Film soll – so die Geschichte, die in den frühen dreißiger Jahren spielt – mit seinen ureigenen medialen Möglichkeiten zu der totalitären Idee einer politischen oder gar militärischen Hegemonie in einer Achse zwischen Berlin und Tokyo beitragen. Der Beitrag stellt die Frage, welche Rolle angesichts einer solchen Aufgabe die literarische Eigenqualität des Romans beansprucht; und die Antwort, die er skizziert, lautet: Die Literatur kann den Film zumal vor diesem historischen und theoretischen Hintergrund umso besser transparent machen, je stärker sie auf das mediale Fundament setzt, das sie exklusiv auszeichnet: nämlich ihren Stil. So zeigt der Beitrag, wie Kracht abermals einen Roman geschrieben hat, in dem stilistische und narrativen Qualitäten sich zu einem Meisterwerk zusammenfügen.

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Gegenwart vs. Augenblick: Zur Ästhetik von Rainald Goetz anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2015

Der folgende Essay beschäftigt sich anlässlich der diesjährigen Vergabe des Georg-Büchner-Preises mit der Ästhetik des Preisträgers Rainald Goetz. Dabei soll vor allem das weit verbreitete Missverständnis korrigiert werden, dass es sich bei dem besagten Autor hauptsächlich um einen ‚Chronisten der Gegenwart‘ und damit um eine Art ‚erweiterten Publizisten‘ handelt. Es soll verdeutlicht werden, dass das Werk von Goetz vor allem die Problematik eines adäquaten sprachlichen Umgangs mit dem Phänomen der Gegenwart selbst thematisiert. Der ästhetisch fundierte Terminus des ‚Augenblicks‘ wird dabei als eine Alternative zum vagen Begriff der ‚Gegenwart‘ präsentiert.

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Nino Haratischwilis “Das achte Leben (Für Brilka)” – Über die Unausweichlichkeit dieser beispielhaften Leben

Diesen Herbst wird die deutsche Literaturlandschaft endlich um einen großen neuen Roman reicher. Reich nicht nur ob seines Umfangs von fast 1300 Seiten, sondern reich auf Grund seiner 107 Jahre umfassenden erzählten Zeit, die einen anderen Blickwinkel auf das vermeintlich bekannte 20. Jahrhundert liefert. Einen Blickwinkel auf das Jahrhundert der ehemaligen Sowjetunion und auf den Verfall der georgischen Familie Jaschi, auf ihre Schicksale, ihre Lieben, Geburten, Tode und ihre fluchbehafteten Schokoladengeheimnisse.

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Das Dritte Reich. Interpretationsansätze zum Roman von Roberto Bolaño

Der folgende Beitrag skizziert die Diskussionen zu dem Roman Das Dritte Reich des chilenischen Autoren Roberto Bolaño, diewährend eines Ausfluges der Mitarbeiter des Lehrstuhls von Oliver Jahrausvom 23-07.2012 bis 25.07.2012 in Dürrwies geführt wurden. DerRoman handelt vom Urlaubsaufenthalt des Protagonisten Udo mitseiner Lebensgefährtin Ingeborg in einem spanischen Urlaubsort, den erbereits als Kind mit seinen Eltern aufsuchte. Statt den Urlaub zu genie-ßen und sich um seine Freundin zu kümmern, spielt Udo akribisch einBrettspiel mit dem Namen „Das Dritte Reich“. Udo vertritt in diesemSpiel Deutschland. Ziel ist es, den Zweiten Weltkrieg „nachträglich“ zugewinnen. Schließlich beginnt Udo eine Partie mit einem Bootsverleiherdes Hotelstrandes, dem sogenannten „Verbrannten“. Die Folgen fürUdo und seine Umwelt bleiben nicht aus.

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Celebrity DeathmatchShades of Grey vs. Geschichte der O

Mit bisher 20 Millionen verkauften Exemplaren in den USA, riß Shades of Grey als erster Titel der E-Book-Ära die Millionen-Marke der bezahlten Downloads fürs Kindle. Übersetzungen in 37 Sprachen liegen vor. Für die gelangweilte Ehefrau und Mutter ab 35 sei der Mommy Porn wie geschaffen, denn er erfülle ihre geheimen Sehnsüchte nach Erotik, Lust und sadomasochistischen Praktiken. In einem Zug mit Pauline Réages Meisterwerk die Geschichte der O (1954) oder Das sexuelle Leben der Catherine von M. (2001) von Catherine Millet wird denn Shades of Grey als wichtigste erotische Literatur aus weiblicher Feder gehandelt. Der Vergleich mit Klassikern ist eine beliebte Strategie der Presseabteilungen, ihre Titel auf den BestsellerListen zu platzieren. In den späten 90ern lancierte MTV die kleine Show Celebrity Deathmatch und ließ Stars und Sternchen der (Pop-) Geschichte als Knetfiguren im Todeskampf gegeneinander antreten. Wir bitten Shades of Grey in den Ring …

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„Ich habe nichts mehr zu sehen.” Die Ästhetik des Blicks in Max Frischs und Volker Schlöndorffs Homo faber

Max Frisch verhandelt in dem Roman Homo faber Themen aus dem Bereich der visuellen Wahrnehmung – beispielsweise in den Motiven der Blindheit, des Bilderverbots und der filmischen Aufzeichnung. Der vorliegende Beitrag zeigt, wie der Text anhand dieser Thematik eine implizite Ästhetik zweier Typen des Blicks entwirft, die im Anschluss an Simone de Beauvoir als technischer und magischer Blick unterschieden werden können. Der technische Blick der Kamera ist für diese Ästhetik ein Problemfall, denn Fabers Kamera speichert nur die Ereignisse, verunmöglicht aber eine Präsenzerfahrung. Dieses Problem ist in Volker Schlöndorffs Verfilmung virulent: Im visuellen Medium ist der Blick autoreflexiv und verweist den Film unweigerlich auf seine eigene Medialität.

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Das unsichtbare Raubtier und das unfaßbare Ferkel. Sammelrezension zu einem Kinderbuch, einer Strafanzeige und einem Indizierungsantrag

Was Kinderbücher in Deutschland dürfen: Wie konstituieren Strafrecht und Bundesprüfstelle den Gegenstand, über den sie entscheiden? Ein kurzer Blick auf den Diskurs textueller Kontrolle, seine sekundäre Literaturwissenschaft, und die medialen Besonderheiten, vermittels derer Michael Schmidt-Salomons und Helge Nynckes „Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel“ erfolgreich darin eingreift.

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Freedom of Censorship: The Master and Margarita

We live in a world of political, social, communicative, of personal and public power relations. At any particular moment, everything in this world can be subjected to certain constraining discourses. However, at the next moment it may objectify itself while gaining capabilities to rule over other discourses. In other words, power is both here and there, now and then. As Foucault puts it, power is a part of our experience; and that is why it is of particular interest for investigation.

Liebeskonzeptionen im zeitgenössischen Liebesroman. Michel Houellebeqcs „Plattform“

Die Gattung des Liebesromans hat in den letzten Jahren nicht nur eine Renaissance erfahren, sondern auch tief greifende Veränderungen. Die Fülle an Neuerscheinungen lässt auf ein nicht enden wollendes Bedürfnis nach fiktionaler Liebeserfahrung schließen, stößt dabei aber auf ein zunehmend individualisiertes und emanzipiertes Lesepublikum. Eva Illouz und Niklas Luhmann präsentieren die Liebe als Kategorie romantischer Fiktion, die erst mit Hilfe von kopierten Mustern in außeralltäglichen Situationen entsteht. Doch das für Liebesromane gewöhnliche Happy End bleibt in Romanen wie Michel Houellebecqs „Plattform“ aus. Die darin vorgefundene Liebesvorstellung schöpft sich einzig und allein aus der Notwendigkeit eines intakten Sexuallebens. Die Verbindlichkeit und Stabilität der vormodernen Liebe, wie wir sie aus „Pride and Prejudice“ kennen, hat sich somit aufgelöst. Was bleibt, ist die exklusive Verbindung zweier Menschen.