Jahresarchiv | 2006


Der Leser als Wanderer – W.G. Sebald, Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt

Im Folgenden soll das Werk „Die Ringe des Saturn“, wie schon der Untertitel „Eine englische Wallfahrt“ nahelegt, als ein Reise- oder Pilgerbericht untersucht werden, der die Welt, in diesem Fall die ostenglische Küste, „von vornherein […] im Hinblick auf das eigene Ende“ durchschreitet. Es soll nachgewiesen werden, dass diese Reise nicht nur als Motiv an der Oberfläche des Textes eine Rolle spielt, sondern vielmehr geradezu zu seinem genuinen Strukturprinzip wird.

Die Eingangssequenz von David Lynchs “Blue Velvet”

Galt David Lynch lange Zeit lediglich als „Enfant terrible“ des amerikanischen Cinema, hat er sich im Laufe der Jahre auch den Ruf eines „Bild-Magiers“ erarbeitet. Weil die verstörende Intensität seiner Filme ohne die drastische Darstellung von Sexualität und Gewalt kaum denkbar ist, hielten Lynch viele in den 1980er-Jahren für einen reinen Provokateur und Gesellschaftskritiker. Diese Einstellung relativierte sich jedoch, als in den 1990er-Jahren mediale Gewalt stetig zunahm und zum Fernsehalltag wurde. Lynchs Werke sorgten nun nicht mehr für einen Sturm der Entrüstung, denn die Zuschauer hatten sich durch Genres wie Horror, Action und Soft-Pornographie an eine viel explizitere Darstellungsweise gewöhnt und richteten ihr Augenmerk nun stärker auf die filmsprachliche und -technische Kunstfertigkeit. Auch für die Wissenschaft steht seitdem nicht mehr die Suche nach einer intellektuellen Botschaft im Vordergrund, sondern das Entschlüsseln von Lynchs ganz eigener Bildwelt, die eine so ungewöhnliche Sogkraft besitzt und von Fans – als Pendant zum Begriff ‚kafkaesk’ – ‚Lynch-World’ getauft wurde. Ein Grund mehr, sich mit jenem Film näher auseinanderzusetzen, der Cineasten als repräsentativ für Lynchs filmisches Schaffen gilt: „Blue Velvet“.

Schwule Cowboys vor Postkartenlandschaft oder: Wie Ang Lee den amerikanischen Mythos neu erzählt – über “Brokeback Mountain” –

Ang Lees Cowboy-Film “Brokeback Mountain” war der Favorit der Oscar-Saison 2006. Zwar gewann schließlich das Sozial-Drama “L.A. Crash” die meisten Preise, aber drei Oscars, den Goldenen Löwen von Venedig und ein paar Golden Globes hat der Streifen schließlich doch abräumen können; Kritiker lieben ihn, das Publikum streitet und äußert sich ebenfalls überwiegend positiv. Wieder einmal hat das große, massenkompatible Kino seine Innovationskraft bewiesen: Schwule Cowboys vor Postkartenlandschaft, das gab es bisher nicht. Ang Lee erzählt den ur-amerikanischen Mythos vom Cowboy neu und beweist damit, wie sich längst totgeglaubte, fest im kulturellen Gedächtnis verankerte narrative Systeme erfolgreich reanimieren lassen.

Sir Peter’s Glanz und Ende – An der Bayerischen Staatsoper geht die Ära Jonas/Mehta zu Ende

Das deutsche Feuilleton ist geneigt, München in allen Belangen zu schmähen. Das gilt für den Fußball, ebenso für die Künste: Ressentiments führen den Rezensenten der FAZ, der WELT, der ZEIT von jeher die Feder. Gewiss, der Reichtum Münchens provoziert. Doch nicht sein Wohlstand hat München zu Deutschlands Metropole der Künste gemacht. Es ist der höfisch-bürgerliche Sinn fürs Schöne, die Sehnsucht nach Vollendung für den Augenblick – man denkt barock. Kein Zweifel: Ein wenig Eitelkeit, fare bella figura, ist stets mit im Spiel. Sie sei dem Münchner Bürgertum gern zugestanden: Es schenkt der Welt ein Opernhaus, das Kennern und Liehabern als eines der ersten auf Erden gilt, zumal nach 13 Jahren der Intendanz Sir Peter Jonas’. Nicht wenige glauben, einzig in München werde Musiktheater im umfassenden Sinne geboten.

Bilder vom Denken in Räumen: Markus Heidingsfelders und Min Teschs Architekturfilm Rem Koolhaas – Architekt XXL

Architektur zu ‘verfilmen’ ist schwer: Wie lässt sich Raum auf die Mattscheibe bringen? Wie sind die sinnlichen Anmutungen eines Gebäudes wiederzugeben, sein Duft (von Mörtel, Beton oder Holz), die haptischen Merkmale, Lichtstimmungen? Wie kann die Dramaturgie der Raumfolgen dargestellt werden? Lässt sich Architekturtheorie filmisch vermitteln? Können Begriffe anschaulich werden? Wie werden Begriff und Anschauung eins? Was, wenn ein Gebäude als Gedanke, nichts sonst, zu begreifen ist – ein Gedanke zumal, der alles bedeuten will, aber nicht Architektur? Wenn alle Begriffe von Architektur fragwürdig werden, Architektur sich entzieht – wie in den Bauten Rem Koolhaas’, des denkfreudigsten, wagemutigsten Architekten unserer Tage?

Wiener Oper

Die größten Häuser: Scala, Colón. Die reichsten: Met, Covent Garden. Die besten Sänger: in Zürich. Die Wiener Oper: das erste und vornehmste Haus. Nirgends ist so viel Geschichte: Von Mahler ging die Moderne aus. Nirgends so viel Begeisterung: Die Stehplatzklientel, 500 Habitués, hört jeden Tag Oper, fünf Dutzend Werke im Jahr. Ihr ist das Leben Klang. Drum gilt sie als wildestes, kundigstes Publikum. Das „Haus am Ring“: theatrum mundi.

Bösendorfer

Mit aggressiven Methoden hat Steinway den Weltmarkt erobert, die Vielfalt der Timbres vernichtet. Das ganze Repertoire, ob Bach, ob Boulez, wird im stählernen Steinwaysound exekutiert. Der glockenklare Bösendorfer, für Mozart und Schubert geschaffen, die farbige Zartheit des Bechstein, sie finden kaum noch Gehör: Globalisierung der Klänge.

Kollegienkirche

Weingarten, Einsiedeln, St. Gallen, die großen barocken Abteikirchen Mitteleuropas, bilden sämtlich ein Bauwerk nach: die Salzburger Kollegienkirche. Deutlich lässt sie Fischer von Erlachs Handschrift erkennen: Monumentalität entsteht aus tektonischer Klarheit. Das Dekor tritt zurück hinter die räumliche Form als Erscheinung der kosmischen Ordnung. Der Blick wird zur Mitte gesogen, von dort in die Höhe: Die Vierung trägt, lichterfüllt, einen hohen Tambour. Selten entfaltete Architektur solche zentrierende, weitende, klärende Kraft – zuletzt in der Hagia Sophia.

Böhmischer Klang

Könnte ein Instrument den Klang eines Orchesters charakterisieren – für die Bamberger Symphoniker, vormals „Deutsche Philharmoniker in Prag“, wäre die Bratsche zu nennen: Sie scheinen heller timbriert als alteingesessene deutsche Ensembles, doch matter, weniger seidig und strahlend als Wiens und Dresdens Opernorchester. Ihr Streicherklang ist füllig, wohlfokussiert. Gerundet, voll Wärme das Blech. Beseelt, voller Zartheit der Holzbläserton. Ihr Spiel ist frei von Tiefsinnsprätentionen, von virtuoser Gefallsucht und Frivolität. Es ist ganz Herzlichkeit. Darin liegt sein böhmisches Wesen. In Smetanas „Verkaufter Braut“ kommt seine Eigenart zur Entfaltung: Seit vierzig Jahren ist Kempes Bamberger Aufnahme das Maß aller Dinge im tschechischen Repertoire.