Kritik


„Ruuuf den Notar, Thanatos“: Zu Helmut Krausser und seiner „Kartongeschichte“

Helmut Krausser servierte seinen Lesern neben einem Tagebuchmarathon , Lyrikströmen und erotischen Herausgebereskapaden (Samuel Pepys Schriften) besonders als Prosaautor schon unter anderem den Literaturwissenschaftler als Todesgott, einen Bewusstseins-Rider, der seinem Schöpfer Helmut entgegentritt, Hunde in Pompeii oder den in Maria Callas verliebten Teufel Stanislaus. Nebenbei schlüpfte er in die Rolle des dramaturgischen Spielverderbers im 4. Akt von „Julius Cäsar“, ließ im „Diptychon“ eine Elke zerhacken und schrieb neben einem Destillat des Nibelungenliedes die wahrscheinlich erste Trash-Oper der deutschen Literaturgeschichte. Nach „Eros“ erschien Anfang 2007 die „Kartongeschichte“, ein groteskes, vielleicht neben seinen großen Romanen etwas unterschätztes Werk des multitalentierten Autors, der – trotz eigener Ankündigung – nicht aufhören darf zu schreiben. Eine Annäherung über mehrere Stationen dieses Ausnahmeautors.

Molwanîen oder: Australien träumt den Balkan.

Ein australisches Autorenkollektiv hat seit 2003 mit dem sogenannten Molwanîen-Projekt einiges Aufsehen erregt. Ein imaginärer Balkan-Staat wird vorgestellt, als sei er Wirklichkeit – in Büchern, Websites und öffentlichen Präsentationen. Der deutsche Molwanîen-Hype hat seinen Höhepunkt seit einigen Monaten überschritten. Grund genug für die Medienobservationen, eine vorläufige Bilanz zu ziehen. Was hatte es auf sich mit dem „Land des schadhaften Lächelns“? War es der Aufmerksamkeit wert? Wir wollen nicht medienpsychologische Überlegungen in den Vordergrund stellen. Unser Interesse gilt dem sachlichen Gehalt des Medienprodukts ‘Molwanîen’.

Sir Peter’s Glanz und Ende – An der Bayerischen Staatsoper geht die Ära Jonas/Mehta zu Ende

Das deutsche Feuilleton ist geneigt, München in allen Belangen zu schmähen. Das gilt für den Fußball, ebenso für die Künste: Ressentiments führen den Rezensenten der FAZ, der WELT, der ZEIT von jeher die Feder. Gewiss, der Reichtum Münchens provoziert. Doch nicht sein Wohlstand hat München zu Deutschlands Metropole der Künste gemacht. Es ist der höfisch-bürgerliche Sinn fürs Schöne, die Sehnsucht nach Vollendung für den Augenblick – man denkt barock. Kein Zweifel: Ein wenig Eitelkeit, fare bella figura, ist stets mit im Spiel. Sie sei dem Münchner Bürgertum gern zugestanden: Es schenkt der Welt ein Opernhaus, das Kennern und Liehabern als eines der ersten auf Erden gilt, zumal nach 13 Jahren der Intendanz Sir Peter Jonas’. Nicht wenige glauben, einzig in München werde Musiktheater im umfassenden Sinne geboten.

Bilder vom Denken in Räumen: Markus Heidingsfelders und Min Teschs Architekturfilm Rem Koolhaas – Architekt XXL

Architektur zu ‘verfilmen’ ist schwer: Wie lässt sich Raum auf die Mattscheibe bringen? Wie sind die sinnlichen Anmutungen eines Gebäudes wiederzugeben, sein Duft (von Mörtel, Beton oder Holz), die haptischen Merkmale, Lichtstimmungen? Wie kann die Dramaturgie der Raumfolgen dargestellt werden? Lässt sich Architekturtheorie filmisch vermitteln? Können Begriffe anschaulich werden? Wie werden Begriff und Anschauung eins? Was, wenn ein Gebäude als Gedanke, nichts sonst, zu begreifen ist – ein Gedanke zumal, der alles bedeuten will, aber nicht Architektur? Wenn alle Begriffe von Architektur fragwürdig werden, Architektur sich entzieht – wie in den Bauten Rem Koolhaas’, des denkfreudigsten, wagemutigsten Architekten unserer Tage?

Jens Malte Fischer: Gustav Mahler – Der fremde Vertraute

Unter den musikpublizistischen Neuerscheinungen der vergangenen Jahre hat v.a. eine für Aufsehen gesorgt: Jens Malte Fischers Gustav Mahler: Der fremde Vertraute. Die Rezensionen sind enthusiastisch, zu Recht. Eine profundere Darstellung hat Mahlers Musik, hat sein Leben niemals erfahren – trotz Adorno, Blaukopf, Eggebrecht. Fischer glänzt als Stilist: dass er schreiben kann, haben bereits die Großen Stimmen erwiesen, das deutsche Standardwerk zum Gesang. Kestings Großen Sängern – dem einzigen konkurrenzfähigen Werk – sind sie an sprachlicher Elaboriertheit weit überlegen (zugleich in der Abgewogenheit des Urteils).

Eric Rohmer: De Mozart en Beethoven

Dass Musik als die ontisch gehaltvollste aller Künste zu gelten hat, ist ein Gemeinplatz. Schopenhauer bringt diese Einsicht in unübertroffener Klarheit zum Ausdruck. Nietzsche verdichtet sie aphoristisch. Doch im ästhetischen Denken unserer Tage spielt Musik eine untergeordnete Rolle. Literatur, bildende Kunst und Film beherrschen das Feld. Die Musikwissenschaft nimmt wenig Anteil an Auseinandersetzungen um “Intermedialität”, “Paradoxie”, “Differenz”. Sie richtet sich in splendid isolation ein. Wie immer man dies werten mag – der Musik wünscht man größere Aufmerksamkeit. Auch stimmen ‚Theorie und Praxis’ nicht mehr zusammen: Musik spielt im Lebensvollzug eine überragende Rolle, doch wird sie kaum Gegenstand ‚existenzieller’, ontologischer Reflexionen. Die wenigen Versuche, durch Musik Denken und Leben in Einklang zu bringen, werden nur selten gewürdigt. So blieb einer der ambitioniertesten musikphilosophischen Beiträge der letzten Jahrzehnte beinahe ungehört, und dies, obwohl sich sein Autor im zeitgenössischen ‚Leitmedium’ Film profiliert hatte: Eric Rohmers De Mozart en Beethoven. Essai sur la notion de profondeur en musique will der Musik ihre ontologische Würde zurückgeben. Rohmer ist es um absolute Musik zu tun, v.a. das Streichquartett als deren vornehmste Gattung. Zehn Jahre nach dem Erscheinen seines Essais ist es an der Zeit, die Frage, was Musik zur Welterkenntnis beizutragen hat, neu aufzunehmen.

Liane Schüller: Vom Ernst der Zerstreuung

Die weibliche Angestellte! Heute ist sie genauso selbstverständlich wie in der Schweiz das Wahlrecht der Frau. Das allerdings gibt es erst seit 1960; die weibliche Angestellte indes ist in unseren Landen bereits seit Beginn des letzten Jahrhunderts tätig. Einer besonderen Gruppe, nämlich den schreibenden Frauen, widmet sich die Germanistin Liane Schüller in ihrem Buch “Vom Ernst der Zerstreuung”, das jetzt im Aisthesis Verlag erschienen ist.

Goedart Palm: CyberMedienWirklichkeit. Virtuelle Welterschließungen

Die Welt der neuen Medien scheint theoretisch uneinholbar – insbesondere im Medium des gedruckten Wortes. Die Mechanismen der Buchproduktion entstammen einer gemächlicheren Epoche als der unseren und so haben viele wissenschaftliche und populäre Werke zu diesem Thema bei Erscheinen bereits eine Patina, die sie geradezu antiquiert erscheinen lässt. Besonders augenfällig ist dies, wenn in gedruckter Form erscheint, was sich über die Jahre im World Wide Web angesammelt hat – nun übersichtlich gegliedert und von allen Spuren des Digitalen bereinigt. Diesem Rezept folgte bereits Lev Manovichs The Language of New Media (2001) – ein Buch, dessen Anachronismus durch den Rückgriff auf die Anfänge der Kinematografie geradezu selbstironisch zur Schau gestellt wurde.